Читать книгу So Gut Wie Verloren - Блейк Пирс - Страница 8

KAPITEL DREI

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Die Fahrt zu Ryan Ellis dauerte länger, als Cassie erwartet hatte. Es schien unmöglich, die Staus auf dem Weg nach Süden zu meiden und zwei Mal musste sie wegen Straßenarbeiten umständliche Umleitungen in Kauf nehmen.

Aufgrund der zusätzlichen Zeit auf der Straße ging ihr fast das Benzin aus. Mit dem letzten Geld, das ihr von Jess‘ Leihgabe übriggeblieben war, füllte sie den Tank. Sie machte sich Sorgen, Ryan könnte denken, sie habe ihre Meinung geändert. Also schrieb sie ihm eine Nachricht, um sich für die Verspätung zu entschuldigen. Sofort antwortete er: „Kein Problem, nimm dir Zeit und fahr vorsichtig.“

Sobald sie den Highway verlassen und die ländliche Gegend erreicht hatte, bot sich ihr eine idyllische Aussicht. Sie reckte den Hals und schielte über die getrimmten Hecken, um die Patchwork-Felder in jedem Farbton von Dunkelgrün bis Goldbraun sehen zu können. Dazwischen entdeckte sie immer wieder malerische Bauernhäuser und gewundene Flüsse. Die ordentliche Landschaft stimmte sie friedlich, obwohl sie wusste, dass die dichter werdenden Wolken Regen ankündigten. Sie hoffte, ihr Ziel noch vor dem Wolkenausbruch zu erreichen.

Mehr als sechs Stunden nach ihrem Verlassen Londons erreichte sie ein gemütliches, kleines Dorf an der Küste. Selbst im trüben Licht hatte es etwas Verzaubertes an sich. Ihr Wagen ratterte über Pflastersteinstraßen, wo Lücken in den Häuserreihen kurze Blicke auf den malerischen Hafen dahinter freigaben. Ryan hatte sie angewiesen, durch das Dorf hindurch und an der Küste entlang zu fahren. Das Haus befand sich einige Kilometer weiter und überblickte das Meer.

Sie parkte vor dem offenen Tor und starrte begeistert das Haus an – es war fast zu perfekt, um wahr zu sein. Es fühlte sich wie der Ort an, von dem sie immer geträumt hatte. Ein einfaches, aber gleichzeitig umwerfendes Zuhause mit weichen Linien und Holzdetails, das sich harmonisch in die Umgebung einfügte und sie an ein Schiff im Hafen erinnerte, wenn es nicht auf einer Klippe mit fantastischem Blick über den Ozean stehen würde. Der gepflegte Garten beherbergte sowohl eine Schaukel als auch eine Wippe. Beide waren schon etwas rostig und Cassie nahm an, dass der Zustand der Spielgeräte einen Hinweis auf das Alter der Kinder liefern könnte.

Cassie betrachtete sich im Rückspiegel und überprüfte ihr Haar. Die Wellen waren glatt und glänzend, nachdem sie ihnen am Morgen extra Zuwendung geschenkt hatte, und ihr korallenroter Lippenstift schimmerte makellos.

Sie lief über die gepflasterte Einfahrt zum Haus, wo ein Weg, der mit Blumenbeeten gesäumt war, auf sie wartete. Trotz der Jahreszeit blühte alles gelb und sie erkannte die Blüten des Geißblatts. Im Sommer war es vermutlich ein prächtiges Farbenspiel.

Die Haustüre öffnete sich, bevor sie dort angekommen war.

„Hallo Cassie. Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Ryan.“

Der Mann, der sie begrüßte, war einen Kopf größer als sie, gutaussehend und überraschend jung. Sein sandbraunes Haar war zerzaust und seine Augen leuchteten blau. Er lächelte und schien sich ehrlich zu freuen, sie zu sehen. Er trug ein verblasstes Eminem-T-Shirt und ausgetragene Jeans. Sie bemerkte ein Geschirrtuch, das an seine Gürtelschlaufe geklemmt war.

„Hi Ryan.“

Sie nahm seine ausgestreckte Hand. Sein Griff war warm und fest.

„Du hast mich dabei erwischt, die Küche für deine Ankunft sauber zu machen. Das Wasser kocht bereits – bist du Teetrinker? Ich weiß, eine sehr britische Angewohnheit. Aber ich habe auch Kaffee, wenn dir das lieber ist.“

„Tee ist prima“, sagte Cassie, der das bodenständige Willkommen gefiel.

