Читать книгу Cricketfield Road - Boris Born - Страница 4
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ОглавлениеGroße Balken. Riesige Nägel ragen aus den Balken heraus. Ich trage die Balken, wie Jesusdarsteller das Kreuz in amerikanischen Filmen tragen. Ich breche dauernd zusammen, bis ich alle Balken, ungefähr zehn, endlich auf der Kreuzung vor meinem Fenster gestapelt habe. Dann fahren viele Autos in den Balkenberg. Es knallt, Glas splittert, Reifen platzen, Wagen verkeilen sich. Ich winke hinaus und schwenke eine Fahne. Ich stehe am Fenster und lache.
Eine Autobahn. Ich sitze am Steuer, kuppele, bremse und gebe Gas. Ich verpasse eine Abfahrt. Ich rauche am Steuer eine Zigarette. Der Rauch geht in mein Auge. Er frisst sich tiefer. Das Auge tränt. Ich stehe im Stau. Alle steigen aus und spazieren herum. Dann geht es endlich weiter. Nach ein paar Kilometern ist wieder ein Stau. Mein Auge tränt immer noch. Ein Schneesturm kommt auf. Endlich löst sich auch dieser Stau auf. Ich drücke mit den Fingern auf das Jochbein und die Augenbraue. Das Auge fällt heraus. Es ist ein Glasauge. Ich nehme auch das andere heraus. Es ist auch aus Glas. Ich sehe mich vom Rückspiegel aus an und erschrecke vor meinen Augenhöhlen. Ich steige aus. Der Schnee ist nun meterhoch. Ich kann ihn nicht sehen, aber er ist überall, unter mir, neben mir, über mir. Ich grabe mich durch die kalten Massen.
Ich fahre mit einem dunkelblauen VW Käfer durch Berlin. Ein alter Schulfreund hat ihn mir geliehen. Ich kuppele dauernd und schalte. Kuppeln und schalten. Kuppeln und schalten. Verkrampft halte ich das Lenkrad, das mir zu groß vorkommt. Ich fahre ganz langsam. Ich krieche kleine Straßen entlang. Ich habe Angst, das Auto zu beschädigen. Ich suche eine Parklücke, die für das Auto groß genug ist. Ich sehe eine, aber ich weiß, dass ich niemals einparken kann, da ich gar nicht Auto fahren kann. Ich fahre weiter. Aber ich kann das Fahren einfach nicht bremsen, da ich gar nicht Auto fahren kann. Dann kann ich nicht lenken, da ich gar nicht Auto fahren kann.
Wach. Liege wach. Bin es. Zungenweh. Wäre es still, so wäre es in Ordnung. Ohne Lärm wäre alles erotisch. Die Stille würde mich gesund und schön machen. Bremsen. Anfahren. Die Motoren heulen, als hätte man die Seelen hunderter Pferde in sie gepresst. Sie wiehern. Mopeds schluchzen wie Giraffenseelen. Giraffen? Giraffen, das sind schöne Tiere. Giraffen heulen bestimmt herzergreifend, vielleicht wie Mopeds. An der Zimmerdecke wehen graue Reste von Spinnweben.
Wie konnte ich nur! Wie konnte ich nur diesem Mann 5 Pfund geben? Wieso habe ich Ananas gegessen? Augen zu!
Der Lärm. Der Lärm. Die Ohren krümmen sich. Sie knicken ab, wie Sonnenblumen im Sturm. Sie winden sich. Sie versuchen der Nacht und dem Tag zu entkommen. Ich liege hier und es ist laut. Ich bin verletzt und es ist laut. Ich halte die Ohren fest. Halte sie zu! Umklammere sie! Schütze sie! Verstopfe sie! Reiße sie ab!
Ein Schnurrender. Ein Bretternder. Ein Pfeifender. Ein Kaputter. Ein Röhrender. Ein Holpernder. Ein Singender. Ein Balzender. Ein Niesender. Ein Knurrender. Einer mit Ketten im Getriebe. Eine Sirene. Brummen. Summen. Beben. Zittern. Quietschen. Zirpen. Singen. Kreischen. Schreien. Schüsse. Explosionen. Hirsche. Meerschweinchen im Schwitzkasten. Bellende Hunde. Die Straße balzt um sich selbst. Der Asphalt raschelt. Der Asphalt klebt. Der Asphalt macht sie heiß.
Eine Sekunde. Eine Sekunde. Eine Sekunde.
Nichts. Elend. Mürbe. Trübe. Reißen. Reißen. Rupfen. Schubsen. Treten. Gewalt. Gewalt. Ich will zerstören. Ich habe kein Auto! Ich habe nicht mal einen Führerschein! Ich will nichts führen. Ich will keine Spur. Ich will nicht dabei sein. Ich folge nicht den Schildern. Ich kenne die Zeichen nicht. Ich kenne keine Regeln, keine Symbole. Aber schon ist ein Fuß ein Symbol und eine Hand ist eine Regel. Ich will nicht dieses lärmende Nichts. Es quält mich. Es reißt mich an sich, als sei ich das Nichts. Aber schon ist ein Bein ein schwarzes Loch und ein Ellbogen ist aus Mondgestein. Dunst. Morgendunst. Wach. Wach liegen. Aufstehen! A u f s t e h e n !
