Читать книгу Durch Schatten gehen - Birgit Treckeler - Страница 8
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Eine Weile und ungefähr einhundert gefahrene Kilometer in Richtung Münsterland später, biege ich in die kleine Einbahnstraße ein, an deren Ende mein zukünftiges
Zuhause auf mich wartet. Das Wort ‚Zuhause‘ klingt zwar noch wie Hohn für mich, aber immerhin ist es meine neue Bleibe, und eine durchaus akzeptable dazu. Mein Vater wartet bereits ungeduldig vor dem Eingang, neben ihm mein guter Freund Chris. Chris und ich kennen uns schon seit unserer Schulzeit. Wir sind, abgesehen von ein paar Jahren, in denen sich unsere Wege trennten, eng miteinander befreundet. Ohne ihn und seinen geduldigen freundschaftlichen Notdienst hätte ich die vergangenen Wochen vermutlich nicht überstanden. Er und mein Vater, beide sind hier, um mir heute zur Seite zu stehen, mir bei den wichtigsten Dingen an meinem Umzugstag zu helfen. Waschmaschine anschließen, Lampen aufhängen, Löcher bohren – und mir damit das Einziehen ins Neue und Unbekannte zu erleichtern.
Rasch wird mir klar, dass ich künftig wohl besser einen Schnellkurs in ‚Heimwerkern für Single-Frauen‘ absolvieren sollte, denn die Zeiten von „Schatz, kannst du mal eben
…“ und „würdest mal hier schnell …“ sind wohl für immer vorbei. Heimwerkern ist wirklich so gar nicht mein Ding.
Die Möbelpacker sind fast fertig, es geht alles sehr schnell, viel zu schnell. Es war ja auch nicht mehr viel für den Transport vorhanden. „Wo sollen wir denn die Kommode aufstellen?“ Ich zucke zusammen, als der Arbeiter in Latzhosen mich anspricht. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Im eiskalten Dezember habe ich aufgehört zu sein, wie kann es mich da interessieren, ob ein Möbelstück nun hier oder dort stehen soll? Ovambos unruhiges Jaulen holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ein Möbelpacker hat versehentlich eine Schüssel zerdeppert und mein Kleiner versteckt sich vor Schreck hinter der provisorisch aufgestellten Couch. Natürlich versteht er nicht, wo er hier ist und was das hier alles soll. Er hasst Veränderungen und wirkt krank und verängstigt. Sein Anblick bricht mir das Herz.
Ich nehme mir eine kleine Auszeit vom Trubel, gehe ins Bad, setze mich auf den Wannenrand. Es riecht hier so fremd, fast ein wenig muffig. Alles Männliche fehlt in diesem Raum. Da ist kein Rasierer mehr, kein Aftershave, keine zweite Zahnbürste auf dem Bord. Wirklich allein …
„Wo soll diese Lampe angebracht werden, Wohnzimmer oder Schlafzimmer?“, fragt mich mein Vater durch die geschlossene Badezimmertür. Auch das interessiert mich jetzt nicht. Aber ich öffne die Tür, gehe zurück in den Wohnbereich, deute stumm auf die Decke. Und ich weiß ja genau, wie wenig Lust mein Vater auf diese ganze Situation hier hat, da will ich seinen Anflug von Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren. „Hier, schätze ich“, antworte ich folgsam und zeige auf die Flurdecke, wo noch eine Baufassung hängt. Und um nicht wieder Kritik von meinem Vater zu ernten, nehme ich mir den erstbesten Karton vor, packe meine Kleidung aus, räume sie in den riesigen Kleiderschrank, den die Möbelpacker bereits aufgestellt haben.
Am späten Nachmittag fahre ich zusammen mit Chris zu einem Schnellimbiss im Ort. Es ist Essenszeit. Beim Eintreten verursacht der typische Geruch von ranzigem Fett sofort eine Übelkeit in mir. Warum nur fällt mir in diesem Augenblick spontan ein, was Eberhard jetzt wohl bestellen würde, nicht aber, was ich essen könnte? Wieder diese Erinnerungen an früher, an gemeinsame Umzüge, improvisierte Mittagessen in irgendeinem Imbiss. Wie ich sie geliebt habe, diese Pausen während unseres Renovierens! Die schnellen Snacks, meist Fastfood, das wir beide so gerne mochten. Ein paar Pommes mit Mayo werde ich wohl irgendwie runterbekommen – und so füge ich mich in mein Schicksal und nehme zusammen mit Chris und meinem Vater die erste improvisierte Mahlzeit in der neuen Küche ein.
Das Durcheinander in der Wohnung nervt mich. Ich will nun endlich meine Ruhe haben und frage mich, wie ich das alles jemals bewältigen soll, all die Kartons, Taschen und
Kisten … Die Möbelpacker sind schon lange fort, als mein Vater und Chris am späten Abend schließlich auch die Wohnung verlassen. Endlich! Ich bin wirklich erleichtert. Spüre aber auch rasch, wie mit der Einsamkeit zugleich die Panik zurückkehrt. Und mit der Panik kommen auch die Tränen wieder. Und meine mittlerweile gute alte Bekannte, die Verzweiflung, lässt auch nicht lange auf sich warten.