Als er die Haustüre hinter ihr geschlossen hatte und sie in die Küche führte, dachte sie darüber nach, wie anders sie sich Ryan Ellis vorgestellt hatte. Er war freundlicher als erwartet und ihr gefiel es, dass er bereit dazu war, die Küche zu putzen.

Cassie erinnerte sich an ihre Ankunft in Frankreich. Schon beim Betreten des französischen Schlosses hatte sie die aufgeladene, ungemütliche und konfliktreiche Stimmung bemerkt. In diesem Haus war das Gegenteil der Fall.

Sie lief über den polierten Holzboden und war beeindruckt, wie sauber alles war. Auf dem kleinen Tisch im Flur standen sogar frische Blumen.

„Wir haben das Haus für dich auf Vordermann gebracht“, sagte Ryan, als könne er Gedanken lesen. „So gut hat es hier seit Monaten nicht ausgesehen.“

Zu ihrer Rechten sah Cassie ein Familienzimmer mit einer großen Schiebetür, die auf die Veranda führte. Gemütlich aussehende Ledermöbel und Gemälde von Schiffen an den Wänden machten das Zimmer einladend und geschmackvoll. Sie konnte nicht anders, als es mit dem pompösen Showroom-Dekor des Schlosses zu vergleichen, wo sie zuvor gearbeitet hatte. In diesem Haus schien eine richtige Familie zu leben!

Die Küche war ordentlich und sauber und Cassie bemerkte, wie qualitativ die Küchengeräte waren. Wasserkessel, Toaster und Küchenmaschine trugen Markennamen und sie erkannte die leuchtenden Designermuster aus einem Artikel, den sie auf dem Flug gelesen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie erstaunt sie von den Preisen gewesen war.

„Hast du schon zu Mittag gegessen?“, fragte Ryan, nachdem er ihr Tee eingeschenkt hatte.

„Nein, aber das ist in Ordnung …“

Er ignorierte ihre Proteste, öffnete den Kühlschrank und brachte einen Teller, der mit Obst, Milchbrötchen und Sandwiches beladen war, zum Vorschein.

„Am Wochenende ist es mir immer am liebsten, Snacks zur Verfügung zu haben. Ich wünschte, behaupten zu können, die Sachen extra für dich vorbereitet zu haben, aber wegen der Kinder ist das hier üblich. Dylan ist zwölf und beginnt gerade, wie ein Teenager zu essen. Madison ist neun und treibt viel Sport. Mir ist es lieber, wenn sie sich damit vollstopfen, als mit Fastfood oder Süßigkeiten.“

„Wo sind die Kinder?“, fragte Cassie und ihre Nervosität kam zurück. Bei einem so freundlichen und ehrlichen Dad waren sie vermutlich genau so, wie Jess sie beschrieben hatte, aber sie musste sich selbst vergewissern.

„Sie sind nach dem Mittagessen mit dem Rad aufgebrochen, um einen Freund zu besuchen. Ich habe ihnen gesagt, den Nachmittag auszunutzen, bevor sich das Wetter verschlechtert. Sie müssten jede Minute zurück sein – falls nicht, muss ich sie eventuell mit dem Land Rover einsammeln gehen.“

Ryan blickte aus dem Fenster zum immer dunkler werdenden Himmel.

„Naja, wie bereits gesagt, brauche ich in nächster Zeit wirklich Hilfe. Ich bin jetzt alleinerziehend und die Kinder brauchen so viel Ablenkung wie möglich. Leider kann ich gegen die Deadline bei der Arbeit nichts ausrichten.“

„Was machst du beruflich?“, fragte Cassie.

„Mir gehört eine Flotte von Fischer- und Freizeitbooten, die vom Hafen in der Stadt aus betrieben wird. Zu dieser Jahreszeit werden die Boote gewartet und ich habe derzeit eine Truppe vor Ort, die sich um die Reparaturen kümmert. Es gibt viel zu tun und die ersten Stürme der Saison ziehen bereits auf. Deshalb ist meine Zeit so knapp und die derzeitigen Umstände sind natürlich alles andere als hilfreich.“

„Es muss furchtbar sein, eine Scheidung mitgemacht zu haben, vor allem jetzt.“

„Es war keine einfache Zeit.“

Als Ryan sich vom Fenster abwandte, bemerkte Cassie im sich verändernden Licht, dass er nicht nur attraktiv, sondern sogar außerordentlich gutaussehend war. Seine Gesichtszüge waren kräftig und markant und seine definierten Armmuskeln deuteten darauf hin, dass er trainierte.

