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ZWEI MONATE ALPTRAUM –
MEIN ERSTES CAMP IN DER NFL

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Regungslos saß ich auf meinem Stuhl und versuchte, mich unsichtbar zu machen. Wie eine Maus, die sich unter den Küchenschrank in eine Ecke verzieht, drückte ich mich so nah wie möglich an die Wand. Ich wusste, dass mein Abflug nach Deutschland bevorstehen würde. 18 erwachsene Männer hatten gerade den Einlauf ihres Lebens bekommen. Sie saßen da um die lange Tafel im Konferenzraum, die rot angelaufenen Köpfe gesenkt, einige den Tränen nahe.

Und nun war für den schwarzen Grizzlybären, der in diesem Raum wütete, nur noch ein Opfer übrig geblieben: Patrick Esume, der kleine Praktikant aus Hamburg, der sich erhofft hatte, im Juli 2006, in dem Deutschland mit seinen Fußballern das Sommermärchen feierte, seine Karriere in der großen Welt des American Football zu starten. Ich wusste zwar nicht, was ich falsch gemacht hatte. Aber da Art Shell alle 18 Mitglieder seines Trainerstabs zuvor an die Wand genagelt hatte, bestand wenig Hoffnung, dass ich verschont werden würde. Ich schwitzte, mein Herz raste.

Der Headcoach schickte die Coaches mit der Ansage, sie in zehn Minuten auf dem Platz zum Neustart des Trainings zu erwarten, aus dem Raum. Mich, der ich mich in seinem Rücken aus der Tür zu schleichen versuchte, hielt er mit seiner riesigen Pranke fest, obwohl er mich eigentlich gar nicht hatte sehen können. „Patrick, du bleibst hier!“, dröhnte er. Das war es, dachte ich. Jetzt schickt er dich nach Hause. Doch Art Shell, als Offensive Tackle in die Hall of Fame des Profifootballs aufgenommen und 1990 als erster schwarzer Headcoach der NFL-Geschichte zum Trainer des Jahres gewählt, sagte nur: „Ich wollte, dass du eins verstehst: Trainer in der NFL zu sein, das ist kein Kindergeburtstag, sondern harte Arbeit. Hast du das verstanden?“ „Verstanden, Coach“, presste ich heraus. „Dann ab zum Training!“, sagte er.

Vorbereitungscamps sind niemals ein Vergnügen, das weiß jeder, der in seinem Leben schon einmal eins mitgemacht hat, egal in welcher Sportart. Aber das, was ich im Sommer 2006 als Praktikant bei den Oakland Raiders erlebte, lässt all die anderen Camps meines Sportlerlebens im Rückblick wie Spaziergänge im Park erscheinen. Es waren zwei Monate Alptraum, eine Achterbahnfahrt durch die Abgründe der menschlichen Seele, oftmals bittere Cocktails aus Druck, Schlafmangel und Eitelkeiten – und dennoch Erfahrungen, die mich sehr bereichert haben. Deshalb habe ich mich entschieden, diese Erfahrungen zu Beginn dieses Buches mit euch zu teilen.

Ich war 2006 im Trainerstab der Hamburg Sea Devils tätig gewesen, die im Europaableger der NFL spielten. Vor Saisonbeginn standen in Tampa (Florida) die NFLE-Sichtungscamps an. Art Shell war als Commissioner dort anwesend. Irgendwann kam die Nachricht, dass er die NFLE verlassen würde, um als Headcoach bei den Raiders den entlassenen Norv Turner zu beerben. Da ich im Jahr zuvor ein dreiwöchiges Praktikum in Oakland absolviert hatte, stand mir der Club nahe, und so sprach ich Art Shell auf seinen neuen Job an.

Er war begeistert von meinem Interesse und sagte, dass er es gern sehen würde, wenn ich im anstehenden Sommer für zwei Monate ins Camp kommen könnte. Das ging runter wie Öl. Also sagte ich zu und saß Anfang Juli im Flugzeug nach Kalifornien.

Meine Aufgabe bestand darin, Runningback-Coach Skip Peete zu assistieren. Ihn kannte ich noch aus dem Vorjahr, und weil ich durch den Kontakt zum Headcoach ins Camp gekommen war, galt ich nicht als Praktikant, sondern wurde voll in den Stab integriert, was für mich eine unglaubliche Ehre war. Immerhin waren dort ein paar echte Legenden dabei. Fred Biletnikoff zum Beispiel, nach dem der Award für den besten Wide Receiver im College-­Football benannt ist, war als Wide-Receiver-Coach im Staff. ­Quarterback-Coach war Jim McElwain, der später eine Bilderbuchkarriere im College-­Football machte und heute als Headcoach der Florida Gators 4,5 Millionen Dollar im Jahr verdient. Mit Willie Brown (Squad Development) und Jackie Slater (Co-Offensive Line) waren zwei weitere Hall of Famer am Start, dazu Chuck Pagano (Defensive Backs), der seit 2012 Headcoach der Indianapolis Colts ist. Kurz: Als Anfänger aus der Football-Provinz fühlte ich mich wie das schwarze Entlein unter lauter prächtigen, weißen Schwänen.