Die Beine sind stackig, giraffig. Wo ist die Hose? Da. Rotes Sofa. Rotes Sofa. In den Ritzen werde ich alle Dinge finden, die ich verloren habe. Alles werde ich in diesem Sofa verlieren. Frühstücken. Wird nichts. Nicht mit dieser Verletzung. Warum bin ich so früh auf? Kopfschmerzen? Feuer im Mund. Dickes Feuer.
Die Post! Bestimmt ist das Geld dabei. Ich fahre mit der Hand durch den Briefkastenschlitz.
Es ist nicht dabei! Bestimmt hat er erst die Frau ins Krankenhaus gebracht, dann war die Geburt und er bringt das Geld im Laufe des Tages. Oder es kommt morgen mit der Post.
Aus dem Mund kommt nur noch Grunzen. Kein „Hallo“! Kein: „Bitte geben Sie mir ein...“! Kein Mucks! Was mache ich nun?
Als erstes muss ich mich krank melden. Wie? Am besten schreibe ich kurze Briefe.
„Dear Mr. Connell. Unfortunaly I had an accident and now I can’t work, because I hurt my tongue... .“
Nächsten:
„Dear Gerd, ... .“
Und:
„Dear Evelin, ... .“
In Umschläge damit. Fertig.
Kassensturz. Ungefähr noch 100 Pfund. Wieviel Instantsuppen sind das? Dieser Unfall wird eine Überlebensfrage. Man bin ich wütend.
Also muss ich sparen. Die CD von David Bowie und den chinesischen, blauen Minirock werde ich nicht kaufen. Neben dem Bett liegt noch Kleingeld. Ein Pfund 34 Pence. Na ja. Die Miete wird ein Problem.
Im Fernseher stehen 4 Experten um einen Tisch. Auf ihn sind Bäume und Gras geklebt. Es stellt die Schlacht von Waterloo nach.
Ein Ex-General erklärt an Zinnfiguren, wie die Schlacht anders verlaufen wäre, wenn... wenn... Die Anderen haben andere Theorien und schimpfen. Sie verrücken die Figuren, eine Reihe fällt um. Kleine Kanonen werden auf einen nahen Hügel geschoben.
Kriechen, kriechen, kriechen.
Wenn ich jemals wieder sprechen kann, werde ich alles Unwichtige weglassen. Ja, ich werde auch das Sprechen nur noch sparsam benutzen. Abgemacht? Abgemacht!
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gräbt eine Frau einen Vorgarten um. Dann verlegt sie Steinplatten. Dann ist kein Grünzeug mehr da und sie stellt große Töpfe mit Pflanzen auf die Platten.
Gesellig sein ist doch auch nur eine Form von Einsamkeit. Gesellig sein ist vielleicht sogar die hungrigere Art von Einsamkeit. Es ist gut mal nicht zu sprechen. Außerdem hat Sprechen auch was mit Krach zu tun. Und ich will einfach keinen Krach mehr. Eigentlich sollte ich mir die Trommelfelle durchstoßen. Ich bin den Verrückten in ihren Blechhaufen sowieso schon näher gekommen. Denn ohne Sprache bin ich abgeschnitten, wie sie. Jetzt brauche ich eine Zeichensprache, wie sie. Kommunizieren heißt jetzt Zeichen werfen, wie sie.
Ist die Zeichensprache eigentlich international oder in jeder Sprache verschieden? Schere.
Taub ja, aber stumm? Nein, nein, ich will wieder Lärm machen können. Wie alle anderen auch. Und ich will küssen können. Oh, beinahe hätte ich das Küssen vergessen!
Ab morgen werde ich die englische Taubstummensprache lernen. Instantsuppen sind schrecklich. Isst man eine, isst man zwei oder drei. Dann ist einem übel.
Im Supermarkt sehe ich mich um. Die Instantsuppen gefallen mir gar nicht. Sie sind voller Konservierungsstoffe. Ich gehe zu den Konserven. Ein Angestellter spioniert hinter einem anderen Angestellten her. Ich stelle ein paar Dosen mit Makrele in den Stahlkorb. Dann gehe ich in die Abteilung, wo auch die Zahncreme ist und entdecke desinfizierende Halspastillen. Ich lese den Beipackzettel und lege sie auch in den Korb. Drei kleine schwarze Gören bewerfen mich an der Kasse mit Bonbons. Dann sieht es die Mutter und verteilt Ohrpfeifen.
„Lasst ihr das wohl!“ schreit sie dabei. Aber die drei rennen davon und lachen. Sie beschmeißen nun auch andere Leute an den Kassen.