Cassie schalt sich dafür, das Aussehen des armen Mannes zu begaffen, während er sich selbst in der emotionalen Hölle befand. Doch sie musste zugeben, dass er unwiderstehlich gutaussehend war – so sehr, dass sie ihren Blick von ihm losreißen musste.

„Ryan, das einzige Problem ist, dass ist gerade kein gültiges Arbeitsvisum besitze. Ich habe eines für Frankreich und die offiziellen Genehmigungen der Au-Pair-Agentur, aber mir war nicht klar, dass die Gesetze hier anders sind.“

„Du wurdest mir von einer Freundin empfohlen“, sagte Ryan lächelnd. „Das bedeutet, du kannst als Gast bei uns bleiben. Ich werde dich bar und steuerfrei bezahlen, wenn das für dich in Ordnung ist.“

Cassie fühlte eine Woge der Erleichterung über sich schwappen. Ryan verstand ihre Situation und hatte keine Probleme damit, ihr entgegenzukommen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen und ihr wurde klar, dass dies vermutlich sogar der entscheidende Faktor war. Sie musste sich davon abhalten, den Job an Ort und Stelle anzunehmen und erinnerte sich daran, vorsichtig zu sein. Bevor sie sich festlegte, würde sie die Kinder kennenlernen wollen.

„Wie lange wirst du mich brauchen?“

„Maximal für drei Wochen. Das wird mir Zeit geben, das Projekt fertigzustellen. Danach geht es für uns in die Ferien, wo wir als mehr oder weniger neue Familie hoffentlich neu zusammenfinden werden. Die Leute sagen, dass eine Scheidung die aufreibendste Erfahrung des Lebens sein kann und ich denke, sowohl die Kinder als auch ich selbst können das bestätigen.“

Cassie nickte mitfühlend. Sie war sich sicher, dass seine Kinder unter der Situation litten und fragte sich, wie viel Ryan und seine Frau gestritten hatten. Natürlich hatte es Konflikte gegeben, aber sie wusste nicht, ob diese als laute Schuldzuweisungen oder unangenehmes, angespanntes Schweigen ausgetragen worden waren.

Da sie als Kind beides erlebt hatte, war sie sich nicht sicher, was schlimmer war.

Als Cassies Mutter noch am Leben gewesen war, hatte sie es geschafft, das Temperament ihres Vaters zu kontrollieren. Cassie erinnerte sich an die angespannte Stille und hatte gelernt, einen feinfühligen Sinn für Konflikte zu entwickeln. Wenn sie einen Raum betrat, konnte sie sofort erkennen, ob Streit in der Luft lag. Die Funkstillen waren am schädlichsten und machten allen emotional am meisten zu schaffen, da sie niemals endeten.

Ein lauter Streit dagegen endete früher oder später, selbst wenn dabei Gläser zerbrochen wurden oder der Notruf gewählt worden war. Aber auch das sorgte für Traumata und unheilbare Narben. Schreien und körperliche Gewalt hatten auch eine Angst vor Kontrollverlust hervorgerufen – Vertrauen war dadurch unmöglich geworden.

Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie genau das bei ihrem Vater erlebt.

Cassie sah sich in der fröhlichen und ordentlichen Küche um und versuchte, sich vorzustellen, was hier zwischen Ryan und seiner Frau geschehen war. Ihrer Erfahrung nach fanden die schlimmsten Konflikte in der Küche oder im Schlafzimmer statt.

„Es tut mir so leid, dass du das hast mitmachen müssen“, sagte sie leise.

Ryan sah sie an und als sie seinen Blick erwiderte, starrte sie in helle, leuchtend blaue Augen.

„Cassie, du scheinst zu verstehen“, sagte er.

Sie hatte das Gefühl, dass er noch etwas hinzufügen wollte, doch in diesem Moment öffnete sich die Haustür.

„Die Kinder sind zuhause, genau rechtzeitig“. Er klang erleichtert.

Cassie blickte aus dem Fenster, wo die Regentropfen bereits gegen das Glas prasselten. Als die Tür zuging, verwandelten sich die Tropfen in einen ordentlichen, kalten Winterregen.

