Читать книгу Willis Welt - Birte Müller - Страница 11
ОглавлениеWenn ich anderen Müttern glauben darf, ist bei uns zu Hause alles ganz normal, eben so wie bei allen anderen Familien auch. Allerdings hätte ich meinen Mann und mich schon vor der Geburt unserer Kinder als nicht ganz normal bezeichnet, deswegen passt es wohl auch ganz gut, dass gerade wir ein Spezialkind bekommen haben.
Willi schafft es tatsächlich, sich noch bekloppter zu verhalten als wir selbst. Mein Mann und ich sind alberne Menschen, aber wir haben wenigstens meistens einen erkennbaren Grund dafür, wenn wir loslachen. Willi bringt seine Lachattacken ganz ohne ersichtlichen Anlass zustande – Respekt! Da mag man denken: Die arme kleine Schwester Olivia, die kurze Zeit später ebenfalls noch in diese Familie gekommen ist!
Tatsächlich denke ich das auch manchmal. Allerdings verhält auch sie sich so normal, wie Kleinkinder sich eben verhalten: nämlich eben gar nicht. So erklärt sie mir morgens, dass sie sich nicht die Schuhe anziehen kann, weil sie gerade endlich mal eine Pause macht, das sei ja wohl ihr gutes Recht. Und wenn ich ihr dann lang und breit erläutere, dass sie jetzt aber in den Kindergarten gehen soll, weil Mama arbeiten muss, um Geld zu verdienen für die ganzen Dinge, die wir immer kaufen müssen (wobei es sie nicht weiter zu interessieren scheint, dass wir sonst kein Essen hätten, aber sehr wohl beeindruckt, dass man dann auch keine Geburtstagsgeschenke bekommen würde), und sie am Ende meines Monologes sagt: «Danke für das Gespräch, Mama!», dann weiß ich: Genau diese Tochter hatte uns noch gefehlt!
Und so wundere ich mich gar nicht erst, wenn ich den Klodeckel öffne und die Toilette bis oben hin mit Quietscheentchen gefüllt ist. Jedem meiner Hausgenossen traue ich zu, für die Enten im Klo verantwortlich zu sein. Ich frage nicht einmal, wer es war, sondern mache den Deckel schnell wieder zu und freue mich lediglich, dass anscheinend noch keiner draufgemacht hat.
Ich möchte gerne denken, dass wir eine ganz normale Familie sind, mit Höhen und Tiefen, nur dass unsere Tiefen mit Willi ein Albtraum sind und unsere Höhen vielleicht deswegen umso mehr herausragen. – Es ist wohl so, dass wir wirklich die gleichen Probleme haben wie alle anderen Familien (und Gummitiere im Klo sind ganz sicher ein kleineres). Aber warum darf man sich eigentlich nicht über Dinge beklagen, die die anderen auch haben? Und was ist das für ein komischer Wettbewerb unter den Müttern nach dem Motto «Wer hat es schwerer mit seinem Kind»? Weil ich kein Spielverderber sein will, mache ich da nicht mit, denn wir sind in vielen Bereichen einfach unschlagbar (oder kennen Sie ein Kind, das wie Willi acht eitrige Mittelohrentzündungen im Jahr schafft?). Denn selbst die vielen «Normalokinder», die wie mein Sohn Willi ganz normal zur Logopädie gehen, können im Gegensatz zu Willi wenigstens überhaupt etwas sprechen! Und natürlich haben auch «normale» Vierjährige Brillen, Hörgeräte, Paukenröhrchen, Windeln, Ergotherapie, Atemwegsinfekte und werfen den Teller an die Wand oder ziehen sich nicht selbst an und aus. Aber wir sind anscheinend in einer Art Hypernormalität gefangen! Wenn auf ein Kind all diese Dinge gleichzeitig zutreffen, dann nennt man das eben nicht mehr normal, sondern behindert. Warum etwas gleichreden, was nicht gleich ist? Ich persönlich kann den Blödsinn nicht mehr hören: Alle Kinder sind doch verschieden, das eine ist blond, das andere trägt eine Brille und noch ein anderes ist eben behindert (wobei das Wort natürlich nicht direkt ausgesprochen wird). Für mich ist das wie Äpfel mit Birnen vergleichen.
Von unserem Leben in der Extremnormalität möchte ich Ihnen in diesen Texten hier erzählen. Ich werde über unseren Alltag mit Willi und Olivia schreiben, über meinen tollen Ehemann rumnölen, mich über besondere Begegnungen freuen, mich immer wieder über blöde Kommentare auslassen, selbst politisch Unkorrektes schreiben und bekennen, dass ich manchmal völlig überfordert bin und der schönste Moment des Tages dann der ist, wenn beide Kinder schlafen.
Ich werde mich angreifbar machen, weil ich offen zugebe, nicht jede Therapie für meinen Sohn mitzumachen, und weil ich «trotzdem» arbeite und auf Lesereisen ins Ausland fahre. Ich mache mich bei den Eltern anderer behinderter Kinder unbeliebt, weil ich nicht glaube, dass nur die Gesellschaft mein Kind behindert, sondern dass er eben einfach auch behindert ist. Ich stelle meine Mitmenschen vor die Herausforderung, meinen Willi in all seiner Andersartigkeit zu nehmen und zu lieben, wie er ist. Ich nehme mir das Recht heraus, jeden noch so winzigen Fortschritt meines Sohnes wild zu feiern und daneben dem Wunder der normalen Entwicklung meiner Tochter zu huldigen. Und ich werde rumjammern über die Dinge, die den Alltag von allen Familien so schwer machen, aber über die man sonst nicht jammern darf, weil es ja jedem so geht!