Die Saison 2005 war schlecht gelaufen für die Raiders. Entsprechend Druck hatte Besitzer Al Davis, ein exzentrischer, für seine cholerischen Anfälle bekannter Mann, auf den neuen Headcoach ausgeübt. Davis, der 2011 im Alter von 82 Jahren starb, war für sein hartes Regiment bekannt, tat aber alles, um seinen Angestellten das bestmögliche Umfeld zu garantieren. So fand das Camp im Napa Valley statt, der berühmten kalifornischen Weinanbauregion. Weit ab von jeglicher Ablenkung, in einem Klima, das beste Möglichkeiten für sportliche Betätigung bot. Es hat während der zwei Monate, die ich dort war, nicht ein einziges Mal geregnet.

Das Marriott-Hotel war zur Hälfte für die 93 Spieler und den Trainerstab geblockt, die Konferenzräume waren hermetisch abgeriegelt. Hinter dem Hotel war ein Maschendrahtzaun, der extra aufgebrochen worden war, um Zugang zu den dahinter gelegenen vier Highschool-Sportplätzen zu bieten, wo das Team trainieren sollte. Die rund 50 neuen Spieler teilten sich Doppelzimmer, die Veterans, also diejenigen, die schon länger für die Raiders spielten, hatten, ebenso wie die Coaches, Einzelzimmer. Und das Essen war das Beste, was ich je in einem Camp erlebt habe. Es gab alles, was man sich wünschen konnte, und das in der Menge, die jeder brauchte.

Einmal stand ich gerade an, um mir ein saftiges T-Bone-Steak auf den Teller zu laden, als hinter mir eine Stimme sagte: „Kann ich bitte auch mal die Zange haben, mein Freund?“ Ich kannte diese Stimme, und zwar von meiner Playstation, auf der ich jahrelang „Madden NFL“ gedaddelt hatte. Kein Zweifel, das musste John Madden sein, einer der profiliertesten Headcoaches der NFL! Ich drehte mich also um – und sah dieser Legende direkt ins Gesicht. Madden hatte 1976 mit den Raiders den Super Bowl gewonnen und war als Ehrenmitglied ins Camp eingeladen worden. Ich konnte gar nichts sagen, reichte ihm wortlos die Zange – und verbrachte den Rest der Mittagspause damit, John Madden aus respektvoller Entfernung beim Essen zuzuschauen.

Das Problem war allerdings an den allermeisten Tagen, dass es keine Zeit gab, um dieses Essen in Ruhe zu genießen. Außer vielleicht in den ersten Tagen, als noch keine Spieler da waren, sondern sich der Coaching Staff zur Vorbereitung traf. Ich jedoch war viel zu sehr damit beschäftigt, die verschiedenen Trainer kennenzulernen und mich mit den Inhalten vertraut zu machen, die vermittelt werden sollten, um an so profane Dinge wie Nahrungsaufnahme zu denken.

Bereits im ersten Meeting zog ich die Arschkarte. Ich wollte höflich sein und warten, bis alle einen Platz gefunden hatten, und als ich mich setzen wollte, war nur noch der Platz neben Art Shell frei. Niemand will freiwillig am Kopf der Tafel neben dem Headcoach sitzen, das war mir schon klar. Aber dass ausgerechnet ich es dann machen musste, und zwar für den Rest des Camps, war sicherlich nicht das gewesen, was ich mit meiner Höflichkeit hatte bezwecken wollen.

In den ersten beiden Tagen wurden im gesamten Stab die Personalien besprochen. Das läuft in der Regel so ab, dass alle Spieler nach Positionen geordnet werden, dann gibt es Berichte darüber, wie die Jungs durch die Off-Season gekommen waren, ob es Verletzungen gab, die möglicherweise den Austausch von Personal nötig machen könnten. Außerdem unterrichtete Art Shell seinen Stab über die grobe Ausrichtung für die neue Spielzeit.

An den kommenden Tagen teilten sich die Coaches in Offense und Defense und besprachen, welche Spielzüge implementiert werden sollten. In dieser Zeit lernte ich zum ersten Mal die Abkürzung CYA kennen. Das steht für „Cover your ass“ und beschreibt letztlich das Anliegen, sich vor dem Donnerwetter des Cheftrainers oder – noch schlimmer – des Besitzers zu schützen, indem man alles, was man im Training erarbeitet hat, schriftlich dokumentiert. Und alles heißt in diesem Zusammenhang: jeden einzelnen Pass, jeden Catch, jeden Spielzug. Das geht natürlich nur, indem jede Einheit aufgezeichnet wird, damit man anschließend das Video auswerten kann. Was das bedeuten würde, war mir anfangs nicht klar, aber ich sollte es lernen.

Nach knapp einer Woche kamen die neuen Spieler ins Camp. Diese Gruppe besteht aus den Rookies, also denjenigen, die noch nie als Profi gespielt haben, und den Free Agents, die in anderen Teams aktiv waren und nun auf einen neuen Vertrag hofften. Diese Jungs kennen sich untereinander selten, und damit sie den Club und seine Philosophie verstehen lernen, und um ihnen einen Vorsprung auf die Veterans zu geben, kommen sie eine Woche früher als die Jungs, die schon im Vorjahr im Kader standen.

