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KAPITEL EINS

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Cassandra Vale stand in der langen, sich nur schleppend vorwärtsbewegenden Schlange des London Eye. Nach einer halben Stunde konnte sie das gigantische Riesenrad über sich wenigstens sehen – die Stahlkonstruktion ragte in den wolkenbehangenen Himmel hinein. London von oben zu sehen war scheinbar selbst an einem düsteren Novembertag eine beliebte Attraktion.

Sie war alleine, während es so wirkte, als hätte jeder andere Besucher Freunde oder Familienangehörige dabei. Vor ihr stand eine nervöse, blonde Frau, die etwa in Cassies Alter, also Mitte zwanzig, zu sein schien. Sie musste sich um drei ungezogene Jungen mit dunklen Haaren kümmern. Von der Warterei gelangweilt, schrien und zankten die Kinder, schubsten einander und lösten sich aus der Warteschlange. Sie waren so störend, dass die Leute begannen, sich zu beschweren. Ein älterer Mann vor ihr drehte sich um und starrte sie an.

„Könnten Sie Ihre Jungen bitte anweisen, leise zu sein?“, fragte er die Blondine in verärgertem und vornehmen Britisch.

„Es tut mir so leid. Ich versuche es“, entschuldigte sich die junge Frau und war mittlerweile den Tränen nahe.

Cassie hatte die gestresste, blonde Frau bereits als Au-Pair identifiziert. Diese Konfrontation mitanzusehen brachte sie gedanklich zurück zu ihrer eigenen Situation, in der sie sich noch vor einem Monat befunden hatte. Sie wusste genau, wie hilflos die Frau sich fühlte – gefangen zwischen widerspenstigen Kindern, die sich danebenbenahmen und den missbilligenden Blicken der Umstehenden, die sich genervt einmischten. Die Geschichte konnte nur übel ausgehen.

Sei froh, nicht in ihrer Situation zu sein, dachte Cassie. Du hast die Möglichkeit, deine Freiheit zu genießen und die Stadt zu erkunden.

Das Problem war, dass sie sich nicht frei fühlte, sondern ungeschützt und verletzlich.

Ihr ehemaliger Arbeitgeber würde bald wegen Mordes vor Gericht stehen und sie war die einzige, die die ganze Wahrheit kannte. Und – noch schlimmer – er hatte mittlerweile bestimmt herausgefunden, dass sie Beweise zerstört hatte, die er gegen sie hatte verwenden wollen.

Krank vor Angst fürchtete sie, er könnte Jagd auf sie machen.

Wer wusste schon, wie weit die Fühler eines wohlhabenden, verzweifelten Mannes reichten? Sie hatte geglaubt, sich problemlos in einer Millionenstadt verstecken zu können, doch die französischen Zeitungen mit ihren kreischenden Artikelüberschriften lauerten hinter jeder Ecke. Sie war sich der extensiven Kameraüberwachung bewusst, vor allem in der Nähe von Touristenattraktionen. Und die Mitte Londons war nichts anderes als eine große Show.

Cassie blickte nach oben und sah einen dunkelhaarigen Mann auf der Plattform neben dem Riesenrad. Sie hatte schon vor einer Weile seinen Blick auf sich gespürt und bemerkte nun, dass er erneut in ihre Richtung starrte. Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass es sich lediglich um einen Sicherheitsbeamten oder einen Polizisten in Zivil handelte. Aber es funktionierte nicht. Sie gab sich immer größte Mühe, sich von Polizisten fernzuhalten – egal ob in Zivil oder nicht. Genauso fürchtete sie potentielle Privatdetektive oder auch ehemalige Beamten, die sich möglicherweise für eine lukrativere Karriere als bezahlte Verbrecher entschieden hatten.

Cassie erstarrte, als der Mann sein Handy, oder vielleicht war es auch ein Walkie-Talkie, herauszog und mit dringlichem Gesichtsausdruck hineinzusprechen begann. Im nächsten Moment verließ er die Plattform und ging geradewegs auf sie zu.

Cassie entschied sich, London heute nicht von oben sehen zu müssen. Obwohl sie bereits Eintritt dafür bezahlt hatte, würde sie die Attraktion verlassen. Schließlich konnte sie ein anderes Mal zurückkehren.

