Читать книгу Willis Welt - Birte Müller - Страница 15
ОглавлениеWenn sich Menschen begegnen, deren Kind behindert ist, interessieren sie sich automatisch für die Diagnosen der anderen. Diagnosen bieten immer eine gute Gesprächsgrundlage. Bei Eltern mit ähnlichen Erfahrungen ergeben sich in Sekundenschnelle Unterhaltungen über medizinische Fachthemen oder emotionale Grenzsituationen, bei denen so mancher Arzt noch richtig etwas lernen könnte.* Zugegeben, es kann auch ganz schön anstrengend sein, wenn Behinderteneltern aufeinandertreffen und es dann kein anderes Thema gibt als blöde Ärzte, Krankheiten, Therapien, Operationen und Medikamente.
Wenn eine Mutter von sich aus nicht die Diagnose ihres Kindes nennt, gehört es sich in Insiderkreisen übrigens nicht, die naheliegende Frage zu stellen: «Was hat denn deiner?» Man erzählt entweder von sich aus oder gar nicht. Aber ab drei Wochen gemeinsamen Stationsaufenthaltes kennt man eigentlich von allen die Krankengeschichte …
Natürlich kann man auf irgendeiner Party nicht so leicht Gesprächspartner auf diesem Gebiet finden (angenommen, man würde auf eine Party gehen). Die Mütter behinderter Kinder treffen sich deswegen im einschlägigen Internetforum «Rehakids», um mal in Ruhe über Antikonvulsiva* oder Stomapflege zu plaudern wie andere Mütter über Kochrezepte oder Strickmuster. Wer möchte, dass alle Mitlesenden gleich einen Diagnose-Check machen können, hat die Möglichkeit, eine Signatur in der maximalen Länge von 350 Zeichen an jeden seiner Einträge anzuhängen. Natürlich kann man auch, statt des Krankheitsverlaufs des Kindes, mehr oder weniger heilige Sinnsprüche anhängen in der Art wie: «Ein Tag ohne dein Lachen ist ein verlorener Tag.» In 350 Zeichen kann man eine ganze Menge ätzender Krankheitsbilder unterbringen, deren Bezeichnung meist nur ebenfalls Betroffenen überhaupt etwas sagt. (Oder wissen Sie, was «Lumbale Spina bifida mit HC [v-p-Ableitung]», «Arnold-Chiari-Malformation Typ 2» und «Christianson- Syndrom SLC9A6» bedeuten? Ich zum Glück nicht).
Einige Kinder haben so lange Listen mit Problemen und Baustellen, dass die Eltern das Ganze auch noch abkürzen müssen, um wenigstens die grundlegenden gesundheitlichen Fakten zu umreißen und zusätzlich noch einen kleinen positiven Satz zu ihrem Kind schreiben zu können, der unabhängig vom Krankheitsbild steht, etwa wie «Liebling der Familie». Auch die Geschwister werden meist kurz mit Vornamen und Geburtsdatum genannt. Und bei ziemlich vielen liest man, dass die Familien bereits ein oder sogar mehrere Kinder in der Schwangerschaft oder im Kindesalter verloren haben. Man kann durch diese Signatur dem oft starken Bedürfnis nachkommen, was der normale Kontakt mit Menschen auf der Straße nicht bietet – nämlich so eine Art Schild vor sich her zu tragen, auf dem etwas steht wie: «Bei mir geht es gerade nur um eines, um mein schwer mehrfach behindertes, krankes Kind, über dessen Zukunft mir niemand etwas sagen kann!»
Es gab eine Zeit, da habe ich relativ viel in diesem Forum gelesen und geschrieben. Unter meinen Einträgen steht noch immer:
Birte *73, mit Willi *24.3.07: Down-Syndrom, zuerst beidseitige Stimmbandparese mit Tracheostoma, BNS-Epilepsie (z.Z. anfallsfrei!!), hyperaktiv, ein Held! Olivia *26.1.09 Normalsyndrom ;-)
Diese Worte umreißen jedoch nicht annähernd das Drama, das sich in den ersten beiden Jahren nach Willis Geburt abgespielt hat. Ich könnte ein ganzes Buch damit füllen, nur diese Zeit und unser Leid zu beschreiben, aber ich will versuchen, es kurz zu machen. All das liegt jetzt hinter uns, aber trotzdem muss man wohl etwas darüber wissen, um uns als Familie verstehen zu können.