„Hey Dad!“

Schritte ertönten auf dem Holzboden und ein dünnes, junges Mädchen mit Radlerhosen und einer grünen Trainingsjacke rannte in die Küche. Sie blieb stehen, als sie Cassie sah, betrachtete sie von Kopf bis Fuß und kam dann herüber, um ihr die Hand zu geben.

„Hallo. Bist du die Lady, die nach uns sehen wird?“

„Mein Name ist Cassie. Bist du Madison?“, fragte Cassie.

Madison nickte und Ryan zerzauste das glänzende, braune Haar seiner Tochter.

„Cassie überlegt noch, ob sie für uns arbeiten will. Was denkst du? Versprichst du, dich von deiner besten Seite zu zeigen?“

Madison zuckte mit den Schultern.

„Du sagst immer, wir sollen keine Versprechungen machen, dir wir nicht halten können. Aber ich werde es versuchen.“

Ryan lachte und Cassie lächelte über die kecke Ehrlichkeit der Antwort.

„Wo ist Dylan?“, fragte Ryan.

„In der Garage und ölt sein Fahrrad. Es hat ganz schön gequietscht, als wir den Berg hinaufgefahren sind und dann hat er auch noch eine Kette verloren.“ Madison holte tief Luft und ging dann zur Küchentür.

„Dylan!“, rief sie. „Komm her!“

Cassie hörte ein entferntes Rufen. „Komm schon!“

„Das wird ewig dauern“, sagte Madison. „Wenn er an den Fahrrädern arbeitet, kann er nicht mehr aufhören.“

Sie erblickte den Snack-Teller und ging mit leuchtenden Augen eilig darauf zu. Als sie das Essen betrachtete, seufzte sie genervt.

„Dad, du hast Eier-Brote gemacht.“

„Ist das ein Problem?“, fragte Ryan mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Du kennst meinen Standpunkt Eiern gegenüber. Das ist wie Erbrochenes auf einem Brot.“

Sie nahm sich vorsichtig ein Milchbrötchen von der gegenüberliegenden Seite des Tellers.

„Erbrochenes auf einem Brot?“, Ryans Stimme klang gleichzeitig belustigt und entsetzt. „Maddie, so etwas solltest du vor Gästen nicht sagen.“

„Pass auf, Cassie. Das Eierzeugs klebt an allem“, warnte Madison und sah ihren Vater reuelos an.

Cassie hatte plötzlich das seltsame Gefühl des Dazugehörens. Diese Neckereien waren genau das, was sie sich erhofft hatte. Bisher schien es sich um eine normale, glückliche Familie zu handeln, die sich neckte und füreinander da war, auch wenn bestimmt jedes Familienmitglied seine Eigenarten und Schwierigkeiten hatte. Ihr wurde nun klar, wie angespannt sie darauf gewartet hatte, dass etwas schiefgehen könnte.

Aus Verlegenheit hatte sie sich selbst noch nichts zu essen genommen, realisierte nun jedoch, wie hungrig sie war. Um sich stattdessen nicht mit einem hörbar knurrenden Magen zu blamieren, entschied sie sich dazu, zuzugreifen.

„Ich werde mutig sein und mich an dem Sandwich versuchen“, meldete sie sich freiwillig.

„Danke. Es freut mich zu sehen, dass jemand meine kulinarischen Fähigkeiten zu schätzen weiß“, sagte Ryan.

„Du meinst wohl deine Fähigk-EI-ten“, fügte Madison hinzu und Cassie lachte.

Sie drehte sich Cassie zu und sagte: „Dad kümmert sich immer ums Essen. Aber er hasst es, abzuspülen.“

„Das stimmt“, meinte Ryan.

Madison holte erneut tief Luft und wandte sich zur Küchentür.

„Dylan“, schrie sie.

Dann sagte sie mit normaler Stimme: „Oh, da bist du ja.“

Ein großer, schlaksiger Junge betrat das Zimmer. Er hatte das braune, glänzende Haar seiner Schwester und Cassie fragte sich, ob er gerade einen Wachstumsschub hinter sich hatte. Er schien nur aus Gliedmaßen und Sehnen zu bestehen.

„Hi, freut mich, dich kennenzulernen“, sagte er abwesend zu Cassie.

In seinen jungenhaften Zügen erkannte Cassie die Ähnlichkeit zu Ryan. Beide hatten sie markante, starke Kiefer und ausgeprägte Wangenknochen. In Madisons hübschem, ovalen Gesicht sah sie weniger von Ryan und fragte sich, wie die Mutter der Kinder wohl aussehen musste. Gab es irgendwo im Haus Familienfotos? Oder war die Scheidung so bitter gewesen, dass diese entfernt worden waren?

