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Kapitel 1: Von Jesus zum Text – und zurück

Jesus verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im nördlichen Palästina, in einer Region namens Galiläa. Auch sein öffentliches Wirken dürfte auf Galiläa konzentriert gewesen sein. Er sammelte Freunde und Gefährten um sich, die ebenfalls aus dieser Region stammten. Die Gegend war hauptsächlich jüdisch geprägt, doch gab es auch eine heidnisch geprägte Präsenz. Sepphoris im Unterland von Galiläa wurde von Herodes Antipas, dem Herrscher von Galiläa und Peräa, zu seiner Hauptstadt ausgebaut und erhielt unter anderem ein großes Theater. Antipas gründete um 20 n. Chr. Tiberias am Westufer des Sees Gennesaret, um Sepphoris als Hauptstadt zu ersetzen. Tiberias galt den Juden als unrein, weil es über einem alten Friedhof errichtet war. Es wurde daher vornehmlich mit Heiden besiedelt.

Die Evangelien schildern Jesus als jüdischen Wanderprediger in dieser Gegend. Eine Tätigkeit in Tiberias wird allerdings nicht erwähnt, ebenso wenig ein Aufenthalt in Sepphoris. Das Markusevangelium berichtet von Reisen in die benachbarte Dekapolis und an das angrenzende Syrien, das Matthäusevangelium nimmt Teile davon auf. Das Lukasevangelium erwähnt einen längeren Aufenthalt in Samarien. Lediglich das Johannesevangelium berichtet von mehrfachen Reisen nach Jerusalem.

In all diesen Gegenden hat Jesus höchstwahrscheinlich seine Muttersprache Aramäisch gesprochen. Trotzdem gibt es eine Generation später auf Griechisch verfasste Evangelien. Die historisch interessante Frage dabei ist: Wie kommt es dazu, und warum dauert es an die 40 Jahre, bevor überhaupt Texte erscheinen, die uns heute überliefert sind? Was ist in der Zwischenzeit passiert?

A. Drei Phasen der Entstehung der Evangelien

Die moderne Forschung teilt die Geschichte der Entstehung der Evangelien in drei Phasen ein. Während die Einteilung selbst eher wenig umstritten ist, wird heute häufig darüber diskutiert, was in den einzelnen Phasen eigentlich passiert ist und wie man sich die Entstehung der Evangelien denken sollte.

Die drei Phasen der Entstehung der Evangelien sind eine moderne Hypothese, die zu erklären versucht, wie es zu den Evangelien gekommen ist, warum sie geschrieben wurden und warum sie teilweise unterschiedliche und teilweise gemeinsame Materialien enthalten. Im 19. Jh. und im ersten Teil des 20. Jh.s wurde diese Theorie von protestantischen Neutestamentlern entwickelt, die sich mit der Frage nach dem „Sitz im Leben“ der verschiedenen Texte auseinandersetzten. Eminentes Beispiel ist Rudolf Bultmanns 1921 erschienene „Geschichte der synoptischen Tradition“, noch immer ein Standardwerk zur neutestamentlichen Formgeschichte. In einer Instruktion der Päpstlichen Bibelkommission von 1964 über die historische Wahrheit der Evangelien wird dieses Modell herangezogen, um zu erklären, dass die Evangelien zwar historische Fakten enthalten, aber nicht als Ganzes historische Wahrheit sein können. Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt dieses Modell in der dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ wieder auf.

a. Das öffentliche Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu (bis ca. 30)

Während seines Lebens wirkte Jesus Wunder, tat Außergewöhnliches, predigte die Herrschaft Gottes. Unter den vielen Menschen, denen er begegnete, wählte er ihm besonders nahestehende Jünger. Ihre Erinnerungen wie auch die Berichte von anderen Augenzeugen formen später das Rohmaterial für die Jesus-Traditionen. Diese Erinnerungen waren selektiv und wurden im Laufe der Zeit sicher auch noch weiter sortiert. Zu diesen Erinnerungen gehörte, was zu Jesu Botschaft von Gott und seiner Herrschaft gehörte, vielleicht auch die trivialen Ereignisse des alltäglichen Lebens. Es sind Erinnerungen an einen Menschen, der in Galiläa und Jerusalem gegen Ende der 20er Jahre des 1. Jahrhunderts aktiv war und der schließlich in Jerusalem grausam durch Kreuzigung hingerichtet wurde.

Jesus muss einen großen Eindruck bei seinen Mitmenschen hinterlassen haben, der dazu führte, dass sie sich später an Ereignisse und Taten aus seinem Leben erinnerten. In späterer Überlieferung ist das Ostererlebnis zwar der entscheidende Auslöser für die systematische Weitergabe der Erinnerungen an Jesus, aber auch sein Leben hatte Wirkung auf die Jüngerinnen und Jünger.

b. Die apostolische Zeit (30–65)

Die Erfahrungen mit dem irdischen Jesus und der Glaube an seine Auferstehung bestärkten die jungen Gemeinden in der Überzeugung, dass in Jesus Gott sein heilsmächtiges Wirken an Israel endgültig gezeigt und bestätigt hat. Dieser Glaube wurde formuliert in Hoheitstiteln für Jesus, in Bekenntnis- und Glaubensformeln wie auch in Gebeten. Der Osterglaube erhellte und färbte ihre Erinnerungen an das irdische Wirken Jesu. Diese Phase wird „apostolisch“ genannt. Die Boten der neuen Verkündigung waren sich gewiss, vom auferstandenen Christus gesandt (griechisch: Apostel) zu sein.

Von Anfang an hat es sich bei diesen Boten um Frauen und Männer gehandelt. Paulus schreibt ganz selbstverständlich von Junia als einer Frau, die herausragend unter den Aposteln ist (Röm 16,7), während in Apg 16,40 die Purpurhändlerin Lydia offensichtlich die Gemeinde in Philippi leitet. Die Evangelien berichten, dass es unter denen, die Jesus von Anfang an nachfolgten, eine ganze Reihe Frauen gab. Anders als die männlichen Jünger waren diese Frauen auch bei der Kreuzigung anwesend (Mk 15,40–41). Die Evangelien berichten außerdem einmütig, dass es zunächst Frauen waren, die Zeugen der Osterbotschaft waren.

