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KAPITEL VIER

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Zoe trommelte mit ihren Fingern auf dem Steuer, während sie zur örtlichen Gerichtsmedizin fuhren, warf einen Seitenblick auf Shelley. Etwas an diesem Fall störte sie bereits und sie musste die Zweifel aussprechen, die in ihren Kopf krochen, bevor sie zur Besessenheit wurden. „Es ist seltsam, dass Maitland wusste, dass ich gerne an einem mathematikbasierten Fall arbeiten würde. Ich habe nie mit ihm besprochen, dass ich gerne mit Zahlen zu tun habe.“

Shelley räusperte sich leicht, mied Zoes Blick. „Nun, ich habe uns für diesen Fall freiwillig gemeldet. Ich hörte zufällig, wie er hineinkam und, nun ja, der Chief stimmte zu, dass wir ihn übernehmen könnten.“

Zoe verdaute dies einen Moment lang. Sie bekam normalerweise nichts von ihrem Chef, nur weil sie darum bat. „Einfach so? Du musstest ihn nicht überzeugen?“

Shelley drehte den Anhänger, den sie trug, ein goldener Pfeil mit einem Diamanten, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, immer wieder in den Fingern herum. „Ich sagte ihm, dass wir wahrscheinlich gegenüber allen anderen einen Startvorteil hätten, dass du gut in Mathe wärest.“

Zoe widerstand dem Drang, auf die Bremsen zu treten, hielt das Auto gleichmäßig und ruhig in Fahrt. Sie konzentrierte sich auf die Straße, bis das Rasen in ihrem Kopf sich verlangsamt hatte, und sprach entschieden und ruhig. „Du hast gesagt, ich wäre ‚gut in Mathe‘?“

„Das ist alles, was ich gesagt habe, das schwöre ich. Ich habe ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Nichts darüber, du weißt schon, was du tun kannst.“

Shelley klang entschuldigend, aber das reichte nicht ganz aus, um das Dröhnen in Zoes Ohren verschwinden zu lassen. Gut in Mathe. Das war nah an der Wahrheit, zu nah, um sich damit wohlzufühlen. Es war fast ein Geständnis.

Vielleicht hatte sie einen schweren Fehler begangen, Shelley dahingehend zu vertrauen, dass sie ihr Geheimnis nicht verriet. Aber ihre Partnerin hatte immer wieder aufs Neue geschworen, dass sie es ohne Zoes Zustimmung nie jemandem offenbaren würde. Während sie es technisch gesehen auch nicht getan hatte, war es nah dran. Zu nah.

„Schau, es ist in Ordnung, oder?“ fragte Shelley. Ihre Stimme war ein wenig schriller geworden. „Es tut mir wirklich leid, wenn du nicht wolltest, dass ich das sage, aber es ist nur ein kleines Stück der Wahrheit. Nicht das ganze Bild. Und jeder kann gut in Mathe sein, weißt du? Es macht dich nicht so sehr anders.“

Zoes Finger griffen das Steuer fester, so fest, dass die Gummigriffe ein leises Geräusch von sich gaben. Ihr Kiefer bewegte sich steif. „Es war nicht deine Sache, es ihnen zu sagen.“

„Ich dachte nur – ich dachte nicht, dass es eine so große Sache sein würde, nur das zu sagen.“ Shelley seufzte, sackte gegen die Kopfstütze des Beifahrersitzes. „Ich habe Mist gebaut, das verstehe ich jetzt. Es tut mir leid. Aber nachdem du unseren großen Fall in Kansas gelöst hast, würden sie doch ohnehin schon begriffen haben, dass du gut mit Zahlen bist. Ich weiß, ich darf es niemandem sagen und das werde ich nicht, aber ich weiß nicht, warum du es nötig findest, es zu verschweigen.“

Zoe knirschte mit den Zähnen. Natürlich begriff Shelley es nicht. Shelley hatte es nicht erlebt. Shelley war nicht gezwungen worden, auf dem kalten Boden neben ihrem Bett die ganze Nacht zu beten, während ihre Mutter über die Teufelsgabe kreischte und predigte. Sie war in der Schule nicht für ihre Zerstreuung getadelt worden, nicht von den anderen Kindern wegen der verblüffenden Dinge verspottet worden, die sie durch einen einfachen Blick auf sie wusste.

Sie war nicht dabei gewesen, als Zoe gescheiterte Beziehungen durchlebte, in denen sie immer wieder missverstanden, mit nichts als der Betitelung „Freak“ und einem abermals gebrochenen Herzen zurückgelassen worden war.

