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KAPITEL SIEBEN

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Zoe fuhr auf den Campusparkplatz. Zu dieser Zeit, als der Abend sich rasch niedersenkte, war er ziemlich voll – die Autos gehörten den Studenten, die in den diversen Wohnheimen und Wohnungen der Umgebung lebten. Jedes hatte einen Aufkleber mit einer Universitätsparkerlaubnis auf der Windschutzscheibe. Zoes Auto hatte etwas Besseres – einen FBI-Aufkleber.

„Lies es mir noch mal vor?“ bat Zoe. Sie war hinsichtlich Shelleys Theorie immer noch unsicher. Über eine schlechte Note wütend zu sein, war eine Sache, aber wütend genug, um zu töten?

Shelley holte die Email ohne den leisesten Seufzer der Frustration wieder auf ihrem Telefon hoch, was ihr anzurechnen war. Sie hatte den Screenshot gespeichert und als Beweis mitgebracht – einen Beweis, den sie brauchen würden, wenn sie den Studenten konfrontieren wollten, der sie geschickt hatte.

„‚Professor‘“, las sie vor. „‚Ich kann nicht glauben, dass Sie mich haben durchfallen lassen. Meinen Sie das echt ernst? Ich habe mir verdammte Mühe mit dieser Hausarbeit gegeben und Sie haben einfach entschieden, mich aus dem Kurs zu werfen! Lehrer sollen helfen und unterstützen. Danke für ein beschissenes Garnichts. Sie sind der schlimmste Professor, den ich je hatte. Ich hoffe, Sie werden gefeuert. Ich bin nicht der Einzige, der Sie total hasst. Sie werden über glühende Kohlen laufen, wenn der Dekan sich unsere Beschwerden angehört hat. Versuchen Sie, heute gut zu schlafen, Arschloch.‘“

Zoe war mit den Gedanken schon woanders, als Shelley fertig war. Sie hatte es schon einige Male gehört und dieses erneute Mal hatte ihre Meinung nicht geändert. Es war studentisches Wutgeschrei, nichts weiter. Drohungen gegen seine Karriere, nicht gegen sein Leben.

Ganz davon abgesehen, dass der Student Englisch studierte, nicht Mathematik. Die Verbindung war nicht eng genug. Wie konnte dieser kaum des schriftlichen Ausdrucks fähige Student gewusst haben, wie man komplizierte Gleichungen schreibt? Kompliziert genug, um Experten vor Rätsel zu stellen?

Und außerdem, wenn der Junge auf den Professor sauer war, erklärte es nicht, warum er es auf das erste Opfer – den Studenten – abgesehen haben sollte.

„Nun?“ fragte Shelley.

Zoe realisierte, dass sie schweigend dagesessen und nicht auf Shelleys Vorlesen reagiert hatte. Sie zuckte jetzt mit den Schultern. „Klingt nach nichts.“

„Komm schon, er bedroht den Professor ganz offen, Z“, sagte Shelley. „Und dieser Hinweis auf andere verärgerte Studenten – was, wenn er andere kennt, die es vielleicht getan haben? Wir müssen ihn zumindest befragen.“

Zoe starrte hinaus auf den dunklen Campus, die Arme vor dem Steuer über der Brust verschränkt. „Wenn du meinst.“

Es war offensichtlich nicht die Antwort, die Shelley erhofft hatte, denn sie gab einen gereizten kehligen Laut von sich und drehte sich weg.

Ihr Telefon summte fast genau in diesem Moment und sie sah hinunter, um die eingehende Mitteilung zu lesen. „Ich habe gerade eine Mail von einer Sekretärin in der Zulassungsstelle bekommen. Sie hat Jones’ Stundenplan rübergeschickt.“

„Jones?“ unterbrach Zoe.

Diesmal seufzte Shelley und rollte mit den Augen. „Jensen Jones, der Student, wegen dem wir hier sind. Ich weiß, du glaubst nicht, dass es eine wirkliche Spur ist, aber ich hatte gedacht, dass du wenigstens aufmerksam bist.“

Zoe zuckte erneut mit den Schultern, entschuldigte sich nicht. Sie hatte bessere, wichtigere Dinge, auf die sie sich konzentrieren musste. Die Gleichungen. Die Tatsache, dass sie bei deren Lösung immer noch keinen Schritt weiter war. Es war eine Qual, darauf zu warten, dass Dr. Applewhites Kontakte sie sich ansahen und sich bei ihr meldeten.