In die apostolische Zeit fällt auch die Notwendigkeit des Adaptierens der Botschaft – und damit der Erinnerungen – an neue kulturelle, politische und religiöse Gegebenheiten. Die Ausbreitung des Christentums über die Grenzen Palästinas hinaus in die heidnisch-hellenistische Welt erfordert eine Anpassung der Botschaft. Manchmal sind solche Adaptionen lediglich von äußerlichen Umständen abhängig, wie die Änderung der in Palästina üblichen Lehmdachkonstruktion in Mk 2,4 zu einem für griechische Menschen vertrauteren Schindeldach in Lk 5,19. Andere Umformulierungen sind ungleich bedeutsamer.

Das Markusevangelium muss plötzlich erklären, was jüdische Reinheitsvorschriften sind und wie sie funktionieren (Mk 7,3–5). Offensichtlich richtet sich das Evangelium an Menschen, die mit solchen Bräuchen nicht mehr vertraut sind. Damit stellt sich auch die Frage nach der Gültigkeit des jüdischen Gesetzes und der damit verbundenen Beschneidung für die neuen heidnischen Christen. Auf den Punkt gebracht, lautet die neue Herausforderung: Muss man Jude werden, um Christ sein zu können? Und wie soll das Verhältnis zu Juden aussehen, die sich nicht den Jesus-Jüngern anschließen?

Die Antworten auf solche Fragen werden in der Lehre Jesu gesucht. Man ist überzeugt, dass die Botschaft und die Person Jesu eine Lösung für solche Fragen bieten. Die mündliche Überlieferung wird daraufhin geschärft und konzentriert. Gleichzeitig werden als unwichtig geltende Dinge nicht weitergegeben. Deshalb wissen wir auch nicht, wie Jesus ausgesehen hat oder was er vor seinem öffentlichen Auftreten in Galiläa gemacht hat. Die Überlieferung ist auch ein Konzentrationsprozess.

Obwohl diese Phase oft als Zeit der apostolischen Predigt bezeichnet wird, ist eine Beschränkung auf Predigt oder Verkündigung zu kurz gegriffen. Liturgie und Gottesdienst wurden Teil christlichen Lebens. Damit wurde auch gottesdienstliche Sprache Teil der christlichen Überlieferung. Spuren dieser Sprache finden sich auch in den Jesustraditionen wieder, z. B. Mt 7,21.

In diese Periode könnten auch die ersten schriftlichen Sammlungen von Jesusmaterial erstellt worden sein. Der Kirchenvater Papias von Hierapolis erzählt zu Beginn des 2. Jahrhunderts, dass ein gewisser Matthäus Herrenworte auf Hebräisch oder Aramäisch niedergeschrieben habe, die von anderen Predigern benutzt und interpretiert wurden. Papias dürfte nicht das Matthäusevangelium gemeint haben, wohl aber eine lose Sammlung von Traditionen, die schriftlich aufgezeichnet wurden.

Forscher beginnen oft mit einer grundsätzlichen Unterscheidung des Johannesevangeliums von den anderen Evangelien, die synoptische Evangelien genannt werden. Das griechische Wort „synoptisch“ trägt der Auffassung Rechnung, dass man die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas „zusammen sehen“ muss. Sie haben so viel Material gemeinsam, dass die Vermutung naheliegt, dass sie nicht unabhängig voneinander entstanden sind. Etwa 90% des Markusevangeliums sind auch im Matthäusevangelium präsent, während das Lukasevangelium etwa 65% des markinischen Materials enthält. Neben dieser dreifachen Tradition gibt es noch eine zweifache, in der das Lukasevangelium und das Matthäusevangelium je nach Zählung etwa 220–235 Verse gemeinsamen Materials verarbeiten. Die Ähnlichkeiten gehen dabei von inhaltlichen Ähnlichkeiten bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen.


Abbildung 1: Die Zwei-Quellen-Theorie

Dieser Befund lässt vermuten, dass die drei synoptischen Evangelien in ihrer Entstehung voneinander abhängig sind. Wie genau diese Abhängigkeit aussieht, ist allerdings umstritten. Die Mehrheit der Forscher erklärt die Abhängigkeit mit der Zwei-Quellen-Theorie. Nach dieser Theorie benutzten Matthäus und Lukas das Markusevangelium unabhängig voneinander und bedienten sich außerdem einer Quelle, die aus wenigen Erzählungen und zumeist aus überlieferten Aussprüchen Jesu bestand. Daher wird sie oft Spruch- oder Logienquelle genannt, abgekürzt Q. Diese Quelle würde erklären, warum Matthäus und Lukas derart viel gemeinsames Material haben, das nicht durch Markus überliefert ist. Zudem geht man in der Regel davon aus, dass Q in schriftlicher Form vorgelegen haben muss. Neben den zwei Quellen benutzten Matthäus und Lukas auch Eigenmaterial, das mit M bzw. L abgekürzt wird.

