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Der Mann mit dem schwarzen Umhang

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Ein paar Tage später begannen die Sommerferien. Endlich konnte Julian seine Beine frei bestimmen lassen, wohin sie ihn tragen wollten.

Sie trugen ihn raus ins Zaubermoor.

Wenig später stand Julian am Rand eines Tümpels und lauschte ein paar Fröschen, die heftig miteinander stritten. So jedenfalls hörte es sich an. Sie knöckerten und quakten aus voller Kehle. Julian musste lachen und warf Stöckchen ins Wasser. Während er darüber nachdachte, worüber Frösche sich wohl streiten mochten, entdeckte er etwas, das ihn derart verblüffte, dass er um ein Haar kopfüber ins Wasser gefallen wäre.

Quer übers Moor lief ein Mann.

Julian traute seinen Augen nicht. Es war lebensgefährlich, durchs Moor zu gehen. Im Moor gab es überall tiefe Löcher, in die man hineingeraten und in denen man versinken konnte.

Julian wollte dem Mann etwas zurufen, ließ es dann aber bleiben. Es sah nämlich so aus, als ob der Mann genau wüsste, was er tat. Er sprang von Grasbüschel zu Grasbüschel, als kenne er das Moor wie seine Westentasche. Außerdem lief er schnell und war bald nicht mehr zu sehen.

Julian streunte weiter durch die Gegend. Er wollte einen kurzen Abstecher zu einem seiner Lieblingsplätze machen, einer alten verfallenen, leer stehenden Hütte, die er im letzten Frühjahr entdeckt hatte. Sie lag einsam am Rand des Moors zwischen lauter alten Birnbäumen. Als Julian das letzte Mal dort gewesen war, hatten sie gerade geblüht. Jetzt wollte er nachschauen, ob sie vielleicht schon kleine Birnen trugen.

Julian lief den Pfad entlang, der zu der Hütte führte. Plötzlich blieb er stehen.

Aus der leer stehenden Hütte schallte eine Stimme. Sie fluchte laut.

Julian schlich vorsichtig näher heran und guckte durch eines der Fenster ohne Scheibe.

Der Mann aus dem Moor! Julian konnte ihn zwar nur von hinten sehen, aber er war ganz sicher, dass es der Gleiche war. Der Mann kniete auf dem Boden und zog wild fluchend an etwas.

Julian schlich zur Tür, die offen stand, und wagte einen Blick ins Innere der Hütte.

Jetzt sah er besser. Der Mann zog an einer Schlaufe, die aus dem Boden ragte. Plötzlich löste sich ein Stück aus dem Boden. Darunter war ein Hohlraum. Ein Geheimfach. Julian streckte den Hals.

Der Mann hatte aufgehört zu fluchen und steckte beide Hände in das Loch. Er zog etwas daraus hervor, etwas Großes, Schwarzes. Er stand auf, immer noch mit dem Rücken zu Julian. Es schien ein Mantel oder so was zu sein. Der Mann legte sich den Mantel vorsichtig über die Schultern. Und jetzt erkannte Julian, dass es ein Umhang war. Danach zog der Mann einen schwarzen Hut aus dem Loch und setzte ihn sich auf den Kopf.

Völlig unvermittelt schüttelte er den Umhang mit einem kräftigen Schlag aus, worauf eine gewaltige Staubwolke aufwirbelte, die sich in Windeseile in der ganzen Hütte verteilte, bis zur Tür, wo Julian stand.

Julian musste niesen.

Der Mann wirbelte herum und starrte Julian an.

Er hatte eine schwarze Klappe vor einem Auge und sah sehr sonderbar aus. Er blinzelte zweimal schnell nacheinander mit dem anderen Auge.

„Pass bloß auf“, sagte er ruppig. „Ich bin ein gemeingefährlicher Mörder.“

Er machte einen Schritt nach vorn, wobei er das eine Auge weit aufriss.

Julian blieb einen Augenblick wie gelähmt stehen. Dann machte er einen Satz durch die Türöffnung in die Hütte hinein.

„Glaub ja nicht, dass du mir Angst einjagen kannst“, schrie er. „Vorher bring ich dich nämlich um.“

Mit Karacho rammte er seinen Kopf gegen den Bauch des Mannes mit dem schwarzen Umhang und hämmerte mit geballten Fäusten auf ihn ein.

Der Mann stand in der Mitte des Raums und lachte schallend.

„Du bist mir ja ein Temperamentsbolzen!“, sagte er immer noch lachend.