„Das hier ist jedenfalls wichtig. Jones hat auch einen Physikkurs belegt. Und rate, wer der Tutor für diesen Kurs war?“

Zoe starrte sie unbewegt an. Sie würde dieses Spielchen nicht mitspielen.

Shelley fuhr unverdrossen fort: „Cole Davidson. Auch bekannt als Mordopfer Nummer Eins. Jones hatte eine persönliche Verbindung zu beiden Opfern.“

„Aber er studiert nicht Mathematik.“ Zoe konnte es nicht länger zurückhalten. Sie weigerte sich zu glauben, dass die Gleichungen einfach nur beliebig waren, nur Kritzeleien, die sie ablenken sollten. Sie mussten in dem Fall eine Schlüsselrolle spielen. Sie mussten.

Denn wenn sie das nicht taten, war Zoe in diesem Fall nicht so nützlich wie sie geglaubt hatte und alles wäre nur ein langweiliger Durchschnittsmordfall. Sie konnte nicht genau sagen, warum sie diese Möglichkeit so sehr störte. Sie wusste nur, dass sie diese Gleichungen lösen und diese der Schlüssel sein mussten.

„Schau, ich weiß, dass du dich auf deinen höheren Rang berufen könntest, wenn du wolltest. Du bist die vorgesetzte Agentin. Aber ich möchte nicht mit einem ungelösten Fall enden und nicht sagen können, dass wir jeden Stein umgedreht haben. Ich werde hineingehen und ihn befragen“, sagte Shelley entschieden, öffnete ihre Tür und stieg aus dem Auto.

Zoe blieb einen Moment sitzen, seufzte dann und öffnete ihre Tür. Letztlich waren sie Partner. Sie arbeiteten zusammen. Auch wenn Zoe keineswegs glaubte, dass dies hier notwendig war, sollte sie  ihre Partnerin trotzdem unterstützen.

Also würde sie das auch tun.

Sie holte Shelley, die so schnell wie möglich über den Campus ging, einige Minuten später ein. Eine knisternde Energie ging von der anderen Frau aus, eine Wut, die sich wie die Borsten eines Stachelschweins aufsträubte. Für Zoe war es eine bekannte Reaktion. Sie rief oft Wut bei anderen hervor, häufig ohne zu wissen, was sie falsch gemacht hatte.

Diesmal wusste sie es wenigstens.

„Ich akzeptiere deine Spur“, sagte Zoe. „Wenn du das Gefühl hast, dass wir durch den Jungen was herausfinden, dann stehe ich hinter dir.“

Shelleys Schritte strauchelten ein wenig, bevor sie wieder ihren Kurs aufnahm. „Danke“, sagte sie, ein wenig zu steif. Zoe begriff, dass sie immer noch aufgebracht war, aber warum? Sie hatte Shelley gegeben, was sie wollte, oder?

Solche Fragen würden später, oder vorzugsweise gar nicht, geklärt werden, denn sie waren vor einem Wohnblock am Rand des Campus angekommen. Shelley hatte die Kartenapp auf ihrem Telefon geschlossen, was Zoe zeigte, dass sie wohl da waren. Die aus den Fenstern dröhnende Musik, selbst wenn diese geschlossen waren, lag über der im Gesetz zur Ruhestörung festgelegten Grenze für im öffentlichen Raum hörbare Lautstärke . Das merkte sie auch hier draußen auf der Straße sofort.

Ein Collegestudent, vom Aussehen her höchstens neunzehn Jahre alt, taumelte aus der Tür, als sie sich näherten. Er hatte einen roten Becher in seiner Hand und hantierte mit einer Zigarette. Als er aufblickte und die beiden Frauen auf sich zukommen sah, weiteten sich seine Augen zu fast komischer Größe. Die dreißig Milliliter Flüssigkeit in seinem Becher wurden über seine Schulter ausgekippt, landeten auf einigen Büschen,und er ging schnell weg, umklammerte den jetzt leeren Plastikbehälter, als ob sein Leben davon abhing, diesen von ihnen fernzuhalten.

„Party“, sagte Zoe, erkannte die Anzeichen.