Jetzt hat mein neues Leben begonnen und alle haben mir doch erzählt, dass es von da ab allmählich wieder besser gehen würde. Aber was genau soll denn eigentlich durch meinen Umzug besser werden? Werde ich ab morgen mein altes Leben nicht mehr vermissen? Meinen Mann nicht mehr vermissen, mein Haus, meine Lady? Wie soll das gehen? Wie kann das jemals heilen?
Im Dunkeln ziehe ich mich aus, lege mich ins Bett, rolle mich zusammen wie ein kleines Kind. Ich atme den Geruch von fremder Bettwäsche – mein Vater hat mir eine seiner Garnituren geliehen. Alles muss neu gekauft werden, denke ich noch, ehe ich mich in einen kurzen Schlaf weine. Mitten in der Nacht wache ich auf. Irgendwo tickt die neue Wanduhr, da rauscht es und hier knackt ein Rohr im Bad. Fremde Gerüche, fremde Geräusche rings um mich herum. Schließlich knipse ich die kleine Nachttischlampe an, suche mich wieder zu orientieren – und für den Rest der Nacht lasse ich das Licht brennen.
Am nächsten Morgen rufe ich Chris an. Wie immer telefonieren wir eine ganze Weile miteinander. Chris ist geschieden, seit Jahren schon. Wechselnde kurze Affären begleiten seinen Alltag, in dem der Alkohol eine viel zu große Rolle spielt. Chris hat vor einigen Jahren sehr clever Immobilien gekauft und verkauft. Und da er keine allzu großen finanziellen Ansprüche an sein Leben stellt, kommt er mit dem gelegentlichen Handel und den Mieteinnahmen seiner maroden Häuser einigermaßen über die Runden. So wenig ich seinen Lebensstil in den letzten Jahren verstehen konnte, so dankbar bin ich heute dafür. Denn nur, weil er so ist wie er ist und so lebt wie er lebt, ist er einfach ständig für mich da und hat viel, ja oftmals sogar endlos Zeit für mich.
Chris war zunächst erst mal fassungslos, als er vom Ende der Beziehung zwischen Eberhard und mir hörte. Wie viele andere auch, hielt er uns schlichtweg für ein Traumpaar. Die große Blonde und der attraktive Dunkle, sie so emotional und immer aktiv, er der ruhige, intelligente und ruhende Pol im Hintergrund. So oder ähnlich war wohl die Außenwirkung von Eberhard und mir. Wir waren so unterschiedlich, aber eben genau das schien ideal zusammenzupassen. Wir ergänzten uns doch nahezu perfekt.
Aber offenbar war ich nicht die Einzige, die nicht bekommen hatte, wie kritisch es um unsere Beziehung stand, dass jeden Augenblick alles vorbei sein konnte. Selbst Chris, wahrlich kein Romantiker und mit einem eher pragmatischen Blick, auch was Beziehungen betraf, war überrascht, dass Eberhard mich auf diese Weise verlassen hatte. Wie viele meiner Freunde und Freundinnen konnte auch er das so gar nicht nachvollziehen. Doch für Chris, den ewigen Optimisten, ist das Glas eben immer halb voll, niemals halb leer. Und so steckt er von nun an all seine Energie in das Projekt
„Britt – zurück ins Leben“. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er wie selbstverständlich rund um die Uhr für mich da ist.
Erst viel später würde ich erkennen, dass seine schier nie versiegende Geduld und Nachsicht mir gegenüber, seine Fürsorge und Präsenz nicht ganz uneigennützig waren. Noch in diesem Jahr sollten sie in einem traurigen Drama enden.
Wie so oft in diesen Tagen telefoniere ich bereits sehr früh mit ihm. Schon ab 9 Uhr ist er bereit für meine ersten Tränen des Tages und auch heute Morgen weine ich stundenlang in den Hörer, stelle ihm die immer gleichen Fragen. Die Fragen nach dem Warum, die er mir nicht beantworten kann. Auch meine gute Freundin Gitte, mit der ich in diesen Tage spreche, kann die Geschehnisse der letzten Wochen kaum nachvollziehen. Erst vor kurzem hat sie mit Eberhard telefoniert, er hatte sie angerufen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Auch wenn sie von dieser Geste nicht besonders angetan war, hatte sie doch ein paar Worte mit ihm gewechselt und später berichtete sie mir, sie erkenne ihn gar nicht wieder. So kühl, total verändert, emotionslos. Und ständig beklage er sein Los. Ganz allein in dem großen Haus und nun auf den Verkauf warten zu müssen, während ich mich feige davon gemacht habe. So also sieht offenbar er die Dinge. In solchen Momenten überfluten mich Wellen der Wut und des Hasses – die aber leider nie lange genug andauern, um mich auf einen gesunden Weg zu bringen, mich endlich von ihm zu befreien.
Ich habe das Gefühl, dass mein Überlebenswille mit jedem Tag mehr schwindet. Nach vier Tagen voller Verzweiflung, Panik, Weinen und in denen mir, trotz aller guten Vorsätze, auch das Essen zur Qual wird, greife ich zum Hörer und wähle die Nummer von Steve.