Mit ihrer Ankunft veränderte sich der Tagesablauf gravierend. Um 6.30 Uhr war das erste Meeting des Trainerstabs angesetzt, um den Tagesablauf zu besprechen. Weil ich dort frisch und munter auflaufen wollte, stand ich jeden Morgen um 4.45 Uhr auf und zog draußen in der Finsternis ein Work-out-Programm durch. Zwischen 7 und 8 Uhr gab es Frühstück, danach zwei Stunden interne Besprechungen in den verschiedenen Positionsgruppen. Um 10 Uhr stand die erste zweistündige Einheit an. Anschließend hatten die Spieler Zeit für das Mittagessen, für Pflege, medizinische Behandlungen und ein Schläfchen.

Die Trainer jedoch mussten ihr Essen in sich reinschlingen, um genug Zeit zu haben, die Vormittagseinheit auf Video zu analysieren. Schließlich musste noch vor der zweiten Einheit, die gegen 16 Uhr startete, die Analyse des Vormittags abgeschlossen sein, um die dort gewonnenen Erkenntnisse in die Trainingssteuerung einfließen zu lassen. Jeder Coach muss für seine Spieler ganz genau jeden Wert belegen können. CYA sage ich nur.

Bevor die zweite Einheit starten konnte, wurden die Spieler zusammengerufen, um mit ihnen gemeinsam das vorangegangene Training zu analysieren. Dabei ist es immens wichtig, den Spielern ihre Fehler nicht nur vorzuhalten, sondern diese auch durch Videomaterial belegen zu können. Oft genug ist es mir passiert, dass mir vor allem erfahrene Profis nicht glauben wollten, dass sie einen Schritt in die falsche Richtung gemacht hatten. Erst als ich das Beweismittel abspielte, sahen sie ihren Fehler ein.

Nach dem zweiten Training des Tages wiederholte sich diese Prozedur. Abendessen runterwürgen, Videos auswerten, im Trainerstab besprechen und anschließend mit den Spielern analysieren. Dann hatten die Spieler um 22.30 Uhr Bettruhe, für die Coaches ging es jedoch weiter mit dem Strategiemeeting. Dort wurde jeden Abend ein neues Ranking der verschiedenen Positionsgruppen aufgestellt, in das alle Werte des Tages einflossen. Es gab ein Update aus der medizinischen Abteilung, und anschließend wurde unter Leitung des Headcoaches haarklein abgestimmt, was am kommenden Tag die Trainingsinhalte sein sollten.

Wenn man diese dann zu Papier gebracht hatte, war es selten früher als 1 Uhr nachts. Oftmals habe ich es nicht einmal mehr geschafft, mir die Zähne zu putzen oder zu duschen. Ich bin mit Schuhen an den Füßen und meinen Trainingsklamotten am Leib aufs Bett gefallen, habe es gerade noch geschafft, den Wecker anzuknipsen, der auf 4.45 Uhr programmiert war, bevor ich in einen komatösen Schlaf fiel. Und wenn dann nicht einmal vier Stunden später der Alarm losging, fühlte ich mich jedes Mal wie Bill Murray in „Täglich grüßt das Murmeltier“.

Das Problem verschärfte sich, als die Veterans ins Camp kamen. Der Tag der Ankunft ist absolut skurril. Eine Mischung aus Auto- und Modenschau. Manche der Jungs lassen sich für diesen Tag ein besonderes Outfit einfallen, um die anderen zu beeindrucken. Du siehst wirklich alle Arten von Autos, aber manch ein Superstar kommt auch mit einem 10.000-Dollar-­Pickup, weil ihm Autos nicht wichtig sind. Ich habe nie zuvor eine solche Ansammlung an Louis-Vuitton- und Gucci-Taschen oder -Koffern gesehen. Wenn ich die auf einen Schlag verkauft hätte, hätte ich wohl erst mal einige Jahre nicht mehr arbeiten müssen. Der absolute Hammer.

Insgesamt waren es 93 Spieler, die man zu der Zeit ins Camp holen konnte. Von denen mussten 40 aussortiert werden, was naturgemäß zu einem harten Ausleseprozess führte. Mit Randy Moss als Wide Receiver, Warren Sapp als Defensive Tackle oder Zack Crockett als Runningback hatten wir ein paar richtige Granaten im Aufgebot. Zu Sapp gibt es eine kuriose Anekdote, die mir deutlich machte, warum er ein solcher Star war. Eines Morgens sah ich, während ich mein Work-out durchzog, zwei Gestalten im Dunklen. Einer sprintete, der andere hielt ihn an einem Band fest. Ich ging näher heran und sah, dass es Warren und Athletikcoach Jeff Fish waren. Eine Extraeinheit morgens um fünf Uhr! Kein Wunder, dass der Typ so ein Gigant war.

Mit der Ankunft der Veterans änderte sich der Charakter des Camps radikal. Es war, als hätte jemand die Vorspultaste gedrückt. Die Geschwindigkeit wurde maximal erhöht, das erste Meeting fand nun schon um 6 Uhr morgens statt, und nachts war ich selten vor 2 Uhr im Bett. Schlafentzug ist ja nicht umsonst eine anerkannte Foltermethode, aber ich war anfangs noch so vollgepumpt mit Adrenalin, dass ich die Müdigkeit kaum spürte. Dass sich das ändern würde, war mir klar, aber zunächst einmal wollte ich es bewusst ausblenden.