Eine Rekonstruktion von Q aus den in Matthäus und Lukas erhaltenen Materialien zeigt eine Schrift, die zuvorderst ein Aufruf zur Umkehr gewesen ist. Gott als den Herrn zu erkennen heißt, Jesus nachzufolgen. Nachfolge besteht darin, dass man wie Jesus wird (Lk 6,40), der nirgendwo einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Lk 9,58). Wer Jesus nachfolgen wollte, war aufgefordert, Heimat, Besitz und Familie zu verlassen, um das Evangelium zu verkünden. Aufgabe materieller und familiärer Bindungen wird als Notwendigkeit für die gesehen, die sich ganz der Herrschaft Gottes widmen wollen. Diese Haltung wird als Wanderradikalismus bezeichnet und steht im Horizont der bald erwarteten Wiederkunft Jesu, die in einigen eschatologischen Sprüchen aufgearbeitet wird. Eine Passionsgeschichte, eine Interpretation des Todes Jesu als Heilsereignis oder eine Erzählung der Auferstehung liegen in Q noch nicht vor, während das Ende der Zeit und die Wiederkunft Jesu erwartet werden. Q war wohl ein Dokument, das die Jesusgläubigen auf die einbrechende Zukunft eines endzeitlichen Gerichts mit der Wiederkehr des Menschensohnes vorbereiten sollte. Es tat dies in einer Form, die hauptsächlich Sprüche Jesu sammelte und redigierte. Erzählungen wie Heilungen oder gar der Versuch einer biographischen Verortung dieser Sprüche fehlen noch.

Unter den Q-Forschern besteht weitgehender Konsens, dass Lukas die Reihenfolge der in Q enthaltenen Sprüche enger befolgt als Matthäus. Während in Matthäus das Q-Material oft in Einzelsprüche zersplittert ist, findet es sich bei Lukas in größeren Blöcken. Daher wird Q auch in der Regel mit den Kapitel- und Verszahlen des Lukasevangeliums zitiert. Gleichzeitig geht man auch davon aus, dass Lukas das Q-Material in bessere griechische Sprache gießt, während Matthäus eher dem Wortlaut folgt.

Der genaue Umfang von Q ist schwer zu erschließen. Es ist durchaus möglich, dass Q umfangreicher war, als die Rekonstruktionen nahelegen. Wenn Lukas nur etwa 65% von Markus überliefert, dann ist es durchaus denkbar, dass er auch Q gekürzt hat. Dies würde aber bedeuten, dass Matthäus einiges Material enthält, das zu Q gehören könnte, ohne dass dies noch rekonstruierbar wäre. Dies Argument belegt zunächst einfach den hypothetischen Charakter jedweder Rekonstruktion von Q, selbst wenn die Existenz von Q als wahrscheinlich gelten darf. In diesem Buch wird jedenfalls von der grundsätzlichen Richtigkeit der Zwei-Quellen-Theorie ausgegangen. Damit erklärt sich auch, warum in der Reihung hier das Markusevangelium vor Matthäus und Lukas behandelt wird.


Abbildung 2: Möglicher inhalt von Q

Einigen Forschern scheint Q zu hypothetisch. Sie folgen entweder der Griesbach-Hypothese oder der Farrer-Hypothese. Nach Johann Jakob Griesbach (1789) wurde das Matthäusevangelium zuerst verfasst, Lukas benutzte Matthäus, und schließlich ist Markus eine Zusammenfassung beider. Während die Griesbach-Hypothese auf den ersten Blick einfacher scheint, kann sie nicht erklären, warum die sprachlich sehr viel eleganteren Evangelien von Markus in einem eher hölzernen Griechisch zusammengefasst sein sollten. Es scheint plausibler, von einer Erweiterung und Glättung des markinischen Materials auszugehen. Austin Farrer (1955) nahm an, dass Markus das erste Evangelium war, auf das Matthäus folgte. Lukas hingegen benutzte nicht nur Markus, sondern auch Matthäus.

In der neueren Forschung ist umstritten, welche Rolle mögliche schriftliche Zeugnisse schon in dieser Zeit spielten. In einer ersten Beobachtung stellt man fest, dass in den gemeinsamen Stellen der synoptischen Evangelien doch auch sehr viele kleine und große Unterschiede in Details und Formulierungen zu bemerken sind. Besonders deutlich sind solche Unterschiede in vielen Gleichnissen und Wunderheilungen.


Abbildung 3: Unterschiede in ähnlicher Erzählung

Solche Unterschiede nun könnten Hinweise darauf sein, dass die mündliche Tradition eine viel wesentlichere Rolle spielte als bisher angenommen. Diese Beobachtung erhält umso mehr Gewicht, hält man sich vor Augen, dass die Alphabetisierungsrate in der antiken Welt ausgesprochen niedrig gewesen ist. Gerade bei Rekonstruktionen von Q fallen auch sprachliche Unterschiede und Abweichungen stark auf; möglicherweise kann man sich also Q auch als mündliche Tradition vorstellen, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich weitergegeben wurde. Allerdings spricht hier die unterschiedliche Aufnahme des Markusevangeliums durch Matthäus und Lukas gegen den vorschnellen Schluss, Q habe lediglich in mündlicher Form existiert. Es ist aber durchaus möglich, dass es neben einer schriftlichen Form auch eine mündliche Tradition von Q gab.

c. Zeit der Abfassung der Evangelien (ab ca. 65)

In der Zeit zwischen 65 und 100 n. Chr. wurden wahrscheinlich alle vier Evangelien geschrieben. Sie entstanden als anonyme Schriften und enthalten keinerlei Angaben zu Verfassern. Kirchenväter am Ende des 2. Jahrhunderts schreiben zwei dieser Evangelien den Aposteln Matthäus und Johannes zu, die anderen beiden den apostolischen Zeugen Markus als einem Petrusschüler und Lukas als einem Paulusschüler.

Die meisten Forscher heute stimmen überein, dass mit dieser Namensgebung die apostolische Autorität der Evangelien bezeugt werden soll. Bekannte Figuren der Zeit der apostolischen Predigt werden so zu Garanten der Treue zur Tradition und der Kontinuität zum irdischen Jesus. Dabei ist durchaus denkbar, dass die Apostel tatsächlich als Traditionsträger hinter den Evangelien stehen, die dann von ihren Schülern weitergegeben werden; ausgedrückt wird eine solche Situation in Joh 21,24–25, wo auf einen Begleiter Jesu als Augenzeugen und Autor des Evangeliums hingewiesen wird, gleichzeitig aber ein weiterer Autor davon erzählt.