Steve ist ein begnadeter Psychotherapeut und Supervisor. Vor vielen Jahren hatten wir uns im Rahmen eines Businesscoachings kennengelernt. Über die Jahre hinweg habe ich immer mal wieder die eine oder andere Stunde in seiner Beratungspraxis zugebracht. Und jedes Mal dann, wenn es für mich darum ging, wichtige Entscheidungen zu treffen oder aktuelle Probleme zu diskutieren, schätzte ich seine sachliche Reflexion und seine pragmatische Sichtweise. Steve kennt zudem auch meinen Mann. Eberhard hatte im Zusammenhang mit seiner letzten Scheidung und seinen Problemen im Umgang mit seinen Ex-Frauen und den Kindern Steves Rat gesucht und ihn auch geschätzt.
Nachdem ich Steve von der Trennung berichtet und ihm erzählt hatte, wie wenig ich mit der Situation umgehen kann und therapeutische Hilfe suche, bot er mir sofort ein paar klärende und unterstützende Gespräche an. Natürlich war ich schon seit Wochen auf der Suche nach einem niedergelassenen Therapeuten, um mit seiner Hilfe meine Situation bewältigen und aufarbeiten zu können, aber leider ohne Erfolg. Niemand hatte in absehbarer Zeit freie Kapazitäten in seiner Praxis oder mir wurden andere Gründe genannt, warum man aktuell nicht für eine professionelle Therapie zur Verfügung stehe.
Deswegen sprang Steve in den vergangenen Wochen kurzfristig ein. Aber auch er kann sich nicht die erforderliche Zeit für mich freischaufeln. Und für eine professionelle Psychotherapie kennen wir uns einfach zu gut und zu lange. Ihm fehlen schlichtweg die notwendige Neutralität und der professionelle Abstand zu mir und meiner Geschichte. Und trotzdem sitzen wir in diesen Tagen viele Stunden in seiner Küche zusammen – und ich kenne nur ein Thema, stelle die immer gleichen Fragen. Steve zeigt sehr viel Geduld mit mir, versucht ebenfalls die Trennung und Eberhards Verhalten zu verstehen, bietet sich sogar an, einmal mit ihm zu sprechen, von Mann zu Mann. Er ist bemüht zu vermitteln, möchte eine Gesprächsbasis zwischen uns anbahnen, uns helfen, wieder miteinander zu reden. Gerne nehme ich sein Angebot an, obwohl ich bereits ahne, dass es nicht von Erfolg gekrönt sein wird. Aber einen Versuch ist es ja wert.
Ich weiß, dass Eberhard Steve ebenfalls sehr mag und schätzt. Umso größer daher meine Überraschung, als ich höre, dass er dessen Vermittlungsversuche rundheraus ablehnt und auf seinen Stereotypen beharrt: „Hör zu, Steve, ich bin da sehr konsequent. Ist es einmal vorbei, ist es für immer vorbei. Das war immer meine Devise und dabei bleibe ich auch diesmal. Da gibt es nichts mehr zu besprechen. Ich blicke jetzt nach vorn und regle mein Leben neu.“ Steve ist sichtlich betroffen, aber Eberhard fährt fort: „Auch wenn ich jetzt vielleicht den größten Fehler meines Lebens mache: Ich kann nicht mehr zurück, ich muss das jetzt durchziehen. Ich habe es angefangen, jetzt bringe ich es auch zu Ende.“ So jagt eine leere Phrase die nächste.
Steve spürt instinktiv, dass da etwas in die völlig falsche Richtung läuft. Er ist überzeugt davon, dass Eberhard einen großen Fehler macht, aber er ist auch machtlos angesichts solch einer Sturheit und Feigheit. Er kann Eberhards Argumente nur akzeptieren – und nichts mehr für uns tun.
Dennoch verkneift er sich am Ende nicht einen moralisch-belehrenden Abschied:
„Eberhard, du hast eine Verantwortung deiner Frau gegenüber. Ihr seid viele Jahre miteinander verheiratet. Du kannst dich nicht einfach mir nichts, dir nichts aus der Verantwortung stehlen und so tun, als ginge dich das alles nichts mehr an. Hast du auch schon mal an deine moralische Verpflichtung als Ehemann gedacht? Britt ist sehr krank. Sie benötigt deine Hilfe! Und vor allen Dingen braucht sie auch therapeutische Hilfe, und, wie es aussieht, ganz sicher auch eine lange Auszeit. Sie hat sich total übernommen in den letzten Jahren und nun versetzt du ihr auch noch den Todesstoß? Das ist nicht der Sinn von Ehe, nicht das, was du ihr bei eurer Hochzeit einmal versprochen hast!“ Eberhard bleibt stumm. „Vielleicht“, fährt Steve fort, „solltest du deine ablehnende Haltung noch mal überdenken. Auch vor dem Hintergrund eurer Geschichte. Und ganz besonders auch im Rückblick darauf, wie loyal Britt dir in all deinen schwierigen Zeiten immer zur Seite gestanden hat. Ich kenne euch beide nun schon so viele Jahre, ihr gehört doch einfach zusammen! Du bist ein Idiot, das jetzt einfach wegzuwerfen. Und ich sag’ dir noch was: Glaub mir, es wird der Tag kommen, an dem du das noch bitter bereuen wirst, da bin ich mir ganz sicher!“ Damit beendete Steve sein flammendes Plädoyer für mich, für uns beide. Genutzt hat es jedoch nichts. Eberhard war weiterhin unversöhnlich, ohne jegliches Interesse an mir, an meinem Leben, an meinem Gesundheitszustand.