„Es ist mein Geheimnis und ich entscheide, ob ich es erzähle oder nicht“, sagte sie fest, sobald ihr Herz wieder langsam genug schlug, dass sie die Worte sagen anstatt hervorstoßen konnte. Shelley war so weise, auf eine Antwort zu verzichten.

Sie hielten vor der Gerichtsmedizin und Zoe knallte die Autotür hinter sich zu, ging hinüber zum Eingang. Dann hielt sie an. Es würde nichts bringen, mit dieser sich hängenden Energie in die Untersuchung zu gehen. Sie musste es vergessen, es in ihrem Gehirn auf einem Regal ablegen und sich später darum kümmern. Jetzt musste sie professionell sein.

Die Gerichtsmedizinerin, eine fitte asiatische Frau Mitte vierzig mit scharfen Augen und Haaren, die zu einem Bob im Neunzig-Grad-Winkel geschnitten waren, der genau auf der Höhe ihres Kinns endete, war entgegenkommend. Sie zeigte ihnen die Leiche des Professors und blieb respektvoll im Hintergrund stehen, während sie ihre Untersuchung vornahmen.

Der nackt auf der Metallliege liegende Mann war auf weißes Fleisch reduziert worden. Als Zoe das Laken wegnahm, war es schwer für Zoe, die Verbindung zwischen diesem Brocken toten Fleischs und dem Mann, der es einst gewesen war, herzustellen und aufrechtzuhalten. Wer auch immer er gewesen war, er war schon lange verschwunden. Sie konnte es immer noch sehen, in den gelblichen Fingerspitzen, die auf eine Nikotinabhängigkeit hinwiesen, und dem kleinen zweieinhalb Zentimeter langen Abdruck über seinem linken Ohr, wo er jahrelang eine schlechtsitzende Brille getragen hatte. Aber das Eigentliche, das Wesen, was auch immer es war, das diesen Körper einst gefüllt und belebt hatte, war nirgendwo mehr zu finden.

So war es besser. Menschen lenkten sie ab. Sie verbargen ihr wahres Ich hinter Worten und Gesten, die sie nicht immer verstehen konnte. Aber Leichen konnten nicht lügen. Sie waren, wie sie waren, nicht mehr und nicht weniger.

Es schadete natürlich nicht, dass sein Gesicht verschwunden war. Nach innen eingeschlagen. Die Nase war völlig platt, die ganzen Hügel und Kurven jetzt innen in seinem Schädel. Auch die rechte Seite des Kopfes war gesplittert und gequetscht, zeigte deutliche Linien des Schlages. Niemand hätte das überleben können. Sogar eines seiner Augen war weg.

Die Gleichung fand sich auf seinem Torso, seitlich vom oberen Ende seiner Brust bis gerade unter seinen Nabel geschrieben. Sie sah genauso aus wie auf den Fotografien – das gesamte Ding war wirklichkeitsgetreu abgebildet worden. Mit ihren Händen in unbequemen weißen Wegwerfhandschuhen hob Zoe jeden seiner Arme und jedes seiner Beine hoch und drehte ihn sogar mit Shelleys Hilfe auf seine Seite. Sie konnten nirgendwo eine weitere Tintenspur oder überhaupt irgendein Zeichen entdecken, das auf einen fehlenden Teil der Gleichung hindeutete.

„Sie haben nichts übersehen“, sagte Shelley laut, bestätigte die wachsende Frustration, die sich hinter Zoes Stirn aufbaute.

„Der andere.“ Zoe drehte sich um, um die Gerichtsmedizinerin anzusehen. „Wir müssen auch den Studenten sehen.“

Die Gerichtsmedizinerin zuckte mit den Schultern, machte eine Handbewegung, um anzudeuten, dass sie es für sinnlos hielt und ging hinüber, um eine weitere Türe des metallenen Ablageschrankes zu öffnen, der als zeitweiser Ruheplatz fungierte. Sie zog sie mit einem langen schabenden Geräusch von gutgeöltem Metall auf Metall auf und ging zurück, um ihnen Zugang zu dem Bewohner zu gewähren.

Der Collegestudent sah noch jünger aus, als er es auf den Fotografien getan hatte, wie er da auf der kalten Metallliege lag, sämtliches Blut und mit ihm die Farbe aus den Wangen geschwunden. Die Oberseite seines Kopfes war eine Schweinerei, offen und nach innen eingedrückt. Er war mit einem respektvollen Laken bedeckt, aber Respekt war in diesem Fall nur ein Hindernis. Zoe kam näher und zog es zur Seite, bemerkte Shelleys Widerwillen, es zu tun.