Sie drehte sich um und bereitete sich darauf vor, die Menschenmenge zu durchqueren, als sie erschrocken sah, dass zwei weitere Polizisten hinter ihr erschienen waren.

Auch die Teenager-Mädchen hinter ihr hatten sich dazu entschlossen, zu gehen. Sie hatten sich bereits umgedreht und schoben sich durch die Warteschlange zum Ausgang. Cassie folgte ihnen, dankbar, dass sie den Weg für sie freimachten. Doch ihre Panik wuchs, als die Beamten ihr weiterhin folgten.

„Warten Sie, Ma’am! Bleiben Sie stehen!“, rief der Mann hinter ihr.

Sie würde sich nicht umdrehen. Nein. Sie würde schreien, sich an den anderen Menschen in der Schlange festhalten, betteln und flehen und sagen, dass sie die falsche Person hatten. Dass sie nichts mit dem mutmaßlichen Mörder Pierre Dubois zu tun und nie für ihn gearbeitet hatte. Sie würde alles tun, um einfach nur wegzukommen.

Aber als sie sich darauf vorbereitete, zu kämpfen, schob sich der Mann an ihr vorbei und packte die zwei Teenager-Mädchen vor ihr.

Die Mädchen begannen zu schreien und zu zappeln – genau wie sie es auch vorgehabt hatte. Zwei weitere Polizisten in Zivil erschienen, schoben die Beistehenden beiseite und packten die Mädchen am Arm, während ein uniformierter Polizist deren Taschen öffnete.

Zu Cassies Verwunderung beobachtete sie, wie der Polizist drei Handys und zwei Geldbeutel aus dem neonpinken Rucksack des größeren Mädchens zog.

„Taschendiebe. Bitte überprüfen Sie Ihre Taschen, meine Damen und Herren. Informieren Sie uns, wenn Ihnen etwas fehlt“, erklärte der Beamte.

Cassie griff nach ihrer Jackentasche und fühlte erleichtert, dass ihr Handy sicher in der Innentasche verstaut lag. Dann blickte sie auf ihre Handtasche und ihr Herz sank Richtung Magengegend, als sie sah, dass der Reißverschluss offen war.

„Mein Geldbeutel fehlt“, sagte sie. „Jemand hat ihn gestohlen.“

Atemlos vor Angst folgte sie den Beamten aus der Schlange heraus und um die Ecke in das kleine Büro der Sicherheitsbeamten. Die zwei Taschendiebe warteten bereits dort und weinten, während die Polizisten ihre Taschen ausleerten.

„Ist es dabei, Ma’am?“, fragte der Beamte in Zivil Cassie und deutete auf die Handys und Geldbeutel auf dem Tresen.

„Nein, das ist es nicht.“

Cassie wollte am liebsten selbst in Tränen ausbrechen. Sie sah zu, wie ein Beamte den Rucksack ausschüttelte und hoffte, ihr abgewetztes Lederportemonnaie herausfallen zu sehen, doch die Tasche war leer.

Der Polizist schüttelte genervt den Kopf.

„Sie geben ihre Beute durch die Schlange nach hinten, um sie zügig aus dem Sichtfeld zu schaffen. Da Sie vor den Dieben in der Schlange standen, wurde Ihr Geldbeutel vermutlich schon vor einer ganzen Weile entwendet.“

Cassie drehte sich um und starrte die Diebe an. Sie hoffte, alle Gefühle und Gedanken in ihren Blick packen zu können. Wäre der Beamte nicht danebengestanden, hätte sie sie beschimpft, sie gefragt, welches Recht sie hatten, ihr Leben zu ruinieren. Sie waren nicht am Verhungern, trugen neue Schuhe und Markenjacken. Vermutlich stahlen sie für den Nervenkitzel oder um Alkohol oder Drogen zu kaufen.

„Tut mir leid, Ma’am“, fuhr der Beamte fort. „Würden Sie bitte einige Minuten hier warten, wir müssen Ihre Aussage aufnehmen.“

Eine Aussage. Cassie wusste, dass das nicht möglich war.