Nachdem Steve und ich an diesem Morgen nun einige Minuten lang telefoniert hatten, war er offenbar von meinem alarmierenden Zustand überzeugt. Seine Stimme verändert sich spürbar hin zum Sachlichen – und dann bringt er meine Situation auf den Punkt:
„Britt, du bist total fertig mit deinen Kräften! Dein Verhalten, das ist nicht mehr länger bloß eine normale Trauerreaktion am Ende einer Ehe. Du hast einen totalen Zusammenbruch, physisch und psychisch! Du bist sehr krank, du brauchst Hilfe, sofort!
Und einen Arzt und Medikamente. Du gehörst umgehend in ärztliche Behandlung! Versprich mir, dass du dir ärztliche Hilfe holst, bitte! Und melde dich, sobald du entsprechende Schritte eingeleitet hast“, so seine eindringlichen und klaren Worte. „Denn ich, Britt, kann das so nicht mehr verantworten!“
Wie groß seine Sorge und wie besorgniserregend mein Zustand zu der Zeit wirklich waren, sollte er mir erst viel später erzählen.
Ich höre seine Worte, lasse sie sacken, beginne allmählich zu verstehen: Ich bin also krank. Ich brauche Tabletten, ich benötige einen Arzt. Ja, vielleicht ist das wirklich so und er hat recht. Ich beginne, es zu akzeptieren, ganz langsam.
In den vergangenen Monaten hatte ich die Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie absolviert, hatte mir sämtliche psychischen Krankheitsbilder umfassend eingeprägt, hatte alle Symptome verstanden. War als psychologische Beraterin tätig, habe psychische Erkrankungen bei anderen erkannt. Aber dass es nun mich selbst erwischt haben soll, konnte ich weder sehen, noch verstehen. Andererseits habe ich auch keine wirkliche Wahl mehr. Ich kann und ich will für mein Leben, für jede einzelne weitere Stunde keine Verantwortung mehr übernehmen. Der Schmerz in mir ist so unfassbar groß und die Tränen laufen und laufen. Ich kann nichts dagegen tun, kann es einfach nicht mehr aufhalten oder gar unterdrücken. Und ich werde zusehends schwächer und schwächer.
Ich mache mich in mein Büro, das immer noch nicht eingerichtet ist, ignoriere die noch nicht ausgepackten Kisten und setze ich mich an den Computer. Ich begebe mich auf die Suche nach psychotherapeutischen Praxen in der Umgebung. Ich finde ein paar Namen von Therapeuten, wähle die Telefonnummern, doch erreichen kann ich niemanden. Meist höre ich eine Ansage auf AB – aber welche Nachricht soll ich denn hinterlassen? Und wenn doch einmal irgendwo ein Zeitfenster von zehn Minuten für eine telefonische Beratung vorgesehen ist, dann ist dieser Anschluss durchgängig besetzt – bis ich wieder beim AB lande.
Schon will ich aufgeben, als mein letzter Versuch doch noch persönlich beantwortet wird. Eine freundliche Stimme in einer Praxis nimmt das Gespräch entgegen. Stammelnd und unzusammenhängend versuche ich, meine Situation zu schildern und bitte um Hilfe. Freundlich, aber bestimmt werde ich allerdings auch dort abgewiesen:
„Tut mir leid, aber da sind Sie falsch. Wir übernehmen leider keine Notfälle hier in der Praxis. Und da werden Sie auch woanders kein Glück haben. Wenden Sie sich doch am besten an die Ambulanz der nächsten psychiatrischen Klinik, dort wird man Ihnen helfen.“ Netterweise nennt mir die Stimme sogar die Telefonnummer der Klinik und wünscht mir viel Glück.
Ich wähle die erhaltene Telefonnummer und erreiche den Empfang der Klinikambulanz. Erneut schildere ich einer wildfremden Person meine Situation. „Ich verbinde Sie mit der zuständigen Ärztin, einen Augenblick bitte.“ Das wundert mich dann doch: Gleich beim ersten Versuch sollte ich eine Ärztin ans Telefon bekommen?
Frau Dr. Bilder meldet sich und ist unglaublich freundlich. Das macht es mir leichter, ihr meinen Zustand zu schildern. „Ich bin total am Ende! Ich fühle mich ganz merkwürdig. Irgendetwas stimmt nicht mehr, nicht mit mir, nicht mit meinem Erleben. Und ich kann einfach nicht mehr aufhören zu weinen. Ein befreundeter Psychotherapeut hat mir geraten, mir professionelle Hilfe zu besorgen, mich in eine Klinik zu begeben.“ Ich rede so schnell ich kann, meine Stimme überschlägt sich fast.
Obwohl ich zu einer völlig Fremden spreche, habe ich zu der Stimme am anderen Ende auf Anhieb Vertrauen gefasst. Vielleicht aber habe ich einfach auch keine andere Wahl mehr und ich klammere mich an diesen letzten Strohhalm, ergreife diese einzige Chance auf Hilfe, die ich gefunden habe. Ich weine, unablässig.