Shelley holte ihr Telefon wieder hervor und brachte eine Fotografie von Jensen Jones auf den Bildschirm, die von seiner Collegeanmeldung stammte. Er war jung, hatte ziemlich regelmäßige Gesichtszüge. Braune Haare, breite Nase, braune Augen. Überhaupt nichts Auffälliges.

Was angesichts von Shelleys nächsten Worten ungünstig war. „Wir müssen unsere Augen nach ihm offenhalten. Ich nehme an, die meisten von ihnen werden sich verteilen und wegrennen, sobald wir da sind. Wir sehen offensichtlich nach FBI, oder zumindest Polizei, aus. Wir müssen ihn vielleicht erwischen, während er versucht, abzuhauen.“

„Er gibt eine Party direkt nachdem er zwei Leute ermordet hat?“ fragte Zoe. „Würde man das wirklich als normale Reaktion betrachten?“

„Nicht normal, nein, aber es ist vorgekommen“, sagte Shelley. „Ich könnte einige Fälle nennen, aber es wahrscheinlich effizienter, wenn wir ihn uns greifen und es abklären.“

„Nach dir“, schlug Zoe vor und deutete auf die Tür.

Shelley holte tief Luft, als ob sie sich Kraft gab, nickte dann. „Gehen wir.“

Hinter der Tür des Wohnblocks war der Lärm wesentlich lauter. Es komplizierte ihre Suche, dass es alleine im Erdgeschoss drei offene Türen gab – die Bewohner jeder Wohnung öffneten ihre Privatbereiche, um Teil der Party zu sein. Diese hatte sich über den Flur ausgedehnt, die Treppen hinauf und – wenn man von der Vielzahl an Teenagern ausging, die sich in alle Richtungen bewegten – durch jede Wohnung des Gebäudes.

Zoes und Shelleys Erscheinen wurde nicht sofort bemerkt. Einige Studenten sahen sie und schoben sich an ihnen vorbei die Tür hinaus, wollten sich zweifellos so weit wie möglich von den Schwierigkeiten entfernen.

Aber dann passierte das Schlimmstmögliche: einer der jungen Leute, ein sportlicher 1,80 m großer Kerl mit der Figur eines Quarterbacks, rief panisch aus: „Die Bullen sind hier!“

Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Buschfeuer im Gebäude und Panik setzte ein. Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, inkognito zu bleiben. Zoe griff nach ihrer Marke in der inneren Tasche und schwenkte sie durch die Luft. „FBI. Diese Party ist zu Ende! Jetzt!“

Die Wirkung setzte umgehend und spürbar ein. Dreißig Studenten rannten rasch hintereinander an ihr vorbei, alle aus den Zimmern der unteren Wohnungen. Oben verbreitete sich die Nachricht ebenfalls und Leute polterten hinunter, verschütteten ihre Biere auf dem Teppich, als sie stolperten und torkelten.

Zoe wartete in der Halle, während Shelley nacheinander in alle drei Erdgeschosswohnungen ging, dadurch noch mehr Studenten durch die Gegend jagte. Sogar von ihrem Standort aus, an dem sie keinen Versuch machte, einen der an ihr vorbeirennenden Studenten aufzuhalten, konnte Zoe erkennen, dass Chaos herrschte. Zerknüllte rote Becher, heruntergefallenes Essen und verschüttete Getränke und zweifellos der gelegentliche Fleck Erbrochenes bedeckten jede sichtbare Oberfläche. Es war eine große Sache gewesen – die legendäre Art Party, von der die jungen Leute noch monatelang redeten. Zu schade, dass sie es beendet hatten.

Zoe konnte nicht behaupten, dass sie eine Art deplatzierte Nostalgie fühlte. Sie war selten zu irgendwelchen Partys eingeladen worden und hatte noch seltener an ihnen teilgenommen. Damals, wie jetzt, war diese Art Party zu überfordernd. Der Lärm, die Leute überall, die Trunkenheit und Verführung des verbotenen Alkohols – und, wenn man nach den Gerüchen ging, auch anderen Substanzen.