Den Evangelisten kam es zu, die verschiedenen Traditionen über Jesus zu bündeln und in eine Form zu gießen, die auch disparates Material miteinander verbinden kann. Die Leistung der Evangelisten wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Vertreter der historisch-kritischen Methode sehen oft den Großteil der synthetischen Leistung schon in der vor-evangelischen Zeit geleistet, während andere davon ausgehen, dass eine theologische und literarische Synthese wie die der Evangelien an einen Evangelisten gebunden ist. Sicher ist, dass allein schon die Schaffung einer neuen literarischen Gattung, des Evangeliums, eine herausragende Leistung ist.

Erstaunlich ist, dass nach der langen Zeit ohne Evangelien plötzlich innerhalb von etwa 35 Jahren gleich vier Evangelien mit einigen Ähnlichkeiten, aber auch mit markanten Unterschieden auftauchen. Dabei ist anzunehmen, dass verschiedene Traditionsprozesse mit lokal bedingten Variationen zu verschiedenen Evangelien geführt haben. Dies allerdings legt die Vermutung nahe, dass schon in der apostolischen Phase verschiedene Traditionsstränge mit unterschiedlichen Akzenten gebildet wurden. Die Traditionen über Jesu Werke und Lehre dürften also schon sehr früh in unterschiedlichen Ausprägungen existiert haben.


Abbildung 4: Beispiele apokrypher Evangelien

In der Zeit nach der Schaffung der vier neutestamentlichen Evangelien machten sich weitere Autoren an die Abfassung von Schriften, die die erzählerischen oder vermeintlich theologischen Lücken in den kanonischen Evangelien ausfüllen wollten. So gibt es beispielsweise ausführliche Geschichten von der Kindheit Jesu. Diese Schriften tragen oft den Titel „Evangelium“, wurden allerdings wegen ihrer phantasievollen Ausschmückungen nicht in den verbindlichen Kanon der Kirche aufgenommen. Man betrachtet sie am besten als fromme Erbauungsliteratur. Sie werden als apokryphe Evangelien bezeichnet.

B. Schlussfolgerungen aus der Entstehungsgeschichte der Evangelien

Trotz der apostolischen Autorität hinter den Evangelien erklärt die Distanz der Autoren von den Ereignissen um Jesus die Unterschiede in den Schriften. So ist es plausibel, dass die Autoren auf der einen Seite ähnliche Traditionen in die Evangelien aufnehmen, auf der anderen Seite aber auch auf lokale Gegebenheiten Rücksicht nehmen. Während das Markusevangelium jüdische Reinheitsvorschriften einer heidnischen Gemeinde erklären muss (Mk 7,3–4), braucht Matthäus dies für seine jüdisch geprägte Gemeinde nicht zu tun (Mt 15,2–3). Lukas hingegen lässt die gesamte Debatte über die Speisegebote aus, weil sie wahrscheinlich für seine Gemeinden keine Relevanz mehr hatte.

Nimmt man die Entstehungsgeschichte der Evangelien in den ausgeführten Schritten an, ergeben sich mehrere Konsequenzen:

– Die Evangelien sind keine Geschichtsschreibung des Lebens Jesu. Zwischen beiden liegen Jahrzehnte theologischer und pastoraler Aufbereitung der Jesusmaterialien. Manchmal ist es mit aufmerksamer und genauer Exegese möglich, Geschichte und Entwicklung voneinander zu trennen. In den seltensten Fällen ergibt das jedoch historische Sicherheit.

– Die These, dass die Evangelien keine historischen Berichte sind, wird manchmal dahingehend interpretiert, dass sie keine wahren Berichte über Jesus sind. Diese Interpretation wird allerdings dem theologischen und pastoralen Zweck der Evangelien nicht gerecht. Es ist viel eher plausibel, dass die Entwicklungen in der Traditionsbildung mit den historischen Ereignissen in einer Kontinuität stehen, als dass die Tradition die historischen Ereignisse grundsätzlich verdeckt.

– Solch ein Ansatz zu einer Antwort auf die Frage nach der Wahrheit der Evangelien ist für manche nicht zufriedenstellend, weil sich wohl nicht mehr endgültig entscheiden lässt, wie treu die Autoren dem historischen Jesus wirklich waren. Mehr noch, wie treu sind die Evangelisten der ursprünglichen Botschaft Jesu? Dies ist natürlich eine theologische Frage, die auch eine theologische Antwort in der Annahme der Schriftinspiration hat.

– Evangelienharmonien wie Tatians Diatesseron aus der Mitte des 2. Jahrhunderts oder das mittelalterliche Leben Jesu des Ludolfvon Sachsen sind daher auch sowohl historisch wie theologisch als Fehlleistung einzustufen. Historisch, weil sie die unterschiedlichen Traditionsprozesse ausblenden; theologisch, weil sie die gemeinsame Inspiration unterschiedlicher Schriften ablehnen.

C. Und zurück: Die Frage nach dem historischen Jesus

Obwohl die Evangelien nicht als historische Biographien gelesen werden können, sind sie doch die Hauptquellen für die Rückfrage nach dem historischen Jesus. Dass Jesus existiert hat, wissen wir auch durch Flavius Josefus und durch die Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus, der von der Hinrichtung Jesu durch Pontius Pilatus berichtet. Aber darüber hinaus geben diese Quellen keine weiteren Informationen.

Will man nun historische Details aus dem Leben Jesu herausfinden, ist man auf die Evangelien angewiesen. In der Forschung hat sich seit dem 18. Jh. ein Instrumentarium entwickelt, mit dem man versucht, den von den Evangelien verkündeten Christus vom historischen Jesus zu trennen. Die Suche nach dem historischen Jesus begann ernsthaft im 19. Jh. Eine zweite Welle folgte in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seit dem Ende des 20. Jh.s ist die dritte Welle noch nicht abgerissen.