Sie wollte unter keinen Umständen im Fokus der Polizei stehen. Sie wollte ihnen weder ihre Adresse geben, noch sagen, wer sie war. Und keinesfalls durften ihre Informationen in einem offiziellen Bericht stehen.

„Ich werde meiner Schwester nur eben sagen, dass ich hier bin“, log sie den Beamten an.

„Kein Problem.“

Er drehte sich weg und redete mit seinem Walkie-Talkie, während Cassie aus dem Büro eilte.

Ihr Geldbeutel war Geschichte, er war weg. Sie hatte keine Chance, ihn zurückzubekommen, selbst wenn sie hundert Polizeiberichte schreiben würde. Also entschied sie sich, das Nächstbeste zu tun: Das London Eye zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.

Der Ausflug war ein unglaubliches Desaster gewesen. Sie hatte am Morgen viel Geld abgehoben und nun waren außerdem ihre Bankkarten weg. Sie konnte keine Bank betreten, um Geld abzuheben, da sie ihren Ausweis nicht bei sich trug – ihr Reisepass befand sich im Gästehaus und sie hatte keine Zeit, ihn zu holen, weil sie geplant hatte, direkt nach dem Besuch beim London Eye mit ihrer Freundin Jess Mittag essen zu gehen.

Eine halbe Stunde später betrat Cassie den Pub, wo sie sich verabredet hatten. Sie war aufgewühlt, aufgebracht über den Verlust des Geldes und ziemlich genervt von London. Die Mittagshektik hatte noch nicht begonnen, also bat sie die Kellnerin, ihr einen Ecktisch zu reservieren, während sie das Badezimmer aufsuchte.

Sie starrte sich im Spiegel an, glättete ihr welliges, kastanienbraunes Haar und versuchte sich an einem fröhlichen Lächeln. Der Ausdruck fühlte sich ungewohnt an. Sie war sich sicher, seit ihrem letzten Treffen mit Jess abgenommen zu haben, außerdem glaubte sie, zu blass und zu gestresst auszusehen. Und das lag nicht nur an dem Trauma dieses Tages.

Als sie das Badezimmer verließ, sah sie gerade, wie Jess den Pub betrat.

Sie trug dieselbe Jacke, die sie vor einem Monat getragen hatte, als sie beide auf dem Weg nach Frankreich gewesen waren, um ihre Au-Pair-Stellen anzutreten. Sie zu sehen brachte alle Erinnerungen zurück. Cassie erinnerte sich daran, wie sie sich an Bord des Flugzeuges gefühlt hatte. Ängstlich, unsicher und mit böser Vorahnung gegenüber der Familie, der sie zugeteilt worden war. All das hatte sich als begründet erwiesen.

Jess dagegen war von einer liebevollen und freundlichen Familie angestellt worden und Cassie glaubte, sie sah sehr glücklich aus.

„Es ist schön, dich zu sehen“, sagte Jess und umarmte Cassie fest. „Ach wie wundervoll.“

„Das ist es. Aber ich stecke ein bisschen in der Klemme“, beichtete Cassie.

Sie erzählte von dem Taschendiebstahl.

„Nein! Das ist furchtbar. Welch Pech, dass dein Geldbeutel nicht unter den gefundenen war.“

„Könntest du mir Geld fürs Mittagessen und die Busfahrt zurück zu meinem Gästezimmer leihen? Ich kann ohne Pass nicht einmal Geld abheben. Ich werde es dir überweisen, sobald ich Internetzugang habe.“

„Natürlich. Und es ist keine Leihgabe, sondern ein Geschenk. Die Familie, für dich ich arbeite, ist wegen einer Hochzeit in London. Da heute alle in Winchester sind, um die Mutter der Braut zu besuchen, haben sie mich mit Geld überschüttet, um mir in London einen schönen Tag zu machen. Nach dem Essen gehe ich erstmal zu Harrods.“

Jess schüttelte ihr blondes Haar nach hinten und lachte, als sie ihr Bargeld mit Cassie teilte.

„Hey, sollen wir ein Selfie machen?“, schlug sie vor, doch Cassie lehnte ab.

„Ich trage absolut null Makeup“, erklärte sie und Jess lachte, während sie ihr Handy wieder wegsteckte.