Er hob Julian hoch, schwang ihn über die Schulter, trug ihn nach draußen und ließ ihn vor der Hütte ins Gras fallen. Dabei grinste er übers ganze Gesicht.

„Ich hab doch nur Spaß gemacht“, sagte er grinsend. „Du lässt dich aber leicht ins Bockshorn jagen, du kleiner Schmachtlappen.“

Jetzt wurde Julian aber wirklich wütend. Er konnte es nämlich gar nicht leiden, auf den Arm genommen zu werden. Er kletterte in den nächsten Birnbaum und bombardierte den Mann mit kleinen, unreifen Birnen, von denen es glücklicherweise jede Menge gab.

Der Mann flüchtete sich in den Türrahmen. Jetzt entdeckte Julian, dass der Mann auch nur ein Ohr hatte! Das dafür aber von der Größe eines Kaffeefilters.

Julian war über das riesige Ohr so erstaunt, dass er einen Augenblick lang vergaß, weiter mit Birnen zu schmeißen.

Der Mann war wirklich eine äußerst sonderbare Erscheinung. Mit dem Umhang, dem Hut und der Augenklappe sah er aus, als ob er zum Maskenball wollte, sich aber nicht recht entscheiden konnte, ob er als Seeräuber oder als Zauberer gehen sollte. Julian gaffte ihn mit offenem Mund an.

Der Mann kratzte sich am Ohr. Sein Auge hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. Er ging über den Rasen und stellte sich direkt unter den Baum, in dem Julian hockte.

Julian ging wieder dazu über, mit Birnen auf ihn zu zielen, so hart und schnell, wie er nur konnte, aber das schien dem Mann völlig schnuppe zu sein. Er blieb in dem Birnenhagel stehen und sagte etwas sehr Eigenartiges.

„Ein echter Temperamentsbolzen“, sagte er. „Ich könnte wirklich einen Gehilfen brauchen. Ein kleiner Schmachtlappen, aber voller Temperament.“

Er griff nach Julians Fuß und zog ihn vom Baum herunter.

„Könntest du dir vorstellen, mein Gehilfe zu werden?“, fragte er.

Julian hatte eigentlich beschlossen, den Mann zu hassen. Und wenn er einmal etwas beschlossen hatte, blieb er normalerweise auch dabei.

Jetzt musterte er den sonderbaren Mann mit dem Kaffeefilterohr und dem einen Auge ausgiebig und änderte seine Meinung. Er zuckte mit den Schultern.

„Warum hast du dich verkleidet?“, fragte er.

„Verkleidet!“, schnaufte der Mann. „Das ist meine Arbeitskleidung, dass du’s nur weißt. Es war höchste Zeit, die Arbeitskleidung wieder anzulegen. Willst du nun mein Gehilfe werden, oder nicht?“

„Und wobei soll ich behilflich sein?“, fragte Julian.

„Die Hexe“, sagte der Mann mit dem schwarzen Umhang. „Du sollst mir helfen, die Hexe zu verjagen. Ich komme allein nicht gegen sie an.“

Julian war so baff, dass er eine Birne vom Boden aufhob und hineinbiss, obwohl er genau wusste, wie sauer sie so früh im Sommer schmeckten.

Er spuckte das Stück aus. Und sah den seltsamen Mann erstaunt an.

„Typisch“, sagte der Mann. „Du glaubst natürlich, dass eine Hexe eine hässliche alte Schachtel mit Warzen auf der Nase ist, die auf einem Besen herumfliegt und in einem großen Kessel Hexentränke braut.“

Julian zuckte erneut mit den Schultern.

„Verkehrt!“, rief der Mann laut. „Vollkommen und fürchterlich fantastisch verkehrt. Eine richtige Hexe, lass dir das gesagt sein, sieht haargenau so aus wie jeder andere Mensch auch. Jedenfalls ganz und gar nicht wie eine Hexe. Sie benimmt sich auch nicht so. Es ist nahezu unmöglich zu erkennen, ob es sich um eine Hexe handelt oder nicht. Erst, wenn sie zu hexen beginnt. Aber dann ist es zu spät, viel zu spät.“

Der Mann starrte Julian mit seinem einen Auge an.

„Um einer Hexe auf die Schliche zu kommen, ehe sie zu hexen anfängt, muss man ein Hexenspezialist sein. Ich bin so einer. Setz dich und hör mir gut zu.“

Julian setzte sich benommen unter einen Birnbaum und starrte den Mann an, der sich ihm gegenüber unter einem der anderen Bäume niederließ.

„Hier“, sagte er und zeigte auf seine riesige Ohrmuschel, „hier sitzt er!“

Er zog an seinem Ohrläppchen.