Also hier ein kurzer Diagnose-Check: Willis Down- Syndrom stand nur in der ersten Woche seines Lebens im Zentrum unserer Sorgen um dieses kleine Wesen, das wir zum Glück von Anfang an lieben konnten. Willi wurde ein paar Tage nach seiner Geburt sehr krank, ein schwerer Infekt löste den anderen ab. Obwohl wir im Prinzip viel bedrohlichere Probleme hatten, konzentrierte sich mein Mutterleid am Anfang ganz auf Willis Fütterstörung. Ihn nicht annähernd voll stillen zu können und ihn über eine Magensonde zu ernähren, trieb mich buchstäblich von morgens bis abends um. Das Schlimmste war immer, wenn wir unser Baby nicht bei uns haben konnten, und die Gewalt, die ihm ständig angetan werden musste, um ihn medizinisch zu versorgen. Der Höhepunkt unseres unbeschreiblichen Schmerzes war, als Willi im Alter von zwei Monaten aufgrund einer Stimmbandlähmung einen Luftröhrenschnitt bekommen musste. Das war auch der Moment, in dem ich endgültig in meine erste schwere Depression abrutschte. Man schnitt meinem Baby den Hals auf, es konnte nur noch durch eine in die Luftröhre eingeführte Trachealkanüle atmen. Willi war vollkommen stumm, sein Weinen war nur noch ein Röcheln von Schleim, der sich in der Kanüle auf und ab bewegte. Der Schleim musste ständig mit einem Absauggerät durch einen Katheter entfernt werden. Willi wurde 24 Stunden lang am Monitor überwacht, hatte rund um die Uhr Sauerstoffbedarf, durfte wegen der hohen Erstickungsgefahr niemals ohne geschultes medizinisches Personal sein. Ich dachte, die Welt könne sich unmöglich weiterdrehen. Ich hatte das Wort «Tracheostoma» noch nie gehört, hatte so etwas noch nie gesehen und wir hatten keine Ahnung, ob Willi jemals normal würde atmen oder wieder eine Stimme würde haben können. Wenn ich einmal in der Woche für eine halbe Stunde die Klinik verließ (verordnet von einer Psychologin), dann sah ich alle anderen Menschen auf der Straße umhergehen, als sei gar nichts geschehen: Sie lachten, sie fuhren zur Arbeit, sie saßen im Café! Diese Welt hatte nichts mehr mit mir zu tun. Ich selbst hatte nichts mehr mit mir zu tun. Ich fühlte mich nur noch wie die leere Hülle. Manchmal hatte ich den Gedanken, einfach nicht ins Krankenhaus zurückzukehren – ich wollte in einen Zug steigen und an einen Ort fahren, an dem mich niemand kannte –, alles hinter mir lassen, mich nie wieder umdrehen … Stattdessen zog es mich immer zurück ins Krankenhaus, noch vor Ablauf meiner halben Stunde Ausgang.
Ich hatte das Gefühl, mein Baby sei ein Monster geworden. Es war, als würde ich jeden Morgen in einen furchtbaren Albtraum hinein aufwachen.
Zum Glück war ich nie allein, Matthias war immer da, meine Eltern und Geschwister waren da, meine guten Freunde waren da. Und Willi war da! Er allein war mein einziger Trost, seine Existenz und unsere Liebe zu ihm waren unser unendliches Glück. Gleichzeitig blitzte immer wieder der Wunsch in mir auf, dieses Kind möge bitte einfach nicht mehr da sein, und ich hasste mich dafür, so etwas zu denken. Am Tag nach Willis Luftröhrenschnitt, als ich zurückwich vor meinem eigenen Kind und nicht in der Lage war, es zu berühren, da traute sich mein Mann, ihn mit all seinen Schläuchen und Kabeln auf den Arm zu nehmen, und da blickte Willi uns zum ersten Mal in seinem Leben bewusst an und lächelte! Nur daraus konnte ich Kraft schöpfen, um es weiter auszuhalten, jeden Morgen aufzustehen und wieder einen Tag, eine Woche, einen Monat lang ein- und auszuatmen …
Als wir endlich mit einem glücklichen, sich stetig weiterentwickelnden kleinen Willibaby das Krankenhaus wenigstens wochenweise verlassen konnten und zu etwas Normalität gefunden hatten (wenn man das normal nennen kann, seinem Kind ständig Schleim aus der Lunge zu saugen, mit Sauerstoffflaschen durch die Stadt zu rennen, nachts einen Pflegedienst im Haus zu haben, alle drei Stunden zu inhalieren, zu stillen, zu sondieren und Milch abzupumpen und selbst Psychopharmaka zu schlucken), da bekam Willi die BNS-Anfälle.