Das fehlende Makeup war natürlich nicht der wahre Grund – sie gab ihr Bestes, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Als sie in London ankam, hatte sie zuerst die Einstellungen ihrer Social-Media-Kanäle verändert und auf privat gestellt. Gut meinende Freunde könnten schließlich etwas sagen, eine Spur, die sie nicht riskieren konnte. Niemand durfte wissen, wo sie war. Weder ihr Ex-Freund in den Staaten, noch ihr Ex-Arbeitgeber und sein Anwaltsteam in Frankreich.

Sie hatte geglaubt, sich nach ihrem Abschied von Frankreich sicher zu fühlen, hatte aber nicht realisiert, wie zugänglich und verbunden Europa war. Direkt in die Staaten zurück zu gehen, wäre vernünftiger gewesen.

„Du siehst fantastisch aus – hast du abgenommen?“, fragte Jess. „Und wie läufts mit deiner Familie? Du hattest dir damals Sorgen um deine Anstellung gemacht.“

„Es hat nicht funktioniert, ich arbeite also nicht mehr dort“, sagte sie vorsichtig und verschwieg die hässlichen Details, über die sie selbst nicht nachdenken wollte.

„Oh nein. Was ist passiert?“

„Die Kinder sind nach Südfrankreich gezogen und die Familie braucht meine Dienste nicht mehr.“

Cassie hielt sich so kurz wie möglich und hoffte, dass ihre langweilige Erklärung weitere Fragen abwenden würde. Schließlich wollte sie ihre Freundin nicht anlügen.

„Das passiert nun mal. Es hätte schlimmer kommen können. Gut, dass du nicht für die Familie gearbeitet hast, über die gerade jeder spricht – die, in der der Ehemann vor Gericht steht, weil er angeblich seine Verlobte ermordet hat.“

Cassie sah schnell auf den Tisch, um sich mit ihrem Gesichtsausdruck nicht zu verraten.

Zum Glück lenkte die Ankunft des Weines sie ab und nachdem sie ihr Essen bestellt hatten, wandte sich Jess anderen Themen zu.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie Cassie.

Die Frage beschämte Cassie, weil sie keine schlüssige Antwort hatte. Sie wünschte, Jess erzählen zu können, einen Plan zu haben und nicht einfach nur von einem Tag zum anderen zu leben. Sie wusste, dass sie ihre Zeit in Europa genießen sollte, aber wurde sich ihrer Situation wegen immer unsicherer.

„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich habe darüber nachgedacht, zurück in die Staaten zu gehen und an einem wärmeren Ort nach Arbeit zu suchen. Vielleicht in Florida. Es ist zu teuer, hier zu bleiben.“

Jess nickte verständnisvoll.

„Ich habe mir einen Wagen gekauft, als ich hier angekommen bin. Jemand im Gästehaus wollte ihn loswerden. Das hat mich einiges an Bargeld gekostet.“

„Du hast einen Wagen?“, fragte Jess. „Das ist großartig!“

„Das stimmt. Ich habe ein paar wundervolle Ausflüge aus der Stadt raus unternommen, aber Sprit und die täglichen Kosten sind höher als erwartet.“

Geld zu verschwenden ohne Aussicht auf Einkommen machte ihr zu schaffen und erinnerte sie an die Mühen, die sie erlebt hatte, als sie noch jünger war.

Sie hatte ihr Zuhause mit sechzehn Jahren verlassen, um ihrem gewalttätigen Vater zu entkommen und sich seither alleine durchgeschlagen. Sie hatte weder Sicherheiten noch Ersparnisse oder eine Familie, die sie unterstützen konnte. Ihre Mutter war tot und ihre ältere Schwester Jacqui einige Jahre vor ihr ausgezogen. Seither hatte sie sich nie mehr gemeldet.

Für Cassie ging es danach Monat für Monat ums Überleben. Manchmal war sie nur mit Hängen und Würgen über die Runden gekommen. Erdnussbutter am Monatsende? Nein – es war ihr Hauptnahrungsmittel gewesen, wenn die Zeiten schwer waren. Dass sie sich Jobs in Restaurants oder hinter der Bar suchte, hatte hauptsächlich daran gelegen, dass sie dort kostenlos essen konnte.