Die Arbeit mit der Runningback-Gruppe machte mir extrem viel Spaß. Es waren zwar ein paar Multimillionäre dabei, doch die hatten alle keine Starallüren. Zack Crockett war der alte Leitwolf. Wegen seiner Rastazöpfe wurde er in Anlehnung an den Rapper Busta Rhymes nur Busta genannt. Er war eine absolute Maschine. Lange Zeit fragte ich mich, warum ich ihn nie beim Essen sah. Irgendwann fragte ich ihn selbst, woraufhin er mir seine Küchenzeile zeigte, die extra in seinem Zimmer eingebaut worden war. Er kochte sich sein Essen selbst. „Mein Körper ist mein Kapital, und ich will genau wissen, was für ein Benzin ich in ihn hineinfülle“, erklärte er mir. Was für ein Profi!

Der Star war LaMont Jordan, ein explosives Kraftpaket und ein Monsterathlet. Er war sehr an Deutschland interessiert und wollte mich unbedingt in Hamburg besuchen kommen, was er bis heute nicht geschafft hat. Mit ihm habe ich aber noch über Facebook Kontakt. Und der Clown unserer Gruppe war Rod Smart, der vorher in der XFL gespielt hatte, einer Liga, die Football und Entertainment vermischte. Er hatte auf seinem Trikot nicht seinen Nachnamen, sondern „He hate me“ stehen, weil er das mal über einen seiner Trainer gesagt hatte. Ein total verrückter Vogel, der aber immer für ein Späßchen zu haben war.

Leider gab es für Spaß allerdings immer weniger Raum, und das lag daran, dass relativ schnell klar war, dass zwischen der Offensive und der Defensive ein himmelweiter Qualitätsunterschied lag. Und das war nicht in erster Linie das Problem der Spieler, sondern des Offensive Coordinators. Tom Walsh war ein sehr intelligenter Mensch, der mit seiner Softwarefirma die Spielzüge für das Play­station-Game „Madden NFL“ programmiert hatte. Nun versuchte er, diese auch in die Schädel seiner Spieler zu hämmern. Er schlief so gut wie nie. Sein Leitsatz war: „Schlafen kann ich, wenn ich

tot bin.“

Das Problem war, dass alles, was er sich ausgedacht hatte, zu kompliziert war. Mein Football-IQ ist bei aller Bescheidenheit relativ hoch Aber die Formationen von Tom Walsh waren so absurd, dass niemand – vielleicht nicht einmal er selbst – sie durchblicken konnte. Die ersten zwei Wochen waren absolutes Chaos!

Wir hatten drei Quarterbacks, Aaron Brooks, Marques Tuiasosopo und Andrew Walter. Die standen im Huddle, hörten Anweisungen, die 14 Worte lang waren, und wussten nicht, was sie tun sollten. Aaron bekam einen Call, ging weg, kam zurück, fragte nach, was das bedeuten solle. Die Receiver schauten sich nur kopfschüttelnd an, keiner wusste, wo er wie zu stehen hatte. Dazu einen Star-Receiver wie Randy Moss, der mit seiner quiekenden Stimme ständig nörgelte und schlechte Stimmung verbreitete. Dass das nicht gut gehen konnte, wurde mir schnell klar.

In den Meetings hieß es zu Beginn, dass ein neues System immer holprig sei, und dass man Geduld haben müsse. Aber diese Geduld hatte niemand. Die Runningbacks haben es relativ einfach, sie müssen hinter dem Quarterback stehen oder rechts und links von ihm. Aber für die Receiver war es die Hölle. Mehr als einmal hörten wir aus dem Nebenraum, wie Fred Biletnikoff, der Receiver-Coach, seine Jungs zusammenfaltete. Einmal brüllte er sie eine halbe Stunde lang an. Da fielen Sätze wie „Deine Mutter hat dich wohl zu oft fallen gelassen“, oder „Ihr könnt direkt bei Wendy’s Frikadellen braten gehen, wenn ihr diese Übung nicht hinkriegt.“ Wenn die armen Teufel dann aus dem Meeting Room getrottet kamen, hingen die Köpfe fast auf dem Teppich. Außer der von Randy Moss, dem war das alles ziemlich egal.

Die schlechte Stimmung schlug sich aber natürlich auf das gesamte Team nieder. Die Sitzungen wurden immer länger, Headcoach Shell wurde immer deutlicher mit seinen Ansagen, und so war es kaum verwunderlich, dass es irgendwann zum großen Knall kommen musste. Allerdings kam dieser dann doch aus buchstäblich heiterem Himmel. Es war ein wunderbar sonniger Vormittag, wir bereiteten uns auf das erste von fünf Pre-Season-Spielen vor. Die Stimmung war gelöst, ich hatte viel mit meiner Trainingsgruppe rumgealbert. Es war gerade eine Laufspielübung angesagt, als die Stimme von Art Shell über den Platz dröhnte.