Das West-Syndrom ist eine schwer zu therapierende Säuglingsepilepsie. Was nach außen nur wie ein kleines Zucken aussah, ließ unseren Willi in nur wenigen Tagen von einem fröhlichen Baby zu einem Zombie mutieren. Willi konnte nicht mehr greifen, nicht mehr spielen, sich nicht mehr drehen – und das Furchtbarste: Er schaute nur noch durch uns hindurch und verlor sein Lächeln.
Damals gab es in meinem Leben nur noch Angst. Nichts konnte ich tun, an keinen Ort konnte ich gehen, mit niemandem reden, ohne dabei auch nur eine Sekunde die Angst zu vergessen, was wäre, wenn wir die Anfälle nicht unterbrechen könnten. Willi hätte nicht lernen können zu laufen, zu kommunizieren, vielleicht niemals wieder lachen können. Warum hatten wir über eine so läppische geistige Behinderung wie das Down-Syndrom geweint? Was war eine Körperbehinderung wie der Luftröhrenschnitt im Vergleich zu dieser Angst?
Viele Monate hat es gedauert, bis wir das richtige Medikament gefunden hatten, das unseren Willi langsam zurückholte in diese Welt. Auch der Grund für sein schwallartiges Erbrechen, die Nahrungsverweigerung und die schweren Verstopfungen wurde irgendwann gefunden (eine Verengung hinter dem Magenausgang) und durch eine große Darmoperation behoben. Dann bewegten sich plötzlich seine Stimmbänder wieder und wir konnten letztendlich sein Tracheostoma verschließen. Auch diese Zeit war durch ein ewiges Auf und Ab mit furchtbaren Rückschlägen und lebensbedrohlichen Situationen verbunden. Mein Mann ist ein anderer Mensch, seit sein Sohn auf seinem Arm aufhörte zu atmen und fast erstickt wäre, als man das erste Mal versuchte, Willis Luftröhrenschnitt zu verschließen.
Wenn ich jetzt noch dazuschreibe, dass ich wahrscheinlich genau in dem Moment, als die schwerste Last von Willis gesundheitlichen Problemen von uns genommen war, plötzlich mit Olivia schwanger wurde, dann habe ich insgesamt ziemlich genau sechstausend Zeichen gebraucht, also siebzehnmal mehr, als in die Signatur bei «Rehakids» passt … Außerdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass mit dem Ende von Willis massiven Gesundheitsproblemen und der Geburt des zweiten Kindes nicht etwa die lang ersehnte Ruhe in unser Leben einkehrte. Seit wir die epileptischen Anfälle in den Griff bekommen hatten, lernte Willi schnell, sich hochzuziehen, Dinge herunterzuziehen und zu laufen (beziehungsweise wegzulaufen). Willi hatte sich nicht etwa, wie viele sagten, in einen kleinen Wirbelwind verwandelt, sondern er war ein Orkan geworden, ein Tsunami, der alles mit sich riss, was nicht niet- und nagelfest war. Er war so außer Rand und Band, dass ich nach der Geburt von Olivia gleich meine zweite Überlastungsdepression bekam: Ich war nicht in der Lage, mich gleichzeitig um beide Kinder zu kümmern. Heute denke ich, dass ich vielleicht in jedem Fall nach der Geburt meiner Kinder eine postpartale Depression bekommen hätte, wer weiß das schon? Wahrscheinlich hatte ich sogar noch Glück, denn es wunderte niemanden in meiner Situation, dass ich zusammenbrach. Ich hätte sicherlich weniger Verständnis von meinem Umfeld dafür bekommen, erst mal mit meinem zweiten (kerngesunden) Baby sechs Wochen in einer Psychiatrie zu verschwinden, wenn bei uns von außen betrachtet alles ganz paletti gewirkt hätte.
* Besonders übrigens beim Thema Diagnosevermittlung. Hier ein kurzes Beispiel. Arzt nach der Geburt eines Babys mit Down-Syndrom: «Ihr Kind hat Trisomie 21.» Eltern völlig verwirrt: «Was heißt das?» Arzt: «Das heißt, dass ihr Kind mongoloid ist und sich niemals die Schnürsenkel binden lernt.»
* Arzneimittel zur Behandlung von epileptischen Anfällen.