„Ich möchte, dass Sie bitte sofort hierher kommen!“, beschließt Frau Dr. Bilder freundlich, aber sehr bestimmt. Ich möchte mit Ihnen sprechen – und Sie gegebenenfalls auch stationär hier aufnehmen.“
In diesem Moment wissen wir beide noch nicht, dass wir uns für mehr als ein ganzes Jahr von nun an fast jede Woche sehen würden. Und dass es diese Ärztin sein wird, deren Entscheidungen und Empfehlungen mein weiteres Leben maßgeblich beeinflussen sollten.
„Ich muss das erst organisieren, meinen Hund unterbringen, so einfach geht das nicht …“, lasse ich den Satz unvollendet in Hilflosigkeit verklingen. Diese Entscheidung kann ich so schnell nicht treffen, ich muss an Ovambo denken, kann ihn doch jetzt nicht alleine lassen. Ich habe keine Ahnung, wie lange das alles dauern wird.
Doch Dr. Bilder unterbricht mich: „Regeln Sie das alles so schnell wie möglich und kommen Sie dann hierher. Und richten Sie sich darauf ein, für längere Zeit hier zu sein. Vermutlich, denke ich, benötigen Sie eine stationäre Behandlung.“
Alles in mir sträubt sich dagegen – und zugleich empfinde ich auch eine ungeheure Erleichterung bei dem Gedanken, mich für eine Weile aus meinem Leben verabschieden zu können, das mich total überfordert. Nicht mehr planen müssen, keine Kisten mehr auspacken, keine Möbelhäuser mehr aufsuchen. Ja, eine Auszeit wird mir guttun, das spüre ich überdeutlich. Und vielleicht gibt es ja auch Medikamente, die mich eine Weile einfach vergessen lassen werden.
Sofort rufe ich Gitte an, frage, ob ich ihr Ovambo bringen darf. Und ob sie auch seine Übergabe an Eberhard arrangieren kann. Ich erkläre ihr in abgehackten Sätzen, dass ich sofort ins Krankenhaus muss und Ovambo dringend irgendwo eine Bleibe braucht. Gitte mag Ovambo total gern, hat aber selbst Katzen zu Hause und mit denen verträgt Ovambo sich so ganz und gar nicht. Also wird er bei ihr nicht bleiben können. Wir sind uns dann sehr schnell einig, dass Eberhard sich ja wohl irgendwie für ein paar Tage um seinen Hund kümmern kann. Sie wird ihm das schon klarmachen – und ich weiß, dass sie das schaffen wird. Eberhard schreckte immer ein wenig vor Gitte zurück, sie war ihm zu resolut und auch zu schnippisch. Für meinen Collie ist die Trennung von mir nun ein notwendiges Übel, ich kann es nicht ändern. Schließlich ist das Haus, in das er dann für eine paar Tage zurückkehren wird, jahrelang sein Zuhause gewesen, ist ihm wohlbekannt und vertraut. Und was für ein herzloser Idiot sein Herrchen in den vergangenen Wochen und Monaten geworden ist, versteht er ja glücklicherweise nicht.
Offensichtlich traut Eberhard sich diesmal tatsächlich nicht, sich der Verantwortung zu entziehen. Nachdem Gitte ihn energisch darauf anspricht und ihm die Situation erklärt, sagt er zu, sich für ein paar Tage um seinen ehemaligen Hund zu kümmern. Wahrscheinlich bedeutet das für ihn eine Programmänderung an dem kommenden Wochenende, aber das soll dann mal seine Sorge sein.
Am frühen Nachmittag dieses Tages stehe ich also Frau Dr. Bilder gegenüber. Wieder vergieße ich Millionen von Tränen und versuche, alles der Reihe nach zu erklären: die Trennung, mein Zuhause, das ich verloren habe, die Überarbeitung während der letzten
Jahre, das Gefühl vom Ende meines Seins … Frau Dr. Bilder greift zum Telefon, bespricht sich mit ihrem Kollegen auf der Station und teilt mir dann mit, dass dort ein
Bett für mich frei sei. „Bitte erschrecken Sie jetzt nicht, Frau Ilkner, aber wir werden Sie für ein paar Tage auf einer geschützten Station aufnehmen. Wissen Sie, was das bedeutet?"
Mir entfährt unwillkürlich ein bitteres Lachen. Natürlich weiß ich, was das bedeutet: Türen, die sich automatisch verriegeln, Ausgang nur in Begleitung, Essen von Plastikgeschirr. Die Notwendigkeit, geschlossen untergebracht zu werden, macht mir schmerzhaft klar, dass ich offenbar wirklich dabei bin, allmählich verrückt zu werden. Ein kurzer Anflug von Panik streift mich, doch dann kehrt sie zurück, diese neue Gleichgültigkeit. Der, der es zu verantworten hat, weiß nichts davon – und ich denke den Satz gar nicht zu Ende. Früher oder später wird er es bestimmt irgendwie erfahren. Und ich weiß, es wird ihm gleichgültig sein.