Ich habe ihn im Einstieg als Grizzlybären betitelt, und genauso einschüchternd kann er wirken. Seine Stimme geht durch Mark und Bein, wenn er sie donnern lässt, und genau so ein Moment war jetzt. Es waren zu dem Zeitpunkt rund 150 Leute auf dem Platz, und zunächst schien niemand so genau zu wissen, was los war, denn die Periode war noch nicht beendet. Erst als der Headcoach ein zweites Mal schrie und dabei nicht wirklich freundlicher klang, ließ der gesamte Tross alles stehen und liegen und scharte sich um Art Shell. Der sagte nur: „Get off the fucking field. Coaching staff, meeting in five minutes. No interns!“

Ich wollte schon aufatmen, denn ich galt ja grundsätzlich als Praktikant. Aber Art sagte: „Patrick, you are coming!“ Ted Daisher, Special Teams Coordinator, warf mir einen Blick zu, der fragen sollte: „Was hast du gemacht?“ Ich zuckte nur mit den Schultern, befürchtete aber, dass der Coach gesehen hatte, dass ich mit den Spielern gequatscht hatte, und er mir deshalb eine Lektion erteilen wollte. Also machte ich mir vor Angst fast in die Hose. Aber den anderen ging es nicht besser. Ich sah 18 erwachsene Männer in absoluter Panik.

Als alle auf ihren angestammten Plätzen saßen, begann Art Shell links von sich, die Reihe einmal komplett durchzugehen. Jeder bekam 45 Sekunden lang eine vernichtende Einzelkritik. Einzig mein direkter Vorgesetzter Skip Peete und Shells frühere Mitspieler Fred Biletnikoff und Willie Brown kamen einigermaßen glimpflich davon, der Rest wurde in Grund und Boden gestampft. Besonders Rob Ryan, der Defensive Coordinator, bekam tüchtig in die Fresse.

Er war wohl der Auslöser für den Wutanfall gewesen, da er sich nicht an eine Anweisung des Teambesitzers gehalten hatte. Al Davis hatte verfügt, dass er kein Passverteidigungssystem sehen wolle, in dem zwei Safetys tief stehen. Das war zwar Wahnsinn, aber wer die Musik bestellt, bestimmt eben auch, was gespielt wird. Rob hatte in der Annahme, der Alte würde schon nichts merken, dennoch mit zwei Safetys trainiert. Davis hatte sich aber die Tapes vom Training angeschaut, anschließend hatte er wutentbrannt den Headcoach angezählt, warum der seinen Stab nicht unter Kontrolle habe. Das fand Art Shell nicht so witzig.

Als Rob Ryan nach der Schelte zu seiner Verteidigung anhob, gab es eine extratrockene Gerade voll ins Esszimmer. Wer ihn denn nach einer Rechtfertigung gefragt hätte, wollte Art Shell wissen, um hinterherzuschieben: „Dein Vater würde sich für dich schämen!“ Dazu muss man wissen, dass Buddy Ryan, Vater von Rob und dessen Zwillingsbruder Rex, einer der anerkanntesten Trainer in der NFL war. Die Familienehre infrage zu stellen, war harter Tobak. Aber Rob war clever genug, klein beizugeben. Wer das in diesem denkwürdigen Meeting nicht getan hätte, der hätte sich wohl sofort seine Papiere holen können.

Keine Frage: Kurzfristig hatte dieser Vulkanausbruch eine durchschlagende Wirkung. Das Training danach war irre, vielleicht eins der brutalsten, das ich jemals erlebt habe. Die Spieler waren wie ausgehungerte Löwen, die sich aufeinander stürzten. Es war wie ein Glaubenskrieg, jeder wollte dem anderen zeigen, dass er nicht die Schuld an der Misere trug. Es gab blutige Nasen, Bewusstlose, zig Prellungen – es war der Wahnsinn. Dieser Tag war für mich wie ein Weckruf. Ich hatte verstanden, dass das Leben als Coach in der NFL extrem hart ist. Der Druck wird vor deiner Nase aufgebaut und dir direkt ins Gesicht geschleudert. Und damit musst du umgehen können.

Ich als Trainernovize aus einem Football-Entwicklungsland genoss immerhin so eine Art Welpenschutz. Trotzdem versuchte ich natürlich, mich so nützlich wie möglich zu machen. Der Special-Teams-Coordinator Ted Daisher hatte einen Assistenten, Lorenzo Ward, der die Arbeit nicht erfunden hatte. Im Klartext: Ward war stinkfaul, kam zu den Meetings immer völlig verschlafen und hatte überhaupt keine Lust, seine Aufgaben zu erfüllen. Für Ted, der einen militärischen Hintergrund hat und aussieht und redet wie ein Drill Sergeant, war das ein absolutes No-Go.

Ich hatte in Hamburg schon mit den Special Teams gearbeitet, deshalb bot ich ihm meine Hilfe an, und das war eine großartige Erfahrung, denn von Ted Daisher zu lernen, ist etwas Besonderes. Ich wollte unbedingt alle Chancen wahrnehmen, um Einblicke in Dinge zu bekommen, die man in Europa einfach nicht sieht. Und durch die Arbeit mit den Special Teams hatte ich auch bei den Vorbereitungsmatches eine feste Aufgabe, sodass ich nicht nur am Rand stehen und zuschauen musste.

Mein erstes NFL-Spiel als Mitglied des Trainerstabs erlebte ich am 6. August 2006. Mit dem Hall-of-Fame-Game in Canton (Ohio), dem Standort der legendären Ruhmeshalle des Profifootballs, wird traditionell die NFL-Saison eröffnet. Jedes Jahr werden beim Super Bowl die neuen Mitglieder der Hall of Fame angekündigt, und im Rahmen dieses Spiels werden die Büsten enthüllt. In jenem Jahr durften die Raiders gegen die Philadelphia Eagles antreten. Gespielt wird im Fawcett-Stadion, das direkt neben der Hall of Fame liegt.