„Bin so geboren worden. Mit nur einem Ohr, das aber dafür umso sensibler ist. Und hier sitzt auch mein Hexensensor. Wenn irgendwo eine Hexe auftaucht, aber noch weit weg ist, ist es wie ein Summen. Kommt sie näher, steigert es sich zu einem Brummen. Danach beginnt es zu vibrieren. Kommt sie dann noch näher, beginnt es zu jucken. Dann zu ziepen. Und wenn die Hexe in Sichtweite ist, brennt es wie Sonnenbrand, nur viel, viel schlimmer.“

Julian glotzte das Ohr des Mannes an. Er hatte schon wieder, ohne es zu merken, in eine unreife Birne gebissen, und spuckte den Bissen schnell aus.

„Das ist ein Erbe von meinem Großvater“, fuhr der Mann fort. „Der Hexensensor. Das und der Umhang, der für einen Hexenspezialisten unentbehrlich ist. Na ja, und natürlich mein gutes Aussehen.“

Er rückte die Augenklappe zurecht.

„Posemuckelmats ist mein Name. Nach meinem Großvater, bei dem ich aufgewachsen bin. Und du, hast du auch einen Namen?“

Julian sagte ihm seinen Namen.

Posemuckelmats zeigte zur Hütte.

„Dort“, sagte er, „habe ich mit meinem Großvater gewohnt. Ein großer Hexenspezialist. Haben gemeinsam gegen die Hexe Trillimur gekämpft. Das war meine erste Hexe. Danach haben wir an anderen Orten gegen andere Hexen gekämpft. Ist inzwischen etliche Jahre her. Die Hexen haben sich lange Zeit ruhig verhalten.“

Posemuckelmats senkte seine Stimme zu einem Flüstern.

„Aber jetzt ... jetzt spüre ich, dass wieder eine Hexe ihr Unwesen treibt, und das ausgerechnet in dieser Gegend, aus der ich selbst stamme. Höchste Zeit, die Arbeitskleidung wieder anzulegen.“

Er sprang auf und schwang den schwarzen Umhang durch die Luft. Staub wirbelte auf und beide mussten niesen.

„Als mein Gehilfe musst du drei Dinge wissen“, sagte Posemuckelmats, als sie zu Ende geniest hatten. „Kannst du dich verstecken?“

„Äh ... ja ...“

„Abhauen wie ein geölter Blitz?“

„Äh ... na ja ...“

„Und auch durch enge, dunkle Öffnungen kriechen, ohne nur im Geringsten zu ahnen, was dich auf der anderen Seite erwartet? Abgesehen davon, dass es natürlich gefährlich ist?“

„Äh ... wieso ...?“

„Das lernst du schon noch“, sagte Posemuckelmats. „Alles nur eine Frage der Übung. Womit wir zur ersten geheimen Hexenregel kommen.“

„Der was?“, fragte Julian verdutzt.

„Der ersten geheimen Hexenregel. Es gibt insgesamt vier. Wenn du mein Gehilfe werden willst, musst du sofort die erste lernen. Hörst du zu?“

Julian nickte. In der Schule hörte er selten zu. Aber jetzt hörte er zu wie nie zuvor.

„Hexenspucke“, sagte Posemuckelmats. „Hexenspucke trennt Dinge.“

„Wie bitte?“, platzte Julian überrascht heraus und merkte gerade noch rechtzeitig, dass er schon wieder eine unreife Birne in der Hand hatte. Er warf sie eilig weg, bevor er womöglich hineinbiss.

„Hexenspucke trennt Dinge!“, wiederholte Posemuckelmats ungeduldig. „Kommt Hexenspucke auf einen Lattenzaun, blättert die Farbe ab. Spuckt eine Hexe auf eine Buchseite, purzeln die Buchstaben heraus. Hexenspucke im Haar, und sie fallen dir augenblicklich aus. hexenspucke trennt dinge. Merk dir das. Und vergiss es niemals.“

Es war, als würde Julian aus einem Dämmerschlaf erwachen. Er hatte dem Mann atemlos zugehört. Ja, er hätte ihm sogar fast geglaubt. Aber nur fast.

Jetzt sah er sich um. Der Wind fuhr in die Blätter des Birnbaums über seinem Kopf. Vom Moor klang das Quaken der Frösche herüber. Die Fliegen summten. Der Sommer sang sein Lied.

Julian fing an zu lachen.

So ein Quatsch! Dieser ganze Hexenkram. Das war natürlich nur Spaß. Der Mann hatte schließlich auch aus Spaß behauptet, dass er ein Mörder sei.