Zu den in der historischen Jesusforschung verwendeten Methoden gehört vornehmlich die historisch-kritische Methode mit ihren verschiedenen Unterschritten. Sie erweist sich vor allem deshalb als immer noch geeignet, weil besonders seit dem Zweiten Weltkrieg die Erforschung und das Wissen um das Judentum zur Zeit Jesu enorme Fortschritte gemacht haben. Gleichzeitig sucht man mit Hilfe von Formkritik und Quellenkritik nach den ältesten in den Evangelien erhaltenen Traditionen. Ältere Materialien werden als glaubhafter angesehen als jüngere Entwicklungen in der Tradition.

Gelegentlich findet man in den Evangelien Anachronismen, die dem Interesse späterer Gemeinden geschuldet sind. So dürfte Mt 18,17 mit der Aufforderung, Konflikte unter den Jüngerinnen und Jüngern zur Kirche zu bringen, wohl eine späte Gemeindeentwicklung sein, die auch für die Erklärung von Petrus als dem Fels, auf den Jesus seine Kirche baut, verantwortlich gewesen ist. Der Begriff „Kirche“ wird Jesus fremd gewesen sein. Auf der anderen Seite sind Hinweise auf die Angehörigen, die Jesus für verrückt erklären und nach Hause bringen möchten (Mk 3,21), wohl historisch zuverlässig. Für eine spätere Gemeinde ist eine solche Geschichte dermaßen peinlich, dass Matthäus und Lukas sie nicht mehr berichten.

Zu beobachten ist, dass die verschiedenen Forscher jeweils Rekonstruktionen vorlegen, die hypothetisch sind. Drei Hauptthemen kehren mit unterschiedlichen Akzenten immer wieder:

– Erstens beschäftigt die Frage nach dem Verhältnis Jesu zum Judentum seiner Zeit. So wird er als unkonventioneller Jude, als marginaler Jude, als jüdischer Mystiker und Wundertäter oder auch als endzeitlicher Prophet beschrieben. Umstritten ist, ob Jesus sich selbst als Messias betrachtete. Oft wird diese Frage auch generell gestellt: Welches Selbstverständnis hatte Jesus?

– Zweitens wird immer wieder auf die Frage nach der Haltung Jesu zu religiösen und politischen Autoritäten eingegangen. So wird bei Jesus immer wieder eine Sozialkritik beobachtet, die bestehende Besitzverhältnisse grundsätzlich in Frage stellt. Auch die Predigt von der Gottesherrschaft wird oft als direkte Kritik am Römischen Reich gesehen.

– Drittens wird Jesus als eschatologischer Prediger verstanden, der die nahende Endzeit verkündet, die die Umkehrung aller Werte und Verhältnisse impliziert und die Herrschaft Gottes endgültig aufrichten wird. Umstritten ist in diesem Bereich besonders, ob sich Jesus selbst als den betrachtete, der diese Endzeit nicht nur predigte, sondern in ihrer Herbeiführung eine tragende Rolle einnahm.

Alle drei Themen sind natürlich miteinander verwoben und tauchen mit unterschiedlichen Akzenten in fast allen Jesusbüchern auf.

In den Jesusbüchern wird die Frage der Auferstehung in der Regel ausgeklammert. Dies schuldet sich der Einsicht, dass die Auferstehung für Historiker nicht mehr fassbar ist. Man kann belegen, dass Jesusgläubige von seiner Auferstehung überzeugt waren, aber ob ihnen der Auferstandene tatsächlich begegnet ist, lässt sich weder beweisen noch widerlegen. Hier trennen sich Geschichtswissenschaft und Theologie.

D. Rezeption und Interpretation der Evangelien

Mit der Niederschrift der Evangelien beginnt der Prozess der Rezeption und Interpretation. Die enorme Anzahl der Abschriften, die schon in der Antike unternommen wurden, geben Zeugnis von der schnellen und weiten Verbreitung der Evangelien. Inmitten dieser Vielfalt von Manuskripten besteht die erste Aufgabe darin, einen Text zu sichern, der möglichst nahe am Original ist.

a. Textkritik

Die ursprünglichen Texte sind nicht mehr erhalten, doch existieren Fragmente von Abschriften, die bis in das 2. Jh. zurückreichen. Allein an griechischen Fragmenten und vollständigen Texten sind über 5000 verschiedene Manuskripte erhalten. Dies ist auch für heutige Verhältnisse eine hohe Zahl, bedenkt man dazu noch, dass die Kopien von Hand angefertigt wurden. Die moderne Textkritik macht sich zur Aufgabe, aus den verschiedenen erhaltenen Fragmenten einen Gesamttext herzustellen, der möglichst nahe an die ursprünglichen Texte herankommt.

Dies bedeutet, dass der heute zugängliche Text ein rekonstruierter Text ist. In weiten Teilen des Neuen Testaments ist die Rekonstruktion mit sehr großer Sicherheit möglich, in einigen wenigen Abschnitten jedoch besteht Unsicherheit bezüglich der originalen Textform. Ein Beispiel für eine solche Unsicherheit ist Mk 1,1. Der rekonstruierte Text lautet: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“. Jedoch fehlt in den ältesten Handschriften der Titel „dem Sohn Gottes“ und wird daher als unsicher betrachtet. Moderne Ausgaben des griechischen Textes vermerken solche Unsicherheiten und Variationen in den Manuskripten in einem textkritischen Apparat. Bei gewichtigen Abweichungen werden diese gelegentlich auch in Übersetzungen deutlich gemacht.

b. Übersetzung

Die Aneignung der Texte setzt sich fort in Übersetzungen. Schon für Menschen in der Antike war Griechisch nicht immer verständlich; es entstanden Übersetzungen in verschiedene Sprachen. Papst Damasus beauftragte den Kirchenvater Hieronymus im Jahr 382 damit, die verschiedenen lateinischen Übersetzungen des Neuen Testaments in der Vulgata zu vereinheitlichen. Sie erfüllte eine ähnliche Funktion wie die Einheitsübersetzung heute, indem sie Liturgie und Bibelstudium für viele Jahrhunderte vereinheitlichte.

