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KAPITEL 2 Das Buch der Pflichten
ОглавлениеIvan fand tatsächlich eine Art Glossar hinten in dem Buch der Pflichten. Beim Durchblättern erfuhr er, dass Basileia »Königreich« bedeutete und Kakos »böse«. Das leuchtete ein. Er hatte sein altes Leben mit allem Versagen und der Sünde hinter sich gelassen und sein Innerstes – sein Herz – ganz Jesus ausgeliefert oder besser: dem König. Anscheinend bedeutete das, von jetzt an hier in Basileia zu leben. Komisch, das hatte sein Pastor nie erwähnt.
Was aber vielleicht noch wichtiger war – wo befand sich Basileia eigentlich, und wie war er hierher gekommen? Er suchte mit dem Zeigefinger das Glossar ab, aber es gab keinen einzigen Eintrag, aus dem hervorging, wie er von seinem Wohnzimmer aus in dieses seltsame mittelalterliche Königreich gelangt sein könnte. Und um ehrlich zu sein, er hätte es sich bestimmt noch einmal ganz genau überlegt, dieses Gebet zu sprechen, wenn er gewusst hätte, worauf er sich damit einließ.
Was war mit seiner Familie, mit seinen Freunden zu Hause, mit seinem Job, mit seinem neuen Auto? Hatte er das wirklich alles für immer hinter sich gelassen? Ivan schüttelte den Kopf. Der König hatte alles verändert, was ihm vertraut war, alles, was ihm am Herzen lag und lieb und teuer war. Er musste unbedingt so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause. Vielleicht war das ja auch alles nur ein Traum oder irgendeine Art seltsame Vision, so ein virtueller Raum, in dem die Realität glaubenseifriger Christen erlebbar war.
Als er das braune Lesezeichen wiederfand, das ihm die Marktfrau in das Buch gelegt hatte, betete er wieder. »Herr – ich meine, König –, ich weiß nicht so genau, was hier eigentlich los ist, also, um ganz ehrlich zu sein, habe ich nicht die leiseste Ahnung. Ich hoffe jedenfalls, dass mir dieses Buch dabei hilft, wieder nach Hause zu kommen.« Er fragte sich, ob er den König wohl wirklich noch persönlich kennenlernen würde, bevor er hier wieder verschwand.
Ivan fing an zu lesen. Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass der König einen großen Teil des Buches vollgepackt hatte mit ganz banalen Regeln, was zu tun und zu lassen war. Dann war das hier also genau so wie in seiner Gemeinde zu Hause. Nun war er aber ein unabhängiger Denker und damit so ganz und gar kein Typ für Regeln – doch wenn es sein musste, dass er sich an die Regeln hielt, dann würde er das eben tun. Er fühlte sich wie ein unwissendes Kind, das alles ganz neu lernen muss: Laufen, Sprechen, Essen, sein Geschäft zu erledigen, Beten, Lobpreisen. Wie um alles in der Welt sollte er sich das nur alles merken? Dann erinnerte er sich an die gescheiten Worte der Marktfrau. »Fang langsam an, es gibt viel zu lernen.«
»Ach was!« Ivan beschloss, sich erst einmal einen Abschnitt vorzunehmen und sich dann auf die praktische Umsetzung des Gelesenen zu konzentrieren. Er überflog die Regeln hinten im Buch und stieß dabei auf einen Punkt mit der Überschrift: »Die korrekte Auferbauung«. Er wusste zwar nicht so genau, was »Auferbauung« konkret bedeutete, aber er wusste, dass er alles richtig machen wollte, also schlug er das Buch auf Seite 381 auf und fing an zu lesen.
»Gute Bürger von Basileia sind Menschen, die eine korrekte Form der Auferbauung praktizieren. Jeder gute Bürger muss sich täglich Zeit für die Stille Zeit nehmen. Während dieser Zeit soll er im Buch der Pflichten lesen und zum König beten, denn das erwartet der König von uns, und zwar konsequent und ohne Ausnahmen.«
Doch, das leuchtete ihm ein. Er hatte sich dem König ausgeliefert, und da konnte er jetzt kein Zaungast mehr sein. Von jetzt an würde er jeden Morgen eine gewisse Zeit für den König freihalten und dabei dann auch gleich ein paar Fleißpunkte sammeln. Wenn der König mit ihm zufrieden war, würde er ihn ja vielleicht eher wieder in sein Wohnzimmer zurück lassen. Ivan beschloss jedenfalls, alles zu tun, was dem König gefiel, denn schließlich war es zu Hause immer noch am schönsten.