„Gib ihr die Hand“, erinnerte Ryan seinen Sohn, doch Dylan drehte seine Handflächen nach oben und Cassie sah, dass sie schwarz vor Öl waren.

„Oh, oh. Komm hier rüber.“

Ryan eilte zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und gab eine großzügige Menge Spülmittel in die Hände seines Sohnes.

Während Ryan abgelenkt war, nahm Cassie sich ein weiteres Sandwich.

„Was war mit deinem Fahrrad los?“, fragte Ryan.

„Die Kette ist abgesprungen, als ich den Gang gewechselt habe“, erklärte Dylan.

„Hast du es repariert?“ Ryan beobachtete kritisch den Prozess des Händewaschens.

„Ja“, antwortete Dylan.

Cassie erwartete eine ausführlichere Erklärung, doch Dylan schwieg. Ryan gab ihm ein Handtuch, er trocknete seine Hände, gab Cassie kurz und formell die Hand und wandte sich dann den Snacks zu.

Während er aß, sprach Dylan nicht viel, aber Cassie beobachtete beeindruckt, wie viel er in der kurzen Zeit runterschlingen konnte. Der Teller war fast leer, als Ryan ihn zurück in den Kühlschrank stellte.

„Du wirst beim Abendessen keinen Hunger mehr haben, wenn du so weiter isst und ich habe vor, Spaghetti Bolognese zu machen“, sagte er.

„Spaghetti geht immer“, versprach Dylan.

Ryan schloss die Kühlschranktür.

„Ok, Kinder. Ihr solltet euch jetzt umziehen, sonst bekommt ihr eine Erkältung.“

Als sie verschwunden waren, drehte er sich wieder Cassie zu und sie bemerkte, dass er nervös klang.

„Was denkst du? Entsprechen die beiden deinen Erwartungen? Es sind tolle Kinder, aber auch sie haben ihre Momente.“

Cassie hatte die beiden sofort ins Herz geschlossen. Vor allem Madison schien ein unproblematisches Kind zu sein und sie konnte sich nicht vorstellen, mit dem gesprächigen Mädchen Unterhaltungsschwierigkeiten zu haben. Dylan kam ihr komplexer, stiller und introvertierter vor. Aber das konnte auch daran liegen, dass er sich zum Teenager zu entwickeln schien. Es war nicht überraschend, dass er einem dreiundzwanzigjährigen Au-Pair nicht viel zu sagen hatte.

Ryan hatte recht. Seine Kinder schienen verträglich zu sein. Außerdem war er als unterstützender Vater sicherlich bereit, ihr bei Schwierigkeiten zur Seite zu stehen.

Damit war ihre Entscheidung getroffen. Sie würde den Job annehmen.

„Du hast wundervolle Kinder. Ich würde mich freuen, die nächsten drei Wochen für dich arbeiten zu dürfen.“

Ryans Augen leuchteten auf.

„Oh, das ist fabelhaft. Weißt du, Cassie, als ich dich zum ersten Mal gesehen, nein, mit dir gesprochen habe, hoffte ich bereits, dass du einwilligen würdest. Deine Energie fasziniert mich und ich würde sehr gerne erfahren, was du mitgemacht hast, was dich geformt hat. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber du wirkst so klug und reif. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass meine Kinder bei dir in ausgezeichneten Händen sein werden.“

Cassie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ryans Lob beschämte sie.

Ryan sprach weiter. „Die Kinder werden begeistert sein, ich habe bereits gemerkt, dass sie dich mögen. Ich gebe dir nun am besten eine Tour des Hauses und dann kannst du dich einrichten. Hast du deine Sachen dabei?“

„Ja, das habe ich.“

Der Regen hatte eine kurze Pause eingelegt, also ging Ryan mit ihr zum Wagen, lud lässig ihre schweren Taschen aus und trug sie in den Flur.

„Wir haben nur eine Garage, die dem Land Rover gehört, aber das Parken an der Straße ist absolut sicher. Das Haus ist einfach aufgebaut. Wir haben das Wohnzimmer zur Rechten, die Küche geradeaus und links befindet sich das Esszimmer, das wir nur selten verwenden. Deshalb ist daraus jetzt ein Raum zum Puzzeln, Lesen und Spielen geworden. Wie man sehen kann.“

Er schielte seufzend hinein.