Was für die lateinische Bibel Hieronymus war, wurde für die deutsche Bibel Martin Luther. Obwohl es schon vor Luther deutsche Übersetzungen gab, setzte sich Luthers Übersetzung schnell als eine elegante Version durch, die bis heute großes Ansehen genießt und stark zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache beitrug.

Im deutschen Sprachraum gibt es heute neben der Einheitsübersetzung noch eine ganze Reihe anderer Übersetzungen, die sich verschiedener Anliegen annehmen. Manche suchen eher die Nähe zum Text in der Originalsprache. Dazu gehören Übersetzungen wie die Revidierte Elberfelder Bibel oder die Zürcher Bibel. Andere versuchen, den Text durchaus frei, aber sinngemäß in eine moderne Sprache zu kleiden. Dazu gehören die Gute Nachricht Bibel. Oft kommt es hier zu Paraphrasen der originalen Texte. Der Spagat, den jede Übersetzung zu leisten hat, ist der zwischen der Treue zur Originalsprache und der Verständlichkeit des Textes in der modernen Sprache. Bei liturgisch gebräuchlichen Übersetzungen kommt noch dazu, dass die Texte auch eine sprachliche Form haben sollen, die dem Anlass angemessen ist.


Abbildung 5: Übersetzungsvergleich für Mk 1,30–31

Ein typisches Beispiel für unterschiedliche Zugänge zu Übersetzungstechniken findet sich im Markusevangelium. Bei den Zeitwörtern wechselt Markus im Originaltext ständig zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsformen, oft sogar im gleichen Satz. Gleichzeitig beginnt Markus fast jeden Satz mit „und“ oder „und sofort“. Die Revidierte Elberfelder Bibel übersetzt beides sehr treu, man kann also diese Phänomene auch in der Übersetzung verfolgen. Daher eignen sich solche Übersetzungen sehr gut für das Bibelstudium in modernen Sprachen. Die Einheitsübersetzung glättet beide Phänomene, indem sie durchgängig Vergangenheitsformen verwendet und Sätze eher selten mit „und“ beginnen lässt. Dadurch wird der Text sehr viel leichter lesbar und in liturgischen Kontexten auch hörbar.

Ein besonderes Problem moderner Übersetzungen ist die Frage nach inklusiver Sprache. Es wird noch verschärft, wenn kirchliche Autoritäten ausdrücklich inklusive Übersetzungen für den liturgischen Gebrauch untersagen, wie geschehen mit der vatikanischen Instruktion Liturgiam Authenticam aus dem Jahr 2001. Hier werden moderne Sensibilitäten getroffen, die den antiken Autoren unbekannt waren. Oft benutzen die Evangelien männliche Pronomina, die aber auch Frauen mit einschließen. Dies in einer Übersetzung zu berücksichtigen ist äußerst schwierig. So heißt es in Lk 9,23 nach der Zürcher Bibel: „Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich, Tag für Tag, und so folge er mir!“ Die Bibel in Gerechter Sprache aus dem Jahr 2006 behilft sich mit einer Paraphrase: „Wenn ihr mir folgen wollt, so müsst ihr euch verleugnen und euer Kreuz tragen, jeden Tag, und mir nachfolgen!“ Schwieriger noch wird es bei männlich geprägten Gottesbezeichnungen wie „Vater“. Die Frage nach inklusiver Sprache ergibt sich jedoch zwingend aus dem Anspruch biblischer Texte und der Evangelien im Besonderen, Texte für alle Menschen zu sein, nicht nur Kuriositäten aus einem literarischen Antiquitätenkabinett.

c. Kanonbildung

Schon im 2. Jh. stellte sich die Frage, welche Evangelien überhaupt eine besondere Autorität genießen sollten. Markion (ca. 85–160), ein reicher Kaufmann in Rom und unter gnostischem Einfluss, stellte die Frage explizit, indem er behauptete, dass lediglich das Lukasevangelium, und dies nur in Auszügen, kirchliche Autorität genießen sollte; die anderen Evangelien seien zu sehr den jüdischen Gottesvorstellungen verhaftet. Während Markion sich nicht durchsetzen konnte, löste er doch eine lebhafte theologische Debatte aus. Gegen Ende des 2. Jh.s vertritt Irenäus von Lyon (ca. 135–ca. 202) die These, dass die vier Evangelien, neben anderen Schriften, eine besondere Autorität in der Kirche besitzen und als kanonisch gelten. Dieser Begriff leitet sich vom griechischen kanōn ab, was so viel bedeutet wie Maßstab oder Messlatte, ein im Bauhandwerk benötigtes Werkzeug.

Mit Irenäus war die Kanondebatte nicht abgeschlossen, sondern wurde weiter verfeinert und mit neuen Argumenten unterlegt. Tatsächlich zählte Irenäus nicht alle heutigen neutestamentlichen Schriften zum Kanon. Doch im Laufe der Zeit kristallisierten sich vier Kriterien heraus, mit denen die besondere Autorität der neutestamentlichen Schriften gefasst wurde:

– Die Schriften sind apostolischen Ursprungs.

– Die Schriften sind in der gesamten Kirche in Gebrauch.

– Sie eignen sich für den liturgischen Gebrauch.

– Alle Schriften transportieren in ihrer Verschiedenheit doch eine einheitliche Botschaft.

Die Kanondebatte hielt lange Zeit an, selbst Luther war noch geneigt, einige Bücher des Neuen Testaments aus dem Kanon auszuschließen. Doch die vier Evangelien waren ab dem Ende des 2. Jh.s nicht mehr umstritten. Athanasius von Alexandrien führt als Erster im Jahre 367 den neutestamentlichen Kanon in seinem heutigen Umfang an. Für die katholische Kirche wurde der Kanon vom Konzil von Trient im Jahr 1546 endgültig festgelegt.