Als Ivan dann weiterlas, fand er auch den nächsten Abschnitt sehr hilfreich. Darin wurde skizziert, wie lange seine Stille Zeit dauern und wozu er sie nutzen sollte, das heißt, was er während dieser Zeit alles tun sollte, und wie er es so tun konnte, dass es dem König recht war und gefiel. Es war alles völlig klar. Er hatte jetzt einen Auftrag. Er bekam Herzklopfen, als ihm bewusst wurde, dass er sofort alles getan hatte, was ihm der König befohlen hatte. Und nicht nur das. Um ihn herum sangen auch noch die Vögel und die Sonne wärmte ihn. Kein Wunder, dass die Leute am Tor gesungen hatten. Vielleicht sollte er sich ihnen morgen anschließen. Nein, nicht morgen, denn so der Herr wollte, wäre er ja dann schon wieder weg.
Als er von seinem Buch aufblickte, erlebte er eine weitere Überraschung. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Kopfsteinpflasters, stand eine Reihe anheimelnder kleiner Häuschen, mittendrin eines, das neuer aussah als die anderen. Es war frisch gestrichen und quer über die Haustür war ein großes Transparent gespannt mit der Aufschrift: »Willkommen zu Hause, Ivan.«
Willkommen zu Hause? Das musste ein Irrtum sein. Ivan sprang auf und hätte beinahe sein Buch auf der Bank liegen gelassen. Er rannte über die Straße, sprang die beiden Stufen zum Eingang hinauf, zerriss das Transparent und griff nach der Türklinke, woraufhin sich die Tür quietschend öffnete.
»Hallo?« Seine Stimme hallte in den Räumen wider, aber niemand antwortete. Als er den Flur betrat, warf er einen Blick in die Wohnung. Die Einrichtung war schlicht, aber sauber und hübsch. In einer Ecke war ein Feldbett aufgestellt. Im Herd brannte bereits ein munteres Feuerchen und ein seltsam windschiefes Fenster gab den Blick auf die Stadtmauer frei.
Immer noch wie unter Schock, trottete er zu dem Fenster, von dem aus er einen großartigen Ausblick auf die Brücke, die Schlucht und auf Kakos auf der anderen Seite der Schlucht hatte. Kakos. In Gedanken ging er noch einmal alles durch, was er als Kind und Jugendlicher in der Sonntagsschule gelernt hatte. Vielleicht war er im symbolischen Sinne aus der bösen Stadt gekommen, wie der Junge so hartnäckig behauptet hatte. Und dennoch, Basileia war kein bisschen symbolisch, sondern real.
In dem Augenblick bemerkte Ivan, dass ein Kristallkelch auf dem Tisch stand, neben den jemand eine schön verzierte Karte gelegt hatte. Er nahm den Kelch in die eine und die Karte in die andere Hand. Es war eine persönliche Nachricht vom König.
»Ivan, trinke auf mich. Ich hoffe, dich bald in der Neuen Stadt zu sehen.«
Unterzeichnet war die Karte mit »der König«.
Ivans Herz flatterte aufgeregt. Eine persönliche Nachricht vom König. Das bedeutete doch, dass er den König wirklich treffen und dann wieder nach Hause zurückkehren würde. Andererseits wäre es ja vielleicht auch schön, noch einmal zusammen mit seiner Familie nach Basileia zu kommen, wenn sich diese ganze Verwirrung erst einmal geklärt hatte und er etwas genauer wusste, was hier eigentlich los war – als Touristen natürlich. Es war ein schöner Ort zum Besichtigen, wäre aber niemals der Wohnort seiner Wahl gewesen.
Die Karte mit der Nachricht gab Ivan ganz neue Energie. Er saß am Tisch, genoss das frische Wasser aus dem Kelch und schlug dann wieder das Buch auf, um dort weiter zu lesen, wo er aufgehört hatte. Regel um Regel ging er durch, machte sich Notizen und bat um den Segen des Königs in der Hoffnung, dass er in der Lage sein würde, all die Gebote zu halten, damit der König mit ihm zufrieden war. Diese Tatsache überwältigte ihn aber auch. Als er einen weiteren Schluck Wasser trinken wollte, stellte er zu seinem Unmut fest, dass das Wasser weg war. Schade. Es war das erfrischendste Wasser gewesen, das er jemals getrunken hatte.
Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und beschloss einen Spaziergang zu machen, um sich die Zeit zu vertreiben und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der Gang durch den Park tat ihm gut, obwohl er sich im goldenen Licht des Spätnachmittags seltsam erschöpft und ausgelaugt fühlte. Ihm fiel außerdem auf, dass die Sonne nicht mehr ganz so hell und strahlend zu leuchten schien wie bei seiner Ankunft. Und seltsamerweise kamen ihm auch die Gebäude nicht mehr so strahlend vor. Etwas ungläubig schüttelte er den Kopf. Vielleicht bildete er sich das alles ja auch nur ein. Schließlich hatte er einen langen, ereignisreichen und folgenschweren Tag hinter sich. Vielleicht würde er ja am nächsten Morgen zu Hause in seinem Bett aufwachen. Es war doch auch absolut möglich, dass sich sein gesamtes Abenteuer als lebhafter Traum entpuppen würde, den ihm sein Pastor ja dann vielleicht nächste Woche würde deuten können.
Während er so dahin ging, versuchte er sich zu erinnern, was er aus dem Buch der Pflichten schon gelernt hatte. Andauernd sah er in seiner unmittelbaren Umgebung etwas, das ihn an eine Regel erinnerte – ein Kind in Not, eine Frau, die Hilfe brauchte –, und meistens handelte er dann sofort und tat gern und bereitwillig, was der König in der jeweiligen Situation von ihm erwartete. Es war eigentlich genau so, als würde er das befolgen, was in der Bibel stand.
Doch das, was um ihn herum geschah, kam ihm wie ein Fass ohne Boden vor. Überall war Not und Bedürftigkeit, und für jeden und alles gab es ein Gebot. Manchmal kamen ihm zwei oder drei Regeln gleichzeitig in den Sinn, und dann wusste er oft nicht, welche er jetzt befolgen sollte. Ein paar Mal war er dann wie gelähmt und tat gar nichts. In seinem Innern staute sich erst langsam Frust an und dann machte sich Mutlosigkeit breit. Für ihn war so vieles doch noch neu. Er war einfach noch nicht genügend Basileianer für das alles. Es war unmöglich, sich an jedes Gebot der Regel zu halten, und es dauerte gar nicht lange, da kam er zu dem Schluss, dass es fürs Erste reichte und er erst einmal Feierabend machen würde. Inzwischen war die Sonne untergegangen, sodass ihm sein Entschluss auch vernünftig vorkam – es sei denn, es gab eine Regel dagegen. Wenn dem so war, dann war Ignorieren sein letzter Versuch, um einigermaßen bei Laune zu bleiben.
Als er erschöpft und deprimiert wieder bei dem Haus ankam, das ihm zugewiesen worden war, kniete Ivan am Bett nieder und murmelte ein langes, tränenreiches Gebet in die Bettdecke. Darin sagte er dem König, wie leid es ihm täte, dass er die Punkte der Regeln nicht alle gewissenhaft hatte einhalten könne. Insgeheim hoffte er, dass er sich dadurch nicht die Chance auf eine möglichst schnelle Rückkehr nach Hause verbaut hatte, und beschloss, am nächsten Morgen sehr früh aufzustehen und weiter in den Regeln zu lesen, damit er im Laufe des Tages dann bessere Chancen hatte, die einzelnen Punkte auch wirklich einzuhalten. Mitten in seinem Gebet, immer noch vor der Bettkante kniend, fiel Ivan in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Kakos, aber seltsamerweise kam es ihm gar nicht wie ein Alptraum vor, sondern fühlte sich eher wie Erleichterung an.
Ivan wachte davon auf, dass ganz in der Nähe seines Fensters ein Hahn krähte. Der durchdringende Ruf dieser Kreatur vibrierte wie ein elektrischer Schlag seine Wirbelsäule hinauf und wieder hinunter.
»Ja, ja, ich steh’ ja schon auf!« Ivan sprang aus dem Bett und verhielt sich so, als müsste er bei dem Vogel Meldung machen. Nachdem er sich gereckt und gestreckt hatte und sich nicht mehr ganz so steif fühlte, sank ihm der Mut. Er war immer noch in Basileia. Einen Augenblick später erinnerte er sich an sein Versprechen, früher aufzustehen, um zu beten und aus dem Buch zu lernen. Ivan ging wieder auf die Knie, die bereits wund waren von all dem Knien und Beten am Vortag, und wollte gerade den Kopf zum Gebet senken, als es an der Tür klopfte.