Endlich wieder zu Hause. Ich gehe kurz rauf zu Pete, aber er ist schlecht gelaunt und schweigt sich aus.
Im Flimmerkasten kommt „Neighbours at war“. Es geht um eine Frau, die immer nachts die Pflanzen im Vorgarten einer anderen Frau ausreißt. Sie ist tagsüber immer ganz nett und zuvorkommend. Aber Frau A ist ganz pfiffig und lässt eine automatische Kamera auf dem Dach installieren. So gelingt es ihr, die böse Frau B beim Ausreißen zu filmen. Sie ist eifersüchtig auf den Garten von Frau A. Resümee: Kameraüberwachung ist eine gute Sache und auch im privaten Bereich durchaus empfehlenswert.
Ein kühler Wind. Ich setze meine Mütze auf und gehe schnell.
Ich überlege, wo der 5 Pfund Mann sein könnte? Vielleicht auf der Graham Road - nein eher in der Hackney Downs Road - auch nicht. Auch nicht.
Vielleicht ist es noch zu früh? Nein, genau elf, genau wie gestern. Vielleicht bei Mc Donalds. Oder weiter oben bei Abbeys Bank? Nein! Wahrscheinlich ist es aussichtslos. Zwecklos. Ohne Sinn sowieso. Vielleicht in den Kneipen. Railway Tavern – nein, nein, elf Uhr – die haben alle schon zu. Der da hat noch offen. Na, das ist ja erstaunlich. Der macht bestimmt gleich zu. Ich lasse es auf einen Versuch ankommen und überquere die Straße. Gute Musik. Ein bisschen laut vermutlich. Übertönt aber die Riesenkreuzung an der der Pub liegt. Pembury Tavern steht dran. Drei Eingangstüren, alle offen, jede zu einer anderen Straße hin. Die mintgrüne Farbe platzt von den Wänden, draußen wie drinnen, in großen Flatschen. Rotes und blaues Licht - es tanzt gespenstisch und grell um meine Augen. Schweiß und Rauch. Billardtisch, Dartscheibe, Fernseher, 15 Meter lange Theke - alles wie in jedem Pub, nur größer - eine kleine Halle.
Der 5 Pfund Mann? Nein. Hier sind kaum Leute. Vereinzelte Pärchen hocken in den Ecken. Fast alles Frauen! Eine Lesbenbar. Fest umschlungen tanzen sie zu der ohrenbetäubenden Musik. Manche küssen sich leidenschaftlich. Eine Frau hat ihren Kopf unter die Bluse einer anderen gesteckt.
Ich gehe an die Bar. Eine männliche, muskulöse Frau mustert mich. Eine rundliche, elegante ignoriert mich. Ich lächele einer stark geschminkten zu.
Eine Karaokeveranstaltung fängt an. Die Frauen singen abwechselnd zu Popsongs. Auf einem Computer erscheinen die Texte. Eine Kurzsichtige stellt sich mit dem Mikro dicht vor den Bildschirm und singt mit verkniffenen Augen.
Eine Pause. Spannung. Zittern, Flimmern. Flittern. Eine weiße Frau springt auf die Bühne, sie trägt ein weißes Kleid. Eine schwarze Frau in hautengem, roten Kleid setzt sich auf die Bühnenkante. Sie dreht langsam ihre Beine auf das Podest und steht vorsichtig auf. Gesehen - unter dem Kleid hat sie nur etwas ganz Knappes an. Sie singen ein Duo. Dazu stellen sie sich gegenüber auf und singen sich ihre Parts zu. Die schwarze Frau hat einen Männerpart. Das enge Kleid spannt bei jedem Luft holen.
Alle anderen Frauen tanzen wild los. Sie pfeifen und schreien. Ein betrunkener Opa steht von seinem Barhocker auf und gibt „standing ovations“. Sein Holzstock fällt dabei hin. Ich hebe ihn auf und halte ihn ihm entgegen. Weil er nicht kapiert hat, dass es eine Lesbenbar ist, will er mich begeistert küssen. Aber ich reiße mich los, wirbele auf die Tanzfläche und hampele unkontrolliert herum.
Außer Atem und mit starken Schmerzen in der Zunge setze ich mich auf ein biergetränktes, blutrot gepolstertes Höckerchen. An einer Seite quellen seine fusseligen Innereien heraus.
Auf dem arabischen Tischlein steht eine dunkle Pfütze. Das Bierglas hat einen Fettfilm. Wie das Bier brennt. Es wird schwarz in meinem Kopf. Ich würge, aber das Bier läuft über meine Jacke. Enttäuscht gebe ich das Biertrinken auf.
Eine Frau mit einem kurzen Röckchen und einem weißen Schürzchen singt ein irisches Lied. Sie singt sehr falsch und grinst mich dabei an. Ich blicke böse zurück.
Der Opa mit dem Stock und sein Kumpel melden sich am Mischpult für einen Song an. Sie haben ihn ewig aus einem Katalog ausgewählt.