Die Kanondiskussion zeigt, warum die Evangelien als Zeugnisse von Jesus ein so hohes Ansehen genießen. Sie sind auch heute noch der privilegierte Zugang zu den Taten und Lehren Jesu. Dies äußert sich darin, dass sie nicht nur dem privaten Studium oder einer kollektiven Theologie dienen. Sie bleiben der Maßstab, an dem sich christliche Authentizität und Glaubwürdigkeit messen lassen müssen. Daher bleiben sie auch zentrales Ereignis der liturgischen Feier des Glaubens.

d. Inspiration

In etwa gleichzeitig mit der Kanonbildung entstand in der theologischen Entwicklung auch die Idee der Inspiration. Grundsätzlich ist sowohl die Terminologie als auch die grundlegende Theorie der Inspiration schon im Neuen Testament selbst angedeutet: „Jede von Gott eingehauchte Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim 3,16).

Der zweite Timotheusbrief stellt hier zur Diskussion, dass es Schriften gibt, die „von Gott eingehaucht“ sind, so als ob Gott die betreffenden Schriften mit seinem Geist beatmet hätte. Der Kirchenvater Hieronymus (347–420), als großer Interpret und Übersetzer in die Geschichte der Exegese eingegangen, übersetzt das griechische Wort mit dem lateinischen Adjektiv inspiratus, inspiriert. Daher leitet sich der Begriff „Inspiration“ ab. Die theologische Entwicklung während der Zeit der Kirchenväter interpretiert diese Einhauchung so, dass Gott selbst der Urheber der Schriften ist. Grundsätzlich ist dies zunächst einmal eine sehr abstrakte These, die noch keine Angaben macht, wie sich menschliche Autorenschaft und göttliche Urheberschaft miteinander in diesen Schriften verbinden. Dazu hat es in der Kirchengeschichte mehrere Interpretationsmodelle gegeben, die teilweise heute noch Verwendung finden.

Mit dem Inspirationsbegriff sind zwei wichtige Thesen der Schriftauslegung untrennbar verbunden. Zum einen ist die Schrift ohne Irrtum („Inerranz“). Zum anderen ist die Kenntnis der Schrift ausreichend zum ewigen Heil („Suffizienz“). Diese beiden Themenkreise bestimmen ebenfalls die Inspirationsbegriffe.

Verbalinspiration bezeichnet die Auffassung, dass der Text in seinem wörtlichen Bestand dem menschlichen Autor von Gott eingegeben ist. Damit wird der menschliche Anteil an der Verschriftlichung minimalisiert. Varianten dieser Auffassung finden sich, wenn bestimmte Übersetzungen wie die Septuaginta oder die Vulgata als inspiriert im Gegensatz zu anderen Textformen gesehen werden. Wenn Gott selbst der Urheber der wörtlichen Wendungen ist, so ist dies natürlich auch an bestimmte Sprachen gebunden.

Grundsätzlich findet sich diese These schon bei Augustinus, führte allerdings erst im orthodoxen Protestantismus zu ihrer ausführlichen Formulierung. Heute wird diese These vor allem von konservativ-evangelikalen Gruppen vertreten. Gelegentlich finden sich Variationen auch in extrem konservativen katholischen Kreisen. Letztlich scheint die Liturgieinstruktion „Liturgiam authenticam“ zu einer solchen Verbalinspiration zu neigen, wenn sie die Nova Vulgata als authentischen Text zu definieren sucht.

Der Vorteil dieser Art der Schriftinterpretation ist, dass sie kaum Vermittlung braucht. Man geht einfach hin und nimmt die Anweisungen in der Schrift wörtlich.

Allerdings kann man auch beobachten, dass kaum eine Gruppe dies tatsächlich konsistent tut. Vor allem die jüdischen Gebote werden dann doch entschärft. Wenn jemand dafür argumentiert, dass Ehebrecherinnen heute mit dem Tod bestraft werden sollten, so sind dies meistens keine Christen mehr. Ähnliches gilt natürlich für andere Gebote wie das Vermischen verschiedener Gewebesorten oder das Verbot bestimmter Speisen. Auch neutestamentliche Verhaltensregeln werden heute oft nicht mehr wörtlich genommen, so beispielsweise das Verbot für Frauen, während des Gottesdienstes zu sprechen, oder die Verhaltensregeln für Sklaven gegenüber ihren Herren. Dies bedeutet natürlich, dass die Inerranz der Schrift de facto aufgegeben wird.

In der Regel kann man also schließen, dass selbst Gruppen, die sich zur Verbalinspiration bekennen, Ausnahmen von dieser Regel kennen. Daher scheint die Verbalinspiration eher nicht praktikabel zu sein.

Die Realinspiration versucht das Dilemma der Verbalinspiration zu vermeiden, indem sie postuliert, dass nicht der wörtliche Text inspiriert ist, sondern die in ihm beschriebene Sache, lateinisch „res“. Diese Theorie erklärt also die Inhalte des Textes für inspiriert, nicht die Formulierungen der Inhalte. Dies bedeutet auch, dass diese Theorie Abweichungen und Diskrepanzen in Texten erklären kann, ohne gleich die Inspiration als solche in Frage stellen zu müssen. Zudem kann diese Theorie auch menschliches und göttliches Wirken beim Verfassen der Texte besser zusammenhalten. Letztlich macht auch die Möglichkeit der Inerranz und der Suffizienz diese These durchaus attraktiv.

Allerdings beinhaltet auch diese Theorie ihre Probleme. Zunächst besteht ja die Schwierigkeit darin, die Inhalte eines Textes überhaupt zu definieren. Was genau ist der inspirierte Inhalt des Matthäusevangeliums, und was ist zufälliges Beiwerk? Die Realinspiration trennt die Inhalte der Texte von ihrer literarischen Gestalt. Bedeutet dies also, dass die literarische Form der Texte keine Rolle spielt? So ist beispielsweise der Prozess vor Pilatus im Johannesevangelium äußerst kunstvoll gestaltet. In seinem Zentrum steht die Frage nach der Identität und Art des Königtums Jesu. Die Frage stellt sich, ob wesentliche Inhalte so von der sprachlichen Form getrennt werden können, wie es diese Theorie vorsieht; der Prozess vor Pilatus zeigt aber, dass der Inhalt wesentlich von der literarischen Form vermittelt wird.