»Was ist denn?« Ivan stapfte zur Tür, um zu schauen, wer dort war. Er machte die Tür weit auf und sah die Marktfrau vom Vortag mit einem Korb voller frischer, grüner Äpfel auf der Veranda stehen.
»Guten Morgen.« Auf ihrem Gesicht lag das gewohnte Lächeln.
»Hallo.«
»Störe ich gerade? Ich wollte dir nur noch ein paar Äpfel vorbei bringen.«
»Ivan schaute hinter sich auf das Bett und sein immer noch ungeöffnetes Buch der Pflichten. Sein Blick ging zu Boden. »Nein, ist schon in Ordnung. Komm herein.«
»Wie ich sehe, bist du immer noch hier. Wie ist es dir denn gestern noch ergangen? Hast du in dem Buch gelesen?«
Ivan führte sie ins Haus, setzte sich dann an den Tisch und stellte den Korb darauf ab. Er rieb sich die Augen. »Ich habe ein wenig darin gelesen. Genug jedenfalls, dass ich bis zum Schlafengehen gestern Abend beschäftigt war.«
Ihre Augen strahlten. »Das ist ja wunderbar!«
»Wunderbar? Ich habe total versagt, und außerdem bin ich völlig erledigt.«
»Na ja, es war ja auch dein erster Tag hier.«
»Ja, wahrscheinlich lag es daran.« Ivan rutschte voller Unbehagen auf seinem Stuhl hin und her.
»Du bist noch jung im Glauben, Ivan. Du wirst schon noch aufholen.« Sie sah bei diesen Worten sehr überzeugt aus.
Aber Ivan wollte gar nicht aufholen. Er wollte nach Hause. Er wollte sein gewohntes Leben zurück haben. »Und was ist mit dir? Du bist doch schon weiter im Glauben und reifer. Hältst du dich denn immer hundertprozentig an die Regeln?«
Die Frau machte eine kurze Pause, senkte die Stimme und beugte sich ganz nah zu ihm vor. Sie schaute sich misstrauisch um, als befürchtete sie, jemand könnte sie belauschen, und flüsterte dann: »Ich sag dir mal was.« Ihr Tonfall war monoton und hatte etwas Verschwörerisches. »Eigentlich reden wir ja nicht darüber, aber Tatsache ist, dass sich niemand hundertprozentig an die Regeln hält.«
»Wirklich? Niemand?«
»Genau. Aber mit der Zeit lernt man hier ein paar Tricks, wie man damit durchkommt.«
»Tricks?«
»Na ja, also nicht direkt Tricks. Vielleicht sollte ich lieber sagen, dass wir die Gewichtung hin und wieder ein wenig verschieben. Ist dir aufgefallen, dass einige Regeln für jeden erkennbar und dadurch auch offensichtlicher und auffälliger sind, andere dagegen eher mit unserem Innern zu tun haben und nicht gleich so deutlich zu merken?«
»Ja, das ist wohl so, aber ...«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Konzentrier’ dich möglichst auf die sichtbaren, Ivan. Auf das, was die Leute sehen können. Wenn du die Regeln einhältst, deren Auswirkungen sofort zu erkennen sind, dann schließen die anderen Leute daraus fast immer, dass du auch alle übrigen befolgst, die nicht so sichtbar sind.«
Ivan war verwirrt. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber wenn ihr alle nur so tut, als ob ihr euch an alles haltet, ist euch dann nicht auch klar, dass die anderen Leute hinter ihrer korrekten Fassade genau so schummeln wie ihr selbst?«
»Damit trittst du mir nicht zu nahe. Das geschieht irgendwie in allgemeinem Einvernehmen. Und wie gesagt, wir reden auch nicht darüber, nicht einmal mit Neuankömmlingen. Normalerweise jedenfalls nicht.«
»Na, vielen Dank dann«, sagte Ivan und signalisierte damit vage, dass er ihren Hinweis zu schätzen wusste. Aber irgendwie fühlte er sich auch unwohl dabei. Klar, er wollte gern wieder nach Hause zurück, um bei seiner Familie zu sein. Aber wenn der König wirklich real war, dann musste das Gebet zu ihm doch aufrichtig sein. Er hatte sein Leben Jesus Christus übergeben. »Was die anderen Leute denken, ist doch nur die eine Seite dabei. Am meisten weh tut doch das, was ich über mich selbst denke, wenn ich versage. Ich kann doch den König nicht enttäuschen nach allem, was er für mich getan hat.«
