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Fünf Paar Leopardenhosen

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Über Julian ließe sich unter anderem erzählen, dass er ein Streuner war.

Am tollsten fand er es, kein bestimmtes Ziel zu haben. Ein Ziel wie die Schule zum Beispiel. Trotzdem schwänzte er nur äußerst selten, weil er seiner Mutter keinen Kummer machen wollte.

Ab und zu schwänzte er dann aber doch. Woran allerdings einzig und allein seine Beine schuld waren. Die Beine eines Streuners haben nämlich einen ganz eigenen Willen.

Statt dass seine Beine ihn links herum, die Østergade entlang, an der Bank vorbei und zur Schule trugen, konnte es durchaus passieren, dass sie ihn einfach rechts herum, durch die Algade, am Video-Shop und an der Grillbude vorbei aus dem Ort hinaustrugen. Raus ins Zaubermoor.

Eines Tages, als Julian gerade aus der Schule kam, saß seine Mutter im Wohnzimmer und nähte auf ihrer Nähmaschine, als ob es um Leben und Tod ginge. Sie verdiente ihr Geld nämlich damit, für andere Leute zu nähen.

Sie schaute von der Nähmaschine auf und blinzelte mehrmals hintereinander, als Julian ins Zimmer kam. Sie war ziemlich kurzsichtig.

„Schau mal“, sagte sie und zeigte auf das Sofa, das unter riesigen Stoffbergen begraben war. Leopardenhosen, orange Hemden mit Löwenköpfen und Fransen und breite rote Krawatten mit Gitarren drauf.

„Die sind ja super!“, rief Julian begeistert.

„Die sind für diese Popband“, erklärte seine Mutter. „Die mit dem Sänger, der diese toupierten Haare hat. Die, die beim Stadtfest gespielt haben. The Wild Cats.“

„Wow, The Wild Cats!“

„Sie wollen auch am Johannisabend auftreten. Vor dem neuen Einkaufszentrum. Bis dahin müssen die Sachen fertig sein. Ich hab noch zwei Tage Zeit. Bin voll im Stress, Julian“, sagte sie gehetzt und beugte sich wieder über ihre Maschine.

Julian und seine Mutter gingen natürlich auch zu dem großen Johannisfeuer auf dem Platz vor dem neuen Einkaufszentrum. Das ganze Städtchen war versammelt. Der Holzstapel war riesig, und als er angezündet wurde, prasselten gewaltige Flammen zum hellen Abendhimmel empor.

In der Mitte des Feuers hing an einem Besenstiel eine große Stoffhexe, die schnell in Flammen aufging.

„Ich mag diesen Brauch, die Hexe zu verbrennen, gar nicht“, sagt Julians Mutter. „Das ist barbarisch.“

„Das sind doch nur ein paar alte Stofffetzen“, sagte Julian.

Eine große, schlanke Frau in einem rot-gelben Kostüm hielt eine Rede. Das war die Baroness. So jedenfalls wurde sie von den Leuten im Städtchen genannt. Weil sie so reich war. Ihr gehörte das neue Einkaufszentrum.

Julian hörte nicht richtig zu, weil die Rede für seinen Geschmack eindeutig zu lang war. Er trat auf der Stelle hin und her und starrte ungeduldig zur Bühne, auf der ein Schlagzeug und die Lautsprecher aufgebaut waren. Nach einer halben Ewigkeit war die Rede endlich zu Ende und The Wild Cats betraten die Bühne. Der Leadsänger machte einen gewaltigen Tigersprung und sang, dass er ein schwarzer Panter sei.

„Na, wie sehen sie aus?“, schrie Julians Mutter ihm ins Ohr, um die Musik zu übertönen.

„Gut“, schrie Julian zurück, tief beeindruckt von der Band.

Sie sahen einfach super aus in ihren Leopardenhosen und den orangefarbenen Löwenhemden. Ganz zu schweigen von den roten Gitarrenkrawatten. Die bunten Stoffe funkelten und leuchteten im Scheinwerferlicht.