Die Personalinspiration ist eng mit der Realinspiration verwandt. Sie behauptet nicht die Inspiration der realen Inhalte, sondern die persönliche Inspiration der menschlichen Verfasser der Schriften, die nun als freie menschliche Subjekte geachtet werden, die unter dem Einfluss einer persönlichen Geisteingebung mit ihren Mitteln die Texte verfassten. Will man also den inspirierten Inhalten der Texte näherkommen, muss man versuchen, die Intention dieser Autoren zu eruieren, ihre Situation zu erfassen und ihre literarischen Fähigkeiten und unterschiedlichen Ausdrucksweisen zu analysieren.

Allerdings stellt sich hier die Frage, ob eine solche Suche nach den Autorenintentionen überhaupt erfolgreich sein kann, wenn wir doch über viele der neutestamentlichen Autoren so gut wie nichts wissen und diese über 2000 Jahre Geschichte und Kultur von uns getrennt sind. Gerade die Evangelien sind ja anonym verfasst – und dies wohl auch mit Absicht. Zudem sind gerade die Evangelien Zeugnisse eines langen Traditionsprozesses. Die Rückfrage nach den Verfassern der Evangelien wird damit aber äußerst komplex.

Die These von einer ekklesialen Inspiration wurde von Karl Rahner entwickelt. Rahners Anliegen war, die Inspirationslehre an die Geschichte der Kirche und des Kanons rückzubinden. Rahner postulierte, dass Gott als Autor der Schrift gleichzeitig auch der Stifter der Kirche ist. Ist das Werden der Kirche nun an den Willen Gottes gebunden, so entspricht dies dem Prozess der Schriftwerdung. So wie Kirche wird, wird auch der Kanon. Daher ist der inspirierte Kanon jeweils in der Kirche zu interpretieren. Die Inspiration der Schrift findet sich in der Kirche, und die Kirche als Ausdruck des Willens Gottes findet sich gleichzeitig in der Schrift. Es handelt sich dabei also um eine fast symbiotische Beziehung zwischen Kirche und Schrift. Dies bedeutet für Rahner dann als Konsequenz, dass die göttliche Inspiration der Schrift in der gemeinschaftlichen Auslegung der Kirche erhoben werden kann. Dabei lässt Rahner noch offen, ob es innerhalb kirchlicher Instanzen auch eine Rangordnung der Auslegung geben kann oder soll. Im Übrigen kann die ekklesiale Inspiration auch die Traditionsbildung bis hin zu den Evangelien sehr gut integrieren.

Die katholische Kirche bekennt sich zwar zur Inspiration, nicht aber zu einer bestimmten Theorie, wie diese zu verstehen sei. Selbst das nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ von Papst Benedikt XVI. aus dem Jahr 2010 geht zwar auf eine ekklesiale Inspirationstheorie zu, konstatiert aber auch, dass dies Modell lediglich im übertragenen Sinn anwendbar ist. Letztlich bleibt also die konkrete Art des Verwebens von Menschenwort und Gotteswort in den Texten der Schrift offen.

e. Bekenntnis

Am Beginn des Markusevangeliums steht der Aufruf zur Bekehrung und zum Glauben an das Evangelium (Mk 1,15). Die Evangelien beschreiben immer wieder Menschen, die Jesus mit Begeisterung nachfolgen. Immer wieder werden Menschen beschrieben, die Jesus als ihren Herrn bekennen. Neben diesen Figuren gibt es allerdings auch genügend, die sich von Jesus abwenden oder denen die Nachfolge zu schwierig erscheint. Dazu gehören nicht nur der reiche Jüngling (Mt 19,16–22), sondern auch die zahlreichen Gegner Jesu, die ihn schließlich ans Kreuz schlagen lassen. Jesus wird zur Figur, an der sich die Geister scheiden. Die Evangelien sind Schriften, die zur Nachfolge aufrufen wollen.

In der Geschichte wird immer wieder deutlich, dass der Aufruf zur Nachfolge ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Augustinus, Franz von Assisi, Oscar Romero oder Franz Jägerstätter, Hildegard von Bingen, Teresa von Avila, Madeleine Delbrêl oder Doris Day sind Beispiele für Menschen, die diesem Aufrufgefolgt sind. Die Liste ließe sich beliebig weiterführen, doch wird aus dieser willkürlichen Auswahl deutlich, wie unterschiedlich sich an den Evangelien orientierte Lebensentwürfe entwickeln können.

Wie auch immer man auf den Anruf des in den Evangelien bezeugten Gottes reagieren mag, ob man ihn aufnimmt oder ablehnt, letztlich bleiben die Evangelien nur dann verständlich, wenn man ihren Anruf ernst nimmt. Die Faszination der Evangelien besteht darin, dass diese Einladung auch nach 2000 Jahren durch alle kulturellen und historischen Entwicklungen hindurch noch immer klingt.

E. Literatur zur Vertiefung

Einen guten, wenn auch sehr technischen Überblick über die verschiedenen Modelle zur Entstehung der Evangelien bietet Sandra Hübenthal: Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (Göttingen 2014), S. 11–71. Die neueren Modelle mündlicher Tradition wurden hauptsächlich im englischsprachigen Raum entwickelt. Thomas Söding: Die Verkündigung Jesu – Ereignis und Erinnerung (Freiburg 2011) bietet eine deutschsprachige Diskussion.

Zur Rekonstruktion der Redequelle bietet Christoph Heil: Das Spruchevangelium Q und der historische Jesus (Stuttgart 2014) einen verständlichen Zugang.

Vier Bilder von Jesus

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