Für eine lange Sekunde starrte Zoe, unfähig, das Gesehene zu verstehen. Dann fragte sie sich kurz, ob die falsche Leiche herausgezogen worden war, aber sie hatte sein Gesicht von den Tatortfotos erkannt. Endlich überwog der Unglaube und sie wandte sich mit einem derart finsteren Blick zu der Gerichtsmedizinerin um, dass die andere Frau zurückwich.

„Wo sind die Gleichungen?“ fragte Zoe, ihre Stimme leise und tonlos, bedrohlich genug, um jedem den dahinterstehenden Ärger deutlich zu machen.

„Nun, wir haben die Autopsie vorgenommen“, stotterte die Gerichtsmedizinerin, tastete hinter sich nach einem Metalltisch, um sich zu stützen. „Wir waschen die Leichen immer, um die Autopsie durchzuführen.“

„Sie haben die Beweise abgewaschen.“

Shelley kam näher, legte eine sanfte Hand auf Zoes Arm, vielleicht als Bitte, sich zu beruhigen. Zoe ignorierte es. Sie kochte, jeder Muskel ihres Körpers war voller Energie, wollte explodieren und etwas gegen die Wand schleudern. Vielleicht gegen die Gerichtsmedizinerin.

Der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, war, dass es sehr deutlich gegen den professionellen Verhaltenskodex ging. Wie konnten sie so etwas zugelassen haben?

„Wer hat das Waschen genehmigt?“ fragte Shelley, ihre Stimme leise und ruhig. Sie trat vor, ein wenig vor Zoe, als ob sie sie schützen wollte.

Die Gerichtsmedizinerin suchte nach Papieren, stotterte immer noch, das Gesicht erblasst. Zoe konnte es nicht länger ertragen. Sie ging mit einem Knurren in der Kehle aus dem Raum, knallte als Zugabe die Tür hinter sich zu. Da es eine Schwingtür war, war die Wirkung abgeschwächt, aber es löste trotzdem einiges der Anspannung in ihrem Körper.

Shelley kam einige Minuten später nach, fand sie am Ende des Flurs auf und ab gehend.

„Wir hätten sie wegen Manipulation der Beweise melden sollen“, sagte Zoe, sobald Shelley nah genug war, um sie zu hören.

„Sie haben im Rahmen ihrer Anweisungen agiert“, seufzte Shelley, zuckte mit den Schultern. „Der Fotograf war der Ansicht, dass sie alles dokumentiert hätten. Wir müssen es ihnen einfach glauben.“

„Sie sollten trotzdem bestraft werden. Haben sie keinen gesunden Menschenverstand? Es war offensichtlich ein Beweis. Und die leitenden Ermittler hatten die Leiche noch nicht einmal gesehen!“

„Nun, um fair zu sein, als sie die Autopsie vornahmen, war es ein lokaler Fall, keiner für die Bundesbehörde. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen einfach mit dem arbeiten, was wir haben.“

Shelley war rational, zu rational. Zoe mochte das nicht. Sie wollte eine Rechtfertigung für die von ihr empfundene Frustration, verdammt, ein von ihnen beiden gemeinsam empfundenes Gefühl. Sie hasste es, wenn man ihr das Gefühl gab, dass sie der Freak mit dem Problem war. Wenn Dinge falsch gemacht wurden, war das ein Problem. Die Leute sollten die Dinge tun, für die sie bezahlt wurden. So funktionierte die Gesellschaft.

„So etwas sollte deutlich als wichtig zu erkennen gewesen sein“, sagte Zoe, versuchte ein letztes Mal, Shelley in ihre eigene Wut zu locken.

Es funktionierte nicht. „Wir müssen ohnehin weitermachen“, sagte Shelley, ging hinaus und sah zurück, um sicherzustellen, dass Zoe ihr folgte. „Sollen wir als Nächstes mit der Frau des Professors reden?“

Zoe nickte, gab auf. Vielleicht reagierte sie über. Man hatte ihr gesagt, dass sie das gelegentlich tat.

An diesem Fall gab es mehr als nur die sichtbaren Beweise auf den Leichen. Natürlich war die Mathematik verführerisch, sowie die Tatsache, dass eine angesehene Universität Ort der Taten war. Aber es gab immer noch eine andere Geschichte von den Familien der Opfer zu erfahren, von den Leuten, die sie kannten.

Vielleicht würde Mrs. Henderson Licht auf den Tod ihres Ehemanns werfen können – und dazu beitragen, dass dieser frustrierende Fall rasch geklärt wurde.

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