Julian wälzte sich lachend im Gras.

„Hexenspucke trennt Dinge?“, fragte er japsend. „Also, wenn die Hexe auf einen Vogelschiss spuckt, werden ein Vogel und ein Schiss daraus? Und wenn sie auf einen Pferdeapfel spuckt, werden ein Pferd und ein Apfel daraus?“

Julian klappte vor Lachen zusammen.

„Du elender kleiner Rotzlöffel!“, schrie Posemuckelmats rasend vor Wut. „Ich werde dich lehren, dich einfach über die erste geheime Hexenregel lustig zu machen.“

Er schoss auf Julian zu, packte ihn an den Füßen, hob ihn hoch, sodass er mit dem Kopf nach unten hing, und schüttelte ihn heftig durch.

Aber Julian konnte nicht aufhören zu lachen.

„Und wenn sie auf einen Popel spuckt“, japste er, während er mit dem Kopf nach unten hing, „werden ein Po und ein Pel daraus?“ Er lachte selbst dann noch weiter, als der Mann ihn wieder auf den Boden setzte, ihm einen Tritt in den Hintern gab und schrie, dass er verschwinden und sich nie wieder blicken lassen sollte, bevor er nicht mehr Respekt vor der ersten geheimen Hexenregel zeigte. Aber Julian konnte nicht aufhören. Er lachte den ganzen Weg bis nach Hause.

Vor dem Haus, in dem Julian mit seiner Mutter wohnte, parkte ein fantastisches Auto. Es war mindestens so groß wie ein U-Boot. Silberfarben und glänzend. Die Sitze waren mit rotem Leder bezogen. Julian sah es voller Bewunderung an.

Da kam seine Mutter aus dem Haus gestürmt und scheuchte ihn eilig nach drinnen.

„Wir haben vornehmen Besuch“, flüsterte sie. „Sei so gut und servier uns im Wohnzimmer eine Brause.“

Sie sah ihn an.

„Worüber lachst du?“

Julian konnte nur den Kopf schütteln.

Als er kurz darauf mit drei Flaschen Brause und drei Gläsern auf einem Tablett das Wohnzimmer betrat, saß die Baroness elegant wie ein Filmstar auf der Sofakante.

Julian lachte noch immer, weil ihm ständig neue Sachen einfielen: Hexenspucke trennt Dinge. Wenn sie auf einen Kuhfladen spuckt, werden eine Kuh und ein Fladen daraus.

„Was für einen erfrischenden Humor der Junge doch hat“, bemerkte die Baroness.

Julians Mutter lächelte verlegen.

Julian stellte die Flaschen und die Gläser auf den Tisch, während seine Mutter und die Baroness zum Geschäftlichen übergingen.

„Die Sachen, die Sie neulich für die Band geschneidert haben, waren ungeheuer schick“, sagte die Baroness. „Könnten Sie sich eventuell vorstellen, mir ein weißes Kostüm zu nähen? Ich hätte gern eins für die Einweihungsfeier des neuen Einkaufszentrums. Es soll etwas ganz Besonderes sein.“

„Versuchen könnte ich es“, antwortete Julians Mutter und blinzelte mehrmals hintereinander.

„Den Preis“, sagte die Baroness, „bestimmen Sie natürlich selbst.“

Sie goss sich sprudelnde Brause ins Glas, nahm einen Schluck und stellte das Glas zurück auf den Tisch.

Julian kniff beide Augen fest zusammen. Dann machte er sie wieder auf. Und starrte gebannt auf das Brauseglas.

Die Stimmen der beiden Frauen drangen wie durch Watte an sein Ohr.

Aus dem Brauseglas der Baroness stiegen kleine Bläschen auf. Aus dem Glas. In die Luft. Immer höher. Bis unter die Zimmerdecke, wo sie schwebend hängen blieben. Sie sahen aus wie winzig kleine Seifenblasen. Aber das waren keine Seifenblasen. Das waren die Kohlensäurebläschen aus der Brause der Baroness. Ein eigenartiger Anblick war das.

Julian schielte zu seiner Mutter, aber die hatte nichts gemerkt.

Die Brause der Baroness sah abgestanden aus.

Unauffällig sah Julian zur Decke hoch, unter der immer noch die kleinen, schwebenden Bläschen hingen. Ganz merkwürdig war das. Unerklärlich. Oder?

Hexenspucke trennt Dinge, dachte Julian. Und diesmal lachte er nicht.

Wenig später sah er durchs Fenster die Baroness in ihr fantastisches Silberauto steigen und davonsausen.

Julian im Zaubermoor

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