Es sollte noch ein langer und steiniger Weg werden, ehe ich nach und nach Eberhards unglaubliche Gefühlskälte, seine Sprachlosigkeit, seine Hilflosigkeit würde deuten und nachvollziehen können. Genau wie ich hat auch er seine ganz eigenen Muster, seine Beziehungen zu leben und mit schwierigen Situationen umzugehen. Krisen kann er nur mit kühler Rationalität und Sachlichkeit begegnen. Meine Emotionalität und mein Anspruch an ihn, eigene Gefühle zu artikulieren und zu beschreiben, haben ihn oft völlig hilflos gemacht. Und so bleibt ihm stets nur wieder die Flucht nach vorn. Raus aus der Beziehung – für ihn einziger Ausweg aus Situationen, die ihn ängstigen und offenbar überfordern.
Ich begebe mich derweil auf die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik, werde dort bereits vom Pflegepersonal erwartet. Ich bin ängstlich, angespannt, frage mich, wie sie hier wohl mit mir umgehen werden. Ich treffe auf genervte Menschen, auf gleichgültige Menschen. Kann nicht erkennen, nicht unterscheiden, ob es Ärzte sind, Pfleger oder Praktikanten. Vermutlich von allem etwas.
Eine schöne junge Ärztin und eine mürrische Pflegerin nehmen mich mit in einen Raum zu einem Gespräch. Als sie im Rahmen der Anamnese Einzelheiten meiner beruflichen Tätigkeiten, meiner Qualifikationen und Ausbildungen erfahren, bemerkte ich eine Änderung in ihrem Ton mir gegenüber: Aus routinemäßiger Geringschätzung und Desinteresse wird so etwas ähnliches wie mitfühlender Respekt.
Ich erfahre, dass gleich meine Reisetasche durchsucht wird, mir der Inhalt meines Necessaires aus Sicherheitsgründen – Suizidalitätsprophylaxe – weggenommen wird und dass ich jede Menge Tabletten bekommen werde. Hoffentlich wirken sie schnell und sie experimentieren nicht erst mit einer kleinen Anfangsdosis herum. Ich bin bereit, ja giere geradezu danach, alles zu nehmen, alles zu schlucken, was man mir in diesem Moment verordnet.
Abends führt der Stationsarzt noch ein ausführliches Gespräch mit mir. Als ich ihm unter Tränen meine Situation erneut ausführlich schildere, begreife ich mehr und mehr, dass mir da nicht plötzlich und aus heiterem Himmel etwas Furchtbares zugestoßen ist, sondern dass dies hier lediglich das Ende einer jahrelangen, für meine Gesundheit ziemlich katastrophalen Entwicklung markiert.
Den schleichenden Beginn hatte ich natürlich nicht mitbekommen oder die Anzeichen schlichtweg übersehen, ignoriert, mit Arbeit, mit weiteren Projekten und Ausbildungen, mit Zielstrebigkeit und einem ungesunden Ehrgeiz aus meinem Bewusstsein verdrängt. Ich denke an meine Großeltern, die ich in den Tod begleitet habe, beide sind fast hundert Jahre alt geworden. Das war eine lange gemeinsame, aber zugleich unendlich fordernde und anstrengende Zeit. Dann der Aufbau meiner Firma, die Expansion während der vergangenen Monate, die 60-Stunden-Wochen, die zusätzlichen Klienten in der Beratungsstelle, die Weiter- und Ausbildungen, der Haushalt, die Hunde, der ewige Umbau im Haus. Ein sprachloser Mann. Offenbar ist da einiges zusammengekommen – und dann ist mir das irgendwann eben alles zu viel geworden.
„Im Grunde sitzen Sie hier auf der falschen Seite, Frau Ilkner, denn eigentlich sind Sie doch die Beraterin, Sie sind die, die Ihren Klienten und Kunden hilft. Sie selbst kennen doch die Symptome eines Burnout und einer schweren Depression aus fachlicher Sicht nur zu gut. Und es ist auch durchaus normal, dass man Hinweise und frühe Alarmsignale im eigenen Leben selbst nicht wahrnimmt. Was Ihnen in den vergangenen Monaten widerfahren ist, hätte jeden umgehauen. Doch das bekommen wir wieder hin. Wir müssen allerdings genau hingucken, wie sich das alles entwickeln konnte. Und warum. Aber darum kümmern wir uns später. Jetzt brauchen Sie erst mal absolute Ruhe. Sie müssen lernen, den Zusammenbruch zu verkraften.“
Der Oberarzt ist sehr freundlich und einfühlsam und ich höre meine Diagnose hier in diesem Zimmer zum ersten Mal. Ich kann sie auch annehmen und akzeptieren, denn nun hat mein merkwürdiges Verhalten und Erleben wenigstens einen Namen und ich bin nicht einfach nur schlecht drauf oder, wie mein Vater es nennen würde, „ich stelle mich an“. Sondern ich bin wirklich ernsthaft krank. Zugleich weiß ich in diesem Moment, dass ein sehr langer, sehr steiniger Weg vor mir liegt. Ich bin hier Grunde gerade erst ganz am Anfang und begreife noch gar nichts. Ich sehe keinen Ausweg, habe keine Vorstellung und auch keine Ahnung von meiner Zukunft. Mit jeder Faser meines Seins wünsche ich mir mein altes Leben zurück. Auch wenn es mich offenbar krank gemacht hat, zumindest aber habe ich mich darin wenigstens ausgekannt und hatte mich im Griff. Vermeintlich. Was nun kommt, weiß ich nicht. Und das macht mir Angst. So viele Fragen, aber bislang habe ich noch keine einzige Antwort erhalten.