In diesem Augenblick war Julian mächtig stolz auf seine Mutter, aber das sagte er nicht laut. Sie wurde so leicht verlegen. Gemeinsam genossen sie die Musik. Alle Lieder handelten entweder von wilden Tieren oder von Liebe.

„Das gefällt mir so an The Wild Cats“, rief seine Mutter. „Dass so viele Lieder von Liebe handeln.“

Julian nickte.

Die Zuschauer klatschten wie verrückt, nachdem die Band das letzte Stück gespielt hatte. Der Leadsänger hob die Arme und es wurde still.

The Wild Cats bedanken und verabschieden sich“, rief er.

Danach verbeugten sich alle fünf Bandmitglieder.

Rittttschhhhh!, machte es. Ziemlich laut. Julian warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Sie war kreidebleich geworden. Da fiel es ihm wie Stöpsel aus den Ohren: Rittttschhhh. So klingt es, wenn fünf wurstpellenenge Leopardenhosen gleichzeitig zerreißen.

Die Leute klatschten immer noch. Und schauten erstaunt zur Bühne.

Die Musiker schoben sich in einem eigenartigen Seitwärts-Krebsgang an den Bühnenrand. Um von der Bühne herunterzusteigen, mussten sie dem Publikum den Rücken zudrehen, und da sah man ganz deutlich fünf Paar verschiedenfarbige Unterhosen durch die Schlitze der eben noch ganz intakten Leopardenhosen blitzen.

Es war zum Schlapplachen. Was die meisten auch taten. Aber Julian lachte nicht. Er sah seine Mutter an. Er griff nach ihrer Hand. Und drückte sie fest. Und er war stark.

„Ich begreif das nicht“, flüsterte sie. „Ich hab mir solche Mühe gegeben. Und dann alle auf einmal.“

Julians Mutter schüttelte immer und immer wieder den Kopf.

Julian bemerkte plötzlich einen speziellen Duft. Eine Gestalt hatte sich lautlos zu ihnen gesellt. Eine große, schlanke Gestalt. Die Baroness persönlich.

Sie duftete gut. Wie Gras, das in der Sonne trocknet, und Kaktusblüten, und eine ganz neue Sorte Kuchen. Julian sah sie neugierig an.

Die Baroness reichte seiner Mutter die Hand.

„Sehr merkwürdig, das mit den Hosen“, sagte sie. „Haben Sie die nicht genäht?“

„Doch, ja“, murmelte Julians Mutter traurig und sah beschämt zu Boden.

„Das muss am Stoff liegen“, sagte die Baroness bestimmt. „Wahrscheinlich schlechte Qualität. Es weiß schließlich jeder, was für eine tüchtige Schneiderin Sie sind.“

„Ich habe den besten Stoff genommen, den ich kriegen konnte“, murmelte Julians Mutter.

„Natürlich liegt es am Stoff“, wiederholte die Baroness. „An Ihrer Arbeit kann es jedenfalls nicht liegen. Oder was sollte es sonst sein? Hexerei!?“

Auf dem Gesicht der Baroness breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. Julian erschauerte ehrfürchtig. Er hatte sie noch nie so aus der Nähe gesehen. Sie sah wunderschön aus, wie ein Filmstar.

In dem Augenblick legte sie eine Hand, leicht wie eine Feder, auf Julians Kopf.

„Was für ein reizender Junge“, sagte sie.

Und weg war sie. Aber ihr Duft blieb zurück und hüllte Julian und seine Mutter ein, als sie durch das Städtchen zwischen den Hügeln nach Hause zurück schlenderten.

„Ich verstehe das nicht“, sagte seine Mutter immer wieder. „Eine Hose, das könnte ich ja noch begreifen. Aber fünf Hosen gleichzeitig, das ist schlicht und einfach unmöglich.“

Julian sagte nichts, aber er wusste, dass sie Recht hatte. Von solchen Dingen hatte sie nämlich Ahnung. Das Ganze war äußerst merkwürdig. Und keiner von ihnen hatte eine Erklärung.

Julian im Zaubermoor

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