Wir waren mit einer extra gecharterten Boeing 747 angereist. Wenn NFL-Teams reisen, ist das ein ganz besonderes Bild. In der First Class sitzen die Geschäftsführer und der Teameigner, in der Business Class die Trainer, und die Spieler teilen sich die Sitze in der Economy Class. Man wird in Bussen direkt aufs Rollfeld gebracht, das Gepäck wird dort verladen, man steigt ein, und es geht direkt los. Es schnallt sich auch niemand an, die Handys werden nicht ausgeschaltet, und es gibt auch kein Nachtflugverbot. Wenn die NFL reist, dann reist sie so, wie es ihr passt.

Noch eindrucksvoller war es, am Tag vor dem Spiel durch die Hall of Fame geführt zu werden, und das an der Seite von Art Shell, Fred Biletnikoff, Willie Brown und Jackie Slater, die dort alle ihre Bronzebüsten stehen haben. Das musste ich erst einmal auf mich wirken lassen. Und als ich am nächsten Tag im Stadion stand, die Nationalhymne gespielt wurde und die obligatorischen Düsenjets über mich hinwegdonnerten, dachte ich nur: „Das kanntest du vor ein paar Monaten nur von der Playstation. Was ist hier eigentlich los?“

Das Spiel selbst war krass, obwohl die potenziellen Starter beider Teams kaum Spielzeit bekamen. Dennoch war es sehr intensiv, weil das Stadion eigentlich auf Highschool-Football ausgelegt und der Platz relativ klein ist, was der Atmosphäre aber zuträglich ist. Ich erinnere mich an eine Szene, die sich direkt vor mir abspielte. Unser Runningback LaMont Jordan fing einen Ball, als von der Seite Philadelphias Strong Safety Brian Dawkins angestürmt kam, den alle nur „Wolverine“ nannten. Die Kollision war so heftig, dass ich dachte, die beiden müssten tot sein. Waren sie aber nicht, sie schüttelten sich kurz und machten weiter, als wäre nichts gewesen. Die NFL war einfach noch einmal ein ganz anderes Brett als die NFLE. Am Ende siegten wir 16:10.

Wir flogen noch in der Nacht nach dem Spiel die fünf Stunden zurück ins Camp. Dort angekommen war es 3 Uhr nachts, der Headcoach verschob das erste Meeting des nächsten Tages generös auf 9 Uhr. Allerdings sollten dann schon die Filme des Spiels komplett analysiert worden sein. Das bedeutete: eine weitere Nacht ohne Schlaf. Keine Ahnung, wie ich das ausgehalten habe. Das bringt mich auf eine weitere Anekdote.

Das Camp ging bereits dem Ende entgegen, als der Eigner die schöne Idee hatte, sich über die Besetzung des Quarterback-­Postens Gedanken machen zu wollen. Also forderte er von ­Quarterback-Coach Jim McElwain bis zum nächsten Morgen eine Aufstellung aller Daten der drei Anwärter, Aaron Brooks, Andrew Walter und Marques Tuiasosopo – aus allen Trainingseinheiten und Spielen! Der arme Jim musste alle Tapes der vergangenen Wochen noch einmal durchforsten und auswerten. Es war sein erster Job in der NFL, er war eigentlich die ganze Zeit im Panikmodus unterwegs, und nun drohte sein sonst schon tomatenroter Kopf die Farbe eines schweren Rotweins anzunehmen.

Sein Gesicht in diesem Augenblick war unbezahlbar, denn er hatte das gute alte CYA vergessen. „Kein Problem“, versicherte er dem Headcoach, aber innerlich brach er komplett zusammen. Als Art Shell aus dem Raum war, ging es los. „Ich schaffe das nie, selbst wenn ich durchmache“, jammerte er und war den Tränen nahe. Ich bot an, ihm zu helfen, denn er hatte nur acht Stunden Zeit, und ich wusste, dass er das allein wirklich nicht schaffen konnte. Und so verbrachte ich die Nacht damit, alle Quarterback-Aktionen des gesamten Trainingscamps zu scannen. Die Farce war dann: Als Jim am nächsten Morgen dem Headcoach die gesamte Auswertung überreichte, sagte der nur: „Oh, danke, aber Mister Davis hat sich entschieden: Wir starten mit Aaron.“ Die ganze Arbeit für nichts! Den Sinn solcher Aktionen werde ich niemals verstehen.

An diesem Tag ging es mir extrem dreckig – nach dem Schlafentzug der vergangenen Wochen und dem Stunt der vorangegangenen Nacht war das kaum verwunderlich. Im abendlichen Meeting mit den Spielern hing mir der Kopf auf dem Tisch, Speichelfäden rannen aus dem Mund, ich muss wie ein Zombie ausgesehen haben. LaMont Jordan fragte mich immer wieder: „Coach, alles okay mit dir?“ „Klar“, sagte ich, nur bemüht, nicht hart mit dem Kopf auf die Tischplatte aufzuschlagen. Plötzlich sagte er mir: „Hey Coach, ich habe hier noch ein bisschen Dip, versuch es mal damit!“

Dip ist stark konzentrierter Tabak, den die Skandinavier als Snus kennen. In der NFL nutzen ihn viele Spieler, die natürlich nicht rauchen dürfen, um wacher und konzentrierter zu sein. Ich hatte mir geschworen, das Zeug zu ignorieren, aber an dem Tag war ich so müde, dass ich mir ein kleines Kügelchen geben ließ und es mir, wie von LaMont angewiesen, in den Mundwinkel schob. Und die Wirkung war, nun ja, durchschlagend.