Auch mit dem Vorteil zusätzlicher Jahre der Erfahrung konnte Zoe nicht mehr tun, als sich auf die Gesichter jener zu konzentrieren, die an ihr vorbeirannten. Sie verglich jedes davon mit dem jungen Kerl auf dem Foto, aber   obwohl mehrere ihm sehr ähnlich sahen, war keiner von ihnen der echte Jensen Jones. Sie fühlte sich wie ein Stein in der Mitte eines Flusses, der von der Strömung umspült wurde. Es gab reichlich interessante Dinge, die ihr ins Auge fielen, Winkel und Figuren und Zeichen, aber sie rasten so schnell vorbei, dass sie sie kaum registrieren konnte, bevor sie weg waren.

Shelley kam kopfschüttelnd aus dem dritten Zimmer. Zoe richtete ihre Augen wieder auf die Treppen, gerade rechtzeitig, um jemanden dort herunterlaufen zu sehen. Eine junge Frau, die eine Sammlung von zwölf zusammengebundenen Flaschenverschlüssen um den Hals trug, welche gegeneinander klapperten, während sie lief–

„Da!“ rief Shelley.

Zoe riss ihre Aufmerksamkeit zu spät von dem Mädchen los, sah nur eine verschwommene Gestalt an sich vorbeilaufen. Angesichts der Richtung, in die Shelley zeigte, wusste Zoe, dass es ihr Mann gewesen sein musste. Sie fluchte leise – er war schon durch die Türe.

Sie drehte sich um und raste ihm nach, behielt ihn im Blick, während er weglief. Er war 1,78 m groß, athletisch gebaut, die Muskeln spannten sich leicht in seinen Waden an, während seine Arme hoch und runtergingen. Jung, in Form und offensichtlich ein erfahrener Läufer.

Zoe hatte kaum fünf Schritte gemacht, bevor sie wusste, dass sie ihn auf gar keinen Fall erwischen würde.

In ihrem Kopf breitete der Campus sich wie eine Landkarte aus, Topographie und Neigungswinkel inklusive. Er schlängelte sich links davon, in Richtung einer Gruppe kleiner Gebäude, die am Rand des Campus verteilt waren. Hinter ihnen befand sich ein Zaun, der die Grenze zwischen dem College und der umgebenden Stadt zu markierte.

Zoe dachte schneller als sie rennen konnte. Sein Weg würde notwendigerweise gewunden sein, dem Verlauf des Zaunes folgend, bevor er eine Lücke und einen Fußgängerdurchgang erreichte. Dies auch nur, falls er seinen Studentenausweis bei sich hatte, der ihres Wissens an diesem Punkt, wie auch an weiteren Collegeeinrichtungen, für den Ausgang notwendig war.

„Bleib an ihm dran!“ schrie sie über ihre Schulter, sah Shelley aus dem Augenwinkel, während sie selbst rechts abschwenkte. Bei dieser Geschwindigkeit würde er sie immer abhängen. Aber sie konnte in der gleichen Zeit eine kürzere Entfernung überqueren und wenn sie seine Meilen pro Stunde mit ihren verglich, wusste sie, dass sie ihn beim Durchgang erwischen konnte.

Aber nur, wenn sie einen offenen Hof in direkter Linie überquerte, dann einen engen Weg zwischen zwei Gebäuden nahm und dann direkt über den dahinterliegenden Parkplatz lief.

Nur, wenn niemand ihr in den Weg geriet.

Zoe bewegte Arme und Beine stärker, wurde schneller, selbst als sie dachte, sie hätte ihre Grenze erreicht, kämpfte gegen die kalte Nachtluft, die in ihre Lungen strömte. Es geschah dieser Tage nicht oft, dass sie sich einer wirklichen sportlichen Herausforderung stellen musste. Und sie war nicht so jung wie er. Aber sie trieb sich zum Äußersten, hatte vor, verdammt sicherzustellen, dass sie rechtzeitig dort sein würde – selbst wenn es auf ihrem Weg ein Hindernis gab.

Der Hof flitzte verschwommen vorbei, dann schoss sie durch den engen Weg, zum Glück war dort niemand, der ihr vor die Füße stolpern konnte. Der Boden unter ihr wurde zum harschen, holprigen Asphalt, bestrafte ihre Füße dafür, dass sie normale Schuhe anstelle von Turnschuhen angezogen hatte.

Zoe konnte den Zaun auf der anderen Seite der Gebäude immer noch nicht sehen, aber sie konnte den Durchgang sehen. Ein weiterer Schwung Adrenalin ließ sie vorwärts hasten. Wenn sie nicht rechtzeitig ankam…

Gesicht des Mordes

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