„Wer ist der Puzzle-Enthusiast?“

„Madison. Sie liebt es, mit ihren Händen zu arbeiten und bastelt unheimlich gerne.“

„Und sie ist auch noch sportlich?“, fragte Cassie. „Ein Multi-Talent also.“

„Maddies Schwachstelle sind die Hausaufgaben, fürchte ich. In schulischen Angelegenheiten braucht sie Hilfe, vor allem in Mathe. Es wäre toll, wenn du ihr dabei helfen könntest und wenn es auch nur moralische Unterstützung ist.“

„Was ist mit Dylan?“

„Er ist ein leidenschaftlicher Radfahrer, interessiert sich aber für keinen anderen Sport. Mechanik ist sein Steckenpferd und in der Schule hat er nur Einsen. Dafür ist er allerdings nicht gerade gesellig. Wenn er sich unter Druck gesetzt fühlt, kann er auch ziemlich launisch werden. Ein schwieriger Balanceakt also.“

Cassie nickte dankbar, so viel über ihre neuen Schützlinge erfahren zu haben.

„Hier ist dein Zimmer, dort können wir deine Taschen abstellen.“

Aus dem kleinen Zimmer hatte man eine wundervolle Aussicht über das Meer. Es war in Türkis und Weiß dekoriert worden und sah ordentlich und einladend aus. Ryan stellte ihre große Tasche an den Fuß des Bettes und die kleinere auf einen gestreiften Sessel.

„Das Gästebad ist gleich hier den Flur runter. Madisons Zimmer befindet sich dann zur Rechten und Dylans zur Linken. Ganz am Ende ist mein Reich. Und dann gibt es noch etwas, das ich dir zeigen möchte.“

Er führte sie den Flur entlang ins Familienzimmer. Hinter den Glastüren sah Cassie einen überdachten Balkon mit schmiedeeisernen Möbeln.

„Wow“, flüsterte sie. Der Ausblick hier war atemberaubend. Der Ozean lag tief unter ihnen und sie konnte die Wellen hören, die gegen die Felsen schlugen.

„Das ist mein Ort der Ruhe. Hier sitze ich jeden Abend nach dem Essen, um abzuschalten, für gewöhnlich mit einem Glas Wein. Du bist herzlich eingeladen, dich jederzeit zu mir zu gesellen – der Wein ist optional, windgeschützte Kleidung verpflichtend. Der Balkon hat zwar ein solides Dach, aber keine Verglasung. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, aber festgestellt, es nicht übers Herz zu bringen. Hier draußen fühlt man sich dem Meer einfach so nahe. Das Geräusch des Ozeans und an stürmischen Abenden auch mal eine Brise Seewasser. Sieh es dir selbst an.“

Er öffnete die Schiebetür.

Cassie ging auf den Balkon und bis zur Brüstung, an der sie sich festhielt.

In dem Moment wurde ihr schwindelig und plötzlich befand sich unter ihr nicht länger der Strand von Devon.

Sie beugte sich über die Steinbrüstung und betrachtete entsetzt den entstellten Körper unter sich. Panik und Verwirrung überkamen sie.

Sie konnte den kalten Stein unter ihren Fingern spüren, erinnerte sich an den Hauch von Parfum, der noch immer im opulenten Schlafzimmer verweilte. Sie erinnerte sich an die Übelkeit, die in ihr getobt hatte, daran, wie ihre Beine so weich geworden waren, dass sie geglaubt hatte, zusammenzubrechen. Dann daran, wie ihre Erinnerungen ihr nicht erlaubt hatten, die Ereignisse der vergangenen Nacht erneut abzuspielen. An ihre Albträume, die schon immer schlimm gewesen waren, sich nun intensiviert hatten und nach dem schockierenden Anblick lebhafter waren als je zuvor. Sie erinnerte sich daran, nicht in der Lage gewesen zu sein, Traum und Erinnerung auseinanderzuhalten.

Cassie hatte geglaubt, ihr angsterfülltes Ich zurückgelassen zu haben, aber nun kam die Dunkelheit zurück, um sie zu verschlucken. Und sie verstand, dass die Erinnerungen genau wie die Angst ein Teil ihrer Selbst geworden waren.

„Nein“, wollte sie schreien, aber ihre eigene Stimme schien aus der Ferne zu kommen. Einem weitentfernten Ort. Sie brachte lediglich ein kaum hörbares Flüstern zustande.

So Gut Wie Verloren

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