Mir wurde innerhalb von Sekunden speiübel. Mein Herz raste, ich spuckte prustend die Kugel auf den Tisch. Die Spieler konnten sich vor Lachen kaum halten, während ich krampfhaft versuchte, nicht im Strahl über den Tisch zu kotzen oder wahlweise bewusstlos zu werden. Mit einigen Flaschen Wasser konnte ich die Symptome bekämpfen, und immerhin war ich anschließend hellwach. Aber ich habe Dip nie wieder angerührt.

Eins möchte ich an dieser Stelle hervorheben: Es war natürlich nicht alles schlimm in diesem Camp, es gab auch einige lustige Momente. Einer davon war das erste reguläre Pre-Season-Game am 14. August 2006 in Minnesota gegen die Vikings, das wir 16:13 gewannen. Von zwei sehr wichtigen Erfahrungen will ich berichten. Nach einem Score von Minnesota mussten wir einen Kick-off-Return laufen. Ted Daisher sagte an, dass wir über rechts laufen sollten. Ich hatte mir aber die Videos der Vikings angeschaut und glaubte zu wissen, dass der zweite Kick nach links geht.

Tatsächlich fragte mich der Headcoach, ob ich es auch so sehen würde wie Ted. Doch anstatt mein Maul zu halten und einfach abzunicken, sagte ich: „Ich denke, dass der Kick nach links kommt, wir sollten also über diese Seite laufen.“ Ted schaute mich verwundert an, Art Shell nickte nur und sagte: „Okay, dann machen wir es so.“

Der Kick kam, er kam nach links, wir waren vorbereitet, und unser Defensive Back Chris Carr trug den Ball über 60 Yards. Alle feierten meinen Call, das war natürlich ein riesiger Erfolg. Ich hatte meine Eier auf den Tisch gelegt, und das hatte sich ausgezahlt. Ich war glücklich, aber auch erleichtert, denn was wäre gewesen, wenn der Kick nach rechts gegangen wäre? Ted hätte mir wahrscheinlich den Kopf gewaschen. Oder sogar abgerissen.

Es gab noch eine zweite Szene mit ordentlich Lerneffekt für mich als Neuling. Damals bekam man von den Spielszenen noch Ausdrucke, auf denen man sehen konnte, welcher Spieler welche Fehler gemacht hatte, weil es ja noch keine Smartphones oder Tablets gab, auf denen man die Mitschnitte live hochladen konnte. Einer unserer Linebacker war Grant Irons, ein absurder Athlet. 198 Zentimeter lang, 130 Kilo schwer, eigentlich die Statur eines ­Defensive-Line-Spielers. Er war eine physische Rakete, sein Spitzname war „Game Ready“, weil er immer Vollgas gab.

Grants Problem war, dass er nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen war. Er verstand nicht immer, wie er stehen musste, um seinen Gegner zu blocken, obwohl das Special-Team-System im Gegensatz zum Walsh’schen Offensivchaos leicht zu durchschauen war. Wir hatten also gerade fast einen Kick geblockt bekommen, und Ted Daisher war außer sich vor Wut, als wir bei der Ansicht der Ausdrucke feststellen mussten, dass wieder Grant Irons derjenige war, der den Fehler gemacht hatte. Ted wollte ihm an den Kragen, aber ich wusste, dass das wenig hilfreich gewesen wäre, also bot ich an, mit Grant zu reden. Ted sagte: „Ja, reiß du ihm den Arsch auf. Das musst du auch lernen!“

Ich also hin zu Grant, der auf Stollenschuhen an die 2,10 Meter groß war. Ich sagte: „Grant, wir müssen reden.“ Er baute sich vor mir auf und fragte: „Aha. Worüber?“ Ich: „Du hast den Fehler gemacht, du hast nicht den Richtigen geblockt.“ Er: „Sagt wer?“ Ich schaute rüber an die Seitenlinie, wo Ted stand und mich anfeuerte, damit ich Grant richtig den Arsch aufriss. Also baute ich mich auf, ruderte mit den Armen, als würde ich gleich auf ihn einschlagen, sprach aber ganz ruhig mit ihm. „Du, Grant, Ted ist gerade ziemlich sauer auf dich, aber ich dachte, ich spreche mit dir und erkläre dir, was falsch war, damit es keinen Ärger gibt, okay?“ Auf einmal wurde dieses Monster von einem Mann wachsweich: „Oh, bitte, Coach, du musst mir helfen, ich will nicht meinen Job verlieren!“ „Klar, Grant, wir kriegen das hin“, sagte ich, zum Schein weiterhin mit den Armen rudernd, „ich erkläre dir das später noch einmal in Ruhe. Aber jetzt bleibst du cool und tust, was wir geübt haben.“ Von da an klappte es, und Ted war zufrieden, weil er glaubte, dass ich dem Riesen einen Einlauf verpasst hatte.