»Aber das ist doch gerade das Gute daran«, sagte die Marktfrau. »Wenn man sich auf die äußerlich sichtbaren Regeln konzentriert, dann schafft man sich dadurch eine Art Maske, hinter der man sich verstecken kann, sogar wenn man in den Spiegel schaut, und man erfüllt gleichzeitig die öffentlich sichtbaren Regeln. Das heißt doch, dass man schon ungefähr die halbe Liste von Regeln abhaken kann, oder?«
»Wahrscheinlich. Klappt das denn bei dir?«
»Meistens.« Sie zuckte leidenschaftslos mit den Achseln. »Hier, ich zeig es dir.«
Zu Ivans großem Erstaunen begann die Frau, sich die Haut vom Gesicht abzuziehen. Nein, es war gar nicht Haut, sondern eine Maske, die wie ihr Gesicht aussah, mit einem künstlichen Lächeln darauf, das wie angetackert aussah. Ihr echtes Gesicht war gezeichnet von tiefen Falten und Furchen der Enttäuschung und Traurigkeit. Offenbar war es ihr peinlich, dass jemand sie so ganz ohne Maske sah. Also zog sie sie rasch wieder an, und schon in dem Augenblick, als die Maske wieder zurechtgerückt war und richtig saß, war nicht mehr zu erkennen, dass sie überhaupt eine trug. »So geht das, siehst du? So ist es besser.«
Und sie sah mit der Maske tatsächlich besser aus als ohne. »Aber der König weiß es doch, oder? Wie kann man denn die Segnungen des Königs erleben, wenn man nicht gut genug sein kann, um sie auch zu verdienen? Ist es nicht genau das, worum es in dem Leben hier geht?«
»Um die Gaben und Segnungen des Königs zu bekommen, musst du ihn darum bitten. Es hat noch nie jemand etwas bekommen, ohne darum zu bitten. Und bevor man bittet, muss man ihm gefallen und recht sein. Und beim Bitten muss man Glauben haben. Glaube kommt durch eine heilige Beharrlichkeit. Er möchte, dass du ihn bedrängst. Du musst seine Verheißungen in dem Buch unter den Regeln finden und sie dann für dich selbst in Anspruch nehmen.«
»Sie in Anspruch nehmen?«
»Schreib sie dir heraus, lerne sie auswendig, bringe sie jedes Mal zur Sprache, wenn du mit dem König redest. Erinnere ihn daran, dass er seine Versprechen hält, und bitte hartnäckig so lange weiter, bis er dir gibt, worum du ihn gebeten hast.«
»Er will also, dass wir ihn damit behelligen, ihm vielleicht sogar richtig auf die Nerven gehen?« Ivan war verwirrt. »Wenn er real ist und wirklich hier, warum gibt er uns dann nicht einfach, was wir brauchen?«
»Das tut er ja, das tut er ja. Aber bis dahin ist normalerweise erst ein bisschen Verzweiflung nötig. Und eine gehörige Portion Arbeit. Wenn du nicht bekommst, was du möchtest, dann liegt das daran, dass du nicht leidenschaftlich genug darum gebeten hast oder dass du nicht richtig gebetet oder nicht richtig oder nicht regelmäßig oder nicht intensiv genug deine Stille Zeit gehalten hast. Oder weil es Sünde in deinem Leben gibt. Du wirst schon sehen.«
Ivan war jetzt geknickt und mutlos. Das hörte sich alles so kompliziert an. Plötzlich fand er seinen Stuhl schrecklich unbequem.
»Nein, nein – es hat keinen Sinn, dagegen anzukämpfen, Ivan. So hat sich der König nun mal sein Reich gedacht. Es ist das Gesetz.«
»Das Gesetz also, ja? Na ja, wenn du es sagst. Aber funktioniert das denn überhaupt so?«
»Nicht immer.« Wieder zuckte die Marktfrau die Achseln. »Segen kommt und Segen geht. Wahrscheinlich erwartet man mit der Zeit einfach nicht mehr so viel.«
»Aber das ist nicht unbedingt der Grund, weshalb ich mein Leben dem König übergeben habe.« Ihre Worte lösten eine tiefe Mutlosigkeit bei ihm aus, die an seiner Seele zehrte. Fürs Erste war er in der Lage, diese Mutlosigkeit beiseite zu schieben, sogar ohne dazu eine Maske zur Hilfe nehmen zu müssen. Aber seine Mädels fehlten ihm schrecklich.