Ich blicke aus dem Fenster in die Dunkelheit, sehe mein verheultes Gesicht in der Scheibe, sehe eine müde und verbrauchte, mir völlig fremde Frau, die sich da spiegelt. Ich denke mal wieder an Eberhard, der vermutlich bald einer anderen Frau gehören wird, an Ovambo, der mich vermisst, an meine Lady, die nun in einem anderen Garten lebt, an mein Haus, das zum Verkauf steht, an meine Firma, meine Aufgaben und meinen Alltag in einem Leben, das nicht mehr das meine ist. Kein Gedanke bleibt lange genug, um ihn zu Ende zu denken, alles geht ineinander über, verschwimmt, die Konturen der Gedanken lösen sich auf. Ich sehe alles wie durch Nebelschwaden – und der Verlust tut ein weiteres Mal so unendlich weh.
Obwohl die Medikamente mein Denken ein wenig vernebeln, begreife ich, dass ich in einer tiefen Krise stecke, die ich alleine unmöglich bewältigen kann. Mir wird klar, dass ich wirklich ernsthaft krank bin. Und dass ich mich mit meiner Zukunft unbedingt auseinandersetzen muss, wenn ich wieder gesund werden will. Falls ich das denn will
…
„Sie müssen im Moment nichts weiter tun“, hörte ich den Arzt sagen, „als zu schlafen und wieder zu essen. Das ganze Wochenende werden Sie nichts anderes tun. Nächste
Woche dann sehen wir weiter.“ Mit einer aufmunternden Geste legt er mir für ein paar Sekunden eine Hand auf die Schulter, ehe er seinen Dienst beendet und nach Hause fährt, zu Frau und Kind. Nachdem ich noch einige Verhaltensregeln für die Akutstation erfahren habe – glücklicherweise ist heute nicht mehr die Rede von ‚Geschlossener
Abteilung‘, heute sagt man ‚Akutstation‘, klingt ja auch gleich viel harmloser, finde ich – bin ich froh, dass alle Gespräche jetzt erst mal hinter mir liegen. Ich muss jetzt nichts weiter leisten, als meine Zimmernachbarin kennenzulernen.
Silke und ich verstehen uns auf Anhieb. Wir erzählen uns in Stichworten kurz und knapp unsere Lebensgeschichten. Und gemeinsam weinen wir dann in den nächsten Tagen mit unseren Tränen schier einen ganzen Ozean voll. Ich mag Silke, doch spüre ich zugleich auch ein Gefühl von Neid und Distanz ihr gegenüber. Schließlich hat sie eine Familie, einen liebevollen Mann, Kinder, einen Beruf, der ihr Freude macht. Gott, wie gerne würde ich mit ihr tauschen! Ich verstehe gerade nicht, wie man das alles haben und trotzdem so unendlich traurig sein kann, dass man darüber sogar krank wird.
Habe ich damals denn wirklich so überhaupt nicht aufgepasst während der Ausbildung, als das Thema Depressionen dran war?
***
Für insgesamt fünf Tage bleibe ich auf der Akutstation. Ich esse tatsächlich wieder – Appetit auf Rezept sozusagen –, komme allmählich zur Ruhe. Das Weinen wird erträglicher, hört aber nie ganz auf. Ich versuche zu lesen, doch kann mich nicht konzentrieren, blättere Seite um Seite um, ohne mich zu erinnern, was ich überhaupt gelesen habe. Die Tage vergehen, sind ohne Höhen, ohne Tiefen, verschwinden dank der Tabletten, die mich ein wenig von der Realität abschirmen, hinter einer Nebelwand aus Ereignislosigkeit. Besuche und Besucher vergesse ich wieder, kann mich an keine Gespräche aus jenen Tagen mehr erinnern.
„Sie sehen ja schon viel besser aus, Frau Ilkner!“ Der hoffnungsvolle Tonfall von Dr. Sievers, mit dem ich mein erstes Gespräch am Aufnahmetag hatte, holt mich ein wenig in die Realität zurück. Er habe eine gute Nachricht für mich, wendet er sich betont munter in meine Richtung. „Wir können Ihnen einen Therapieplatz auf einer offenen Psychotherapiestation anbieten. Allerdings sollten Sie sich auf eine längere
Behandlungsdauer einrichten.“ Wie lange das sein kann, dazu wollte er mir im Moment nichts sagen.
Ich bin einverstanden. So kann ich zumindest diese raue geschlossene Station endlich verlassen. Auf Dauer ist das kein Vergnügen, seine Zeit mit lauten, extrovertierten Borderline-Patientinnen, Ex-Junkies und psychotischen Menschen zu verbringen, wenn man sich selbst nur nach Ruhe sehnt und nur weinen kann, wenn für alles andere die Kraft fehlt, wenn es keinen erkennbaren Sinn mehr gibt. Das Essen hier wird übrigens tatsächlich in Plastikgeschirr ausgegeben und auch das Besteck ist aus Kunststoff. Beängstigend.