Der tollste Tag im gesamten Camp war jedoch die Rookie-Show. Dieses Ritual gibt es in jedem NFL-Team. Die Neulinge müssen vor dem ersten Cut, also bevor die ersten Spieler aussortiert werden, einen Abend gestalten, an dem jeder Spieler etwas aufführen muss. Unser Eigner Al Davis hatte dazu auf sein Weingut im Napa Valley eingeladen. Alle Angestellten aus dem Hauptquartier waren eingeladen. Es gab ein unglaubliches Buffet, und von 21 bis 22 Uhr erlebten wir eine einmalige Show. Manche trugen ein Lied aus ihrer Heimat vor, manche machten auf Comedian, aber am besten waren die Parodien. Zwei junge Passverteidiger ahmten Willie Brown und Lorenzo Ward nach. Ward wurde als dummer Affe dargestellt, der alles nachplapperte, was Brown sagte. Und weil das der Realität sehr nah kam, lagen bald alle unter den Tischen vor Lachen. Ein Abend, der eine sehr willkommene Ablenkung vom Football-Alltag bot und der uns für ein paar Stunden den Stress und den Ärger vergessen ließ.

Lange hielt diese gelöste Stimmung allerdings nicht an. Nach dem ersten Cut fehlten plötzlich Spieler, die uns menschlich ans Herz gewachsen waren. Die Atmosphäre änderte sich dadurch, der ständige Schlafmangel und der wachsende Druck taten ihr Übriges, sodass auch bei mir Müdigkeit und Verdruss über die Situation durchbrachen. Zwar gewannen wir zwei weitere Pre-Season-­Games, gegen die San Francisco 49ers in der prestigeträchtigen „Battle of the Bay“ mit 23:7 und gegen die Detroit Lions mit 21:3, aber das waren Muster ohne Wert, weil nicht die besten Spieler zum Einsatz kamen. Und spätestens, als uns die Seattle Seahawks im letzten Vorbereitungsspiel mit 30:7 überrollten, war mir klar, dass die Raiders trotz ihrer Topspieler keine gute Saison spielen würden. So kam es schließlich auch.

Das Team lebte ausschließlich von seiner starken Defensive, die die drittbeste der Saison 2006 war. Aber die Offense war Lichtjahre davon entfernt. In 16 Partien schafften die Raiders 168 Punkte, das sind 10,5 Punkte pro Spiel. Ein unterirdischer Wert, der fünftschlechteste in der NFL-Historie. Für die Raiders eine historische Blamage. Die Quarterbacks Brooks und Walters warfen im Saisonverlauf jeweils nur drei Touchdowns. Ein guter Quarterback kommt auf mehr als 40. Kein Wunder also, dass Tom Walsh, der Offensive Coordinator mit dem Chaos im Kopf, noch während der Saison gefeuert wurde.

Ich verfolgte die Spielzeit aus Deutschland, natürlich besonders die Spiele der Raiders. Wenn man die ganzen Menschen dort so gut kennengelernt hat, baut man automatisch eine Beziehung zu ihnen auf. Ich versuchte mich über das Internet über alles zu informieren und blieb mit einigen Spielern in Kontakt, besonders mit LaMont Jordan, der mir öfters sein Leid klagte.

Ich war heilfroh, dass ich nach dem Seattle-Spiel diese wahnsinnige Mühle verlassen und nach Hause fliegen konnte. Meine Faszination für die NFL war unter den Eindrücken des zweimonatigen Alptraums doch sehr zurückgegangen.

Rückblickend habe ich aus der Zeit vor allem gelernt, was man nicht machen sollte. Es stimmte im Coaching Staff zwischenmenschlich nicht, was kein Wunder ist, wenn die Charaktere so unterschiedlich sind wie Karel Gott und Bushido. Und der Druck, der von außen hereingetragen wurde, war ebenfalls kontraproduktiv. Es nützt niemandem, so zu tun, als brauche ein Trainer keinen Schlaf und ständigen Antrieb, das wirkt sich am Ende nur negativ aus. Zum Glück habe ich später in meiner Karriere auch ganz andere Camps erlebt, die mich wieder mit der NFL versöhnten. Oakland war einfach eine negative Erfahrung, aber vielleicht gerade deshalb auch so wichtig für meine Entwicklung.

Als ich wieder zu Hause war, brauchte ich zwei Wochen, um wieder halbwegs zu Kräften zu kommen. Ich war sehr glücklich, dass Anna, mit der ich damals erst sehr kurz zusammen gewesen war, mich vom Flughafen abholte, obwohl ich es in den gesamten zwei Monaten nur ein einziges Mal geschafft hatte, sie anzurufen. Wegen der Zeitumstellung und meiner Arbeitsbelastung fand ich einfach keinen Moment Ruhe für die grundlegendsten Dinge im Leben. Manchmal habe ich den ganzen Tag über nicht einmal gepinkelt. Als Praktikant bekam ich nicht einen Cent. Aber ich dachte: Wenn Coaching in der NFL so ist, wie ich es jetzt erlebt habe, dann kann man mir gar nicht genug zahlen, damit ich das aushalte.

Mit einigen Jahren Abstand weiß ich, dass dieser Gedanke ungerecht war. Und natürlich wollte ich immer noch als Trainer im Profifootball arbeiten. Wie sich das alles entwickelt hat, wie ich überhaupt auf die Idee kam, diesen Job zu ergreifen, und wie ich zu dem geworden bin, der ich heute sein darf – davon möchte ich euch in diesem Buch erzählen.

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