Nun machte es sie panisch, von einem schwindenden Notgroschen zu leben, der zu ihrem einzigen Besitz zählte. Dank dem Diebstahl war dieses finanzielle Polster sogar noch geschrumpft.

„Du könntest dir einen Job suchen, um dich über Wasser zu halten. Nur für eine Weile“, empfahl Jess, als könne sie Gedanken lesen.

„Das habe ich. Ich habe mit mehreren Restaurants geredet und mich sogar für Jobs in einigen Bars beworben, wurde aber gleich wieder weggeschickt. Man ist hier sehr pingelig, was den Papierkram angeht und ich habe lediglich ein Besuchervisum.“

„Restaurantarbeit? Warum nicht als Au-Pair?“, fragte Jess neugierig.

„Nein“, erwiderte Cassie sofort, bevor sie sich daran erinnerte, dass Jess nichts von den Umständen ihres letzten Jobs wusste. Sie fuhr fort.

„Wenn ich nicht arbeiten kann, kann ich nicht arbeiten. Kein Visum bedeutet kein Visum, außerdem ist eine Stelle als Au-Pair langfristiger.“

„Nicht unbedingt“, meinte Jess. „Das muss sie nicht sein. Und ich habe selbst Erfahrung damit gemacht, ohne Visum zu arbeiten.“

„Wirklich?“

Cassie wusste, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie würde nicht wieder als Au-Pair arbeiten. Trotzdem klang es interessant, was Jess zu sagen hatte.

„Restaurants und Pubs werden regelmäßig kontrolliert. Es ist ihnen unmöglich, jemanden ohne korrektes Visum anzustellen. Aber für eine Familie zu arbeiten ist anders, sozusagen eine Grauzone. Schließlich könntest du ja ein Freund der Familie sein. Wer kann schon entscheiden, ob du tatsächlich arbeitest? Ich habe letztes Jahr eine Weile bei einem Freund in Devon verbracht und dort für Nachbarn zeitweise auch Aufgaben in der Kindererziehung übernommen.“

„Das ist gut zu wissen“, sagte Cassie, hatte aber nicht die Absicht, diese Option weiter zu verfolgen. Mit Jess zu reden verfestigte sogar ihre Entscheidung, in die Staaten zurückzukehren. Wenn sie den Wagen verkaufte, hätte sie genug Geld, sich selbst über Wasser zu halten, bis sie wieder auf die Beine kam.

Auf der anderen Seite hatte sie erwartet, wesentlich mehr Zeit mit Reisen zu verbringen. Sie hatte sich auf ein ganzes Jahr unterwegs gefreut und gehofft, dadurch die Zeit zu gewinnen, die sie brauchte, um Abstand von ihrer Vergangenheit zu bekommen. Das war ihre Chance auf einen Neustart und eine Rückkehr als neuer Mensch. So bald schon nach Hause zurück zu gehen würde ihr das Gefühl geben, aufgegeben zu haben. Ihr war egal, was andere Leute von ihr dachten – aber sie selbst würde sich als Versager fühlen.

Die Kellnerin trug Teller, die turmhoch mit Nachos gefüllt waren, an ihren Tisch. Cassie hatte das Frühstück ausfallen lassen und machte sich hungrig über das Essen her.

Aber Jess hielt inne, runzelte die Stirn und zog ihr Handy aus der Tasche.

„Hm, ein ehemaliger Arbeitgeber hat mich gestern angerufen, um zu fragen, ob ich ihm erneut aushelfen könnte.“

„Wirklich?“, fragte Cassie, aber ihre Aufmerksamkeit galt dem Essen.

„Ryan Ellis. Ich habe letztes Jahr für ihn gearbeitet. Die Eltern seiner Frau waren dabei, umzuziehen, und sie brauchten jemanden für die Kinder, während sie unterwegs waren. Sehr liebe Menschen, genau wie die Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Wir hatten viel Spaß zusammen. Sie leben in einem hübschen Dorf am Meer.“

„Worum geht es bei dem Job?“

„Er sucht dringend nach jemandem, der für drei Wochen bei ihnen einzieht. Cassie, das könnte genau das Richtige für dich sein. Er hat gut bezahlt, mir Bargeld gegeben und sich kein bisschen für ein Visum interessiert. Er meinte, dass ich, wo ich ja von einer Au-Pair-Agentur akzeptiert worden war, offensichtlich eine vertrauenswürdige Person sein muss. Warum rufen wir ihn nicht an und finden mehr heraus?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das das Richtige für mich ist.“

Doch Jess schien entschlossen, Cassies Zukunft in die Hände zu nehmen und tippte auf ihrem Handy herum.