Die Verlegung auf eine Psychotherapiestation klingt durchaus verlockend. Vielleicht werde ich ja dort endlich beginnen zu verstehen, was mir widerfahren ist, warum ich überhaupt so krank geworden bin. Und möglicherweise finde ich ja sogar einen Weg aus der Krise. Möglicherweise …
Dass ich noch lange nicht in der körperlichen und psychischen Verfassung war, irgendetwas zu verstehen, zu analysieren, zu verarbeiten, geschweige denn zu verändern, konnte ich zum damaligen Zeitpunkt natürlich noch nicht ahnen. Alte Muster griffen wie die langen Schatten der Vergangenheit nach mir, wollten mich aufs Neue in das Hamsterrad stecken: krank, hingefallen, okay, kann passieren. Jetzt aber wieder zack zack, aufstehen, weitermachen. Es gibt viel zu tun, zu verstehen und wieder aufzubauen. Doch mein kranker Körper und meine verletzte Seele funktionieren leider nicht so. Das zu erkennen, würde mich noch viel Kraft, viel Zeit, viele Tränen und noch mehr zerstörte Illusionen kosten.
Doch ich bin zumindest ein wenig zuversichtlich und offenbar bereit für den nächsten Schritt – neugierig und vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln. Aber die neue Station ist schlichtweg der blanke Horror. Die Verlegung bedeutet die Unterbringung in einem Dreibettzimmer (hallo, ich bin Privatpatientin!), in einem alten düsteren Kliniktrakt. Gemeinschaftsduschen und übelriechende WCs auf dem Gang ekeln mich an. Alles ist laut, alles ist hektisch, merkwürdige Patienten um mich herum, wohin ich auch gehe. Rasch wird mir klar, dass ich an diesem Ort niemals wieder gesund werden kann. Ich verlange mit letzter Kraft ein Gespräch mit der zuständigen Ärztin und erkläre ihr nach zwei Stunden Wartezeit, dass ich hier nicht bleiben werde.
Ich bin verblüfft, dass sie das scheinbar sogar versteht und selbst nicht glücklich ist über die dort herrschenden Bedingungen. Sie macht mir aber zugleich klar, dass mich das alles eigentlich gar nicht stören sollte, so schwer erkrankt, wie ich nun einmal sei. All dies sagt sie zwar nüchtern und sachlich, aber auch dieser Vortrag von ihr kann mich nicht davon überzeugen, dass ich im Grunde gar keine andere Wahl habe als hierzubleiben und schnellstmöglich mit der stationären Therapie beginnen sollte. Während des Gesprächs versucht sie wiederholt, mich zum Bleiben zu überreden, führt mir vor Augen, dass wenig Hoffnung auf eine Genesung für mich bestünde ohne Therapie, ohne Medikamente – und erst recht ohne die Einsicht, dass ich wirklich krank bin.
Ich kann die Argumente von Frau Dr. Mertens durchaus nachvollziehen. Kann mir auch eine Therapie vorstellen – und wenn es unbedingt sein muss, selbst eine stationäre Therapie. Aber nicht hier! Da muss es doch irgendeine andere Option geben. Woher ich die Entschiedenheit nehme, mit dieser Vehemenz meine Auffassung zu vertreten und sie auch durchzusetzen, und zudem unmissverständlich zu verstehen gebe, dass ich mich nun selbst entlassen werde, weiß ich selbst nicht. Ich habe keine Ahnung, wie es draußen weitergehen soll, aber eines weiß ich ganz genau: Hier muss ich weg, und zwar sofort!
Im Grunde ist mir natürlich klar, dass die Ärztin recht hat. Aber ebenso klar ist mir, dass ich dort nicht bleiben kann, unter solchen Bedingungen je wieder gesund werde. Ich greife als letztes Angebot von Dr. Mertens auf, mich bei Frau Dr. Bilder, der Psychiaterin in der Ambulanz, zu melden. Sie könnte mich während der nächsten Zeit ambulant solange weiterbetreuen, bis ich einen Therapieplatz bei einem niedergelassenen Therapeuten gefunden hätte oder eine stationäre Behandlung in einer anderen Klinik beginnen würde.
Das klingt nach einem guten Kompromiss und scheint durchaus praktikabel zu sein. Und so willige ich ein. Ich ahne, dass ich mich auf jeden Fall ein wenig entgegenkommend zeigen sollte, ehe man mich zwangsweise wieder auf die ‚Geschlossene‘ verlegt. Denn ich erinnere mich dunkel daran, dass den Ärzten diese Möglichkeit offensteht, sofern ein Patient eine akute Gefahr für sich selbst oder für andere darstellen sollte. Auch wenn Recht nicht meine Stärke war, aber so einen oder zumindest so ähnlichen Paragrafen gibt es, da bin ich mir sicher.
Ich versuche also, einen möglichst geordneten und vernünftigen Eindruck zu machen, und verspreche Frau Dr. Mertens, mich umgehend in der Ambulanz zur weiteren Behandlung einzufinden.
Beim Verlassen der Station und meiner Rückkehr in die Freiheit – wenn auch zunächst nur in den Klinikpark – atme ich erst einmal ganz tief durch. Frei, wieder frei!