„Ich schicke dir trotzdem mal seine Nummer. Und ich werde ihm eine Nachricht schicken, dass du dich möglicherweise bei ihm melden wirst und ich dich sehr empfehlen kann. Man weiß nie – selbst, wenn du nicht für ihn arbeitest, kennt er vielleicht jemanden, der einen Haussitter braucht. Oder jemanden, der mit Hunden Gassi geht. Oder so.“

Cassie konnte ihre Logik nicht abstreiten und einen Moment später vibrierte ihr Handy und die Nummer erschien auf ihrem Display.

„Wie läuft deine Arbeit?“, fragte sie, als Jess ihre Nachrichten abgeschickt hatte.

„Könnte nicht besser sein.“ Jess schaufelte Guacamole auf einen Tortilla-Chip.

„Die Familie ist super. Sie sind sehr großzügig, was meine Freizeit angeht und geben mir immer wieder einen Bonus. Die Kids sind manchmal frech, aber nie böse und ich glaube, sie mögen mich auch.“

Sie senkte die Stimme.

„Letzte Woche, als die Hochzeitsgäste anreisten, wurde ich einem der Cousins vorgestellt. Er ist achtundzwanzig, umwerfend und Geschäftsführer einer IT-Firma. Ich glaube, er mag mich und es macht unheimlich Spaß, mal wieder zu flirten.“

Obwohl sie sich für ihre Freundin freute, konnte Cassie nicht anders, als auch einen Hauch der Eifersucht zu verspüren. Sie hatte insgeheim auf einen Traumjob wie diesen gehofft. Warum war bei ihr alles so schiefgelaufen? War es einfach nur Pech oder hatten ihre eigenen Entscheidungen dazu beigetragen?

Cassie erinnerte sich plötzlich daran, was Jess ihr im Flugzeug nach Frankreich erzählt hatte. Auch ihr erster Au-Pair-Job war nicht das Richtige gewesen, also hatte sie gekündigt und es erneut versucht.

Erst ihr zweiter Versuch war von Erfolg gekrönt gewesen und Cassie fragte sich, ob sie zu schnell aufgegeben hatte.

Als sie ihre Nachos aufgegessen hatten, sah Jess auf die Uhr.

„Ich muss los. Harrods wartet“, sagte sie. „Ich muss Geschenke für meine Familie zuhause kaufen und für die Kinder und für den umwerfenden Jacques. Was soll ich ihm schenken? Was gibt man jemandem, mit dem man flirtet? Für diese Entscheidung werde ich eine Weile brauchen!“

Cassie umarmte Jess zum Abschied und war traurig darüber, dass ihr Treffen bereits zu Ende war. Die nette Unterhaltung war eine willkommene Abwechslung gewesen. Jess wirkte so glücklich und Cassie verstand, warum. Sie wurde gebraucht und geschätzt, verdiente Geld, hatte einen Sinn im Leben und war sicher.

Jess fuhr nicht alleine in der Gegend herum, einsam, arbeitslos und mit der ständigen Paranoia, wegen einer Mordverhandlung gesucht zu werden.

Ein paar Wochen in einem abgelegenen Dorf waren möglicherweise genau, was sie brauchte. Und Jess hatte Recht. Dieser Anruf könnte auch andere Gelegenheiten mit sich bringen. Jedenfalls würde sie es nie herausfinden, wenn sie es nicht versuchte.

Cassie verließ den gut besuchten Pub auf der Suche nach einer ruhigeren Ecke. Sie sah sich nervös um, falls Taschen- oder Handydiebe in der Nähe waren.

Dann atmete sie tief durch und wählte die Nummer, bevor sie zu intensiv darüber nachdenken konnte.

So Gut Wie Verloren

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