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KAPITEL 1 Basileia
ОглавлениеIn den drei Stunden, seit Monica mit dem silbernen Kleinbus der Familie rückwärts von der Garagenauffahrt gefahren war, hatte Ivan zwei komplett sinnfreie Fernsehshows angeschaut, die Arbeitsflächen in der Küche gewischt, eine halbe Orange gegessen, den Rasen hinterm Haus gemäht, vier Absätze eines Artikels über Wander-Seelöwen gelesen, den Kühlschrank nach irgendwelchen genießbaren Resten abgegrast und wäre auch mindestens ein Dutzend Mal beinahe niedergekniet, um sein Leben Jesus zu übergeben. Er war bereits seit langem das, was viele Leute als christlich bezeichnen würden, aber schon allein beim Gedanken, sein Leben ganz und gar Jesus auszuliefern und sich auf ihn einzulassen, brach ihm der Schweiß aus.
Er schaute auf die Uhr. Noch achtundsechzig Stunden waren von dem Wochenende übrig. Monica und Sarah waren zu Monicas Eltern gefahren, damit er einmal etwas Zeit für sich hatte, um nachzudenken und mit Gott ins Reine zu kommen. Als sie es so geplant hatten, war ihnen dieses Arrangement ausgesprochen sinnvoll vorgekommen. Aber jetzt, wo seine beiden Mädels weg waren, vermisste er sie schrecklich und hatte mittlerweile alle Ablenkungsstrategien zum Einsatz gebracht, die ihm eingefallen waren. Wahrscheinlich war es wirklich sinnvoll, einmal etwas länger ungestört Zeit für sich allein zu haben, aber im Haus war es sehr viel behaglicher und wärmer, wenn Monica und Sarah da waren.
Er nahm ein gerahmtes Foto in die Hand, auf dem sie alle drei zusammen abgebildet waren. Es war letzten Sommer am Meer aufgenommen worden. Ivan lächelte wehmütig. Auf dem Bild standen sie zu dritt an einem blau gestrichenen Bootssteg, Arm in Arm – aber Monica und Sarah hatten etwas, das er nicht hatte. Sogar die Kamera hatte das aufgedeckt und eingefangen. Ihre Wärme und dieses Strahlen, das von tief innen kam, das wollte er auch – diesen klaren, einfachen Glauben, diese Freude –, aber das bedeutete, dass er sich jetzt hinknien und es hinter sich bringen musste. Nein, keine Ausflüchte mehr: Es wurde Zeit. Er rutschte vom Sofa, ging auf dem Wohnzimmerteppichboden auf die Knie und schloss die Augen. Er war wild entschlossen, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis er es hinter sich gebracht hatte.
Ein gewaltiger Seufzer, der ihn selbst schaudern ließ, entfuhr ihm, als er endlich das Gebet sprach. Es kam herausgesprudelt wie perlender Wein, der einen widerspenstigen Korken aus der Flasche herausdrückt. »Ich kapituliere, Herr Jesus. Und die Antwort ist Ja. Ich stehe dir ganz zur Verfügung.«
Während er sprach, fanden die herumwirbelnden Bruchstücke seines halbherzigen Glaubens einander und nahmen Gestalt an. In seinem Innern verschob sich etwas, rückte zurecht, sprang an und wurde lebendig – und das alles gleichzeitig. Sein Herz gehörte jetzt dem König. Das spürte er, und es bedeutete zugleich, dass ihn jetzt mit seinen beiden Mädels noch etwas mehr verband – etwas ganz Besonderes. Er musste sie unbedingt anrufen.
Ivan öffnete die Augen und sah sich nach dem Telefon um. Das Licht hatte sich irgendwie verändert, genau wie die Luft. Ein fremdartiger Hauch strich an ihm vorbei. War es eine Brise?
Wo war er?
Ihm blieb vor Überraschung die Luft weg, denn er kniete auf einer prachtvollen Steinbrücke, die sauber und schneeweiß im Sonnenschein erstrahlte. Die Brücke erstreckte sich über mehr als einen Kilometer und überspannte eine schroffe Schlucht. Er stand genau in der Mitte, am höchsten Punkt des majestätischen Brückenbogens. Eine kalte, eckige Turmspitze ragte in den Himmel über ihm empor, und direkt vor ihm fiel in einem sanften Gefälle die Brücke wieder ab, bis sie schließlich auf eine Mauer traf, die eine strahlende Stadt auf dem Berg umgab. Schweißperlen rannen ihm vom Haaransatz aus herunter und brannten in seinen Augen.
Wo um alles in der Welt war er?
Als er sich umdrehte, sah er am anderen Ende der Brücke noch eine weitere Stadt liegen, die pechschwarz war und völlig in drückende Düsterkeit gehüllt. Giftige Rauchwolken waberten widerlich stinkend wie geflügelte Kreaturen darüber und umkreisten sie wie Geier. Es sah so aus, als wäre die Stadt voller Menschen, die nur noch auf den Tod warteten, ein Anblick, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Die Brücke zwischen den beiden Städten war starr und unbeweglich, aber Ivan machte trotzdem nur kleine zögerliche Schritte in Richtung der hellen, strahlenden Stadt. Die sanfte Brise bewirkte, dass um ihn her eine düstere, öde Stille herrschte. Er hatte nicht das Gefühl, an einem Ort zu sein, sondern es kam ihm vor wie eine Stelle zwischen Orten. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, stammten von seinen eigenen schlurfenden Schritten, von seiner Zunge, die immer wieder leise schmatzend seine Lippen befeuchtete, und von seinem knurrenden Magen.
Die Stadt sah aus wie eine auf den goldenen Berg geklebte, prächtig verzierte Hochzeitstorte. Tausend leuchtend grüne Fahnen wehten sanft von den Befestigungsmauern, und die in die Mauern eingelassenen Türme waren mit wunderschönen Wolken wie glasiert. Einigermaßen erleichtert stellte er fest, dass das Haupttor in der Stadtmauer weit offen stand. Das sah ja zumindest freundlich aus. Und wieder fragte er sich irritiert: Wo bin ich?
Als er sich dem Stadttor näherte, wurde er von fröhlichem Gesang begrüßt. Je näher er dem gewaltigen Tor kam, desto lauter wurde der Gesang und desto heller und strahlender die Stadt. War er tot? War das hier das Himmelstor? Bei diesem Gedanken machte sein Herz einen Satz, bis er die riesigen Buchstaben las, die über dem Tor zu lesen waren:
Basileia.
Bevor er weiter über diesen Namen nachdenken konnte, strömten freudestrahlende Menschen zum Tor heraus, tollten herum und kamen auf ihn zugesprungen. Als er sich umdrehte, um nachzuschauen, über wen oder was sie sich so freuten, konnte er nichts entdecken.
»Du bist da, du bist da«, jubelten sie.
Er drehte sich wieder um und stand einer gebeugten Frau mit einem braunen Schultertuch gegenüber. Ein Dutzend andere Leute mit leuchtenden Augen und echtem, strahlenden Lächeln umkreisten ihn, umarmten ihn und klopften ihm auf den Rücken, als wäre er ein heimgekehrter Held.
»Wo bin ich?«
Die Frau zog kaum merklich ein ganz klein wenig die rechte Augenbraue hoch. »Na, in Basileia natürlich. Du hast doch dein Herz dem König geschenkt.«
»Ja«, entgegnete Ivan, sich an sein Gebet erinnernd. »Aber das war doch ganz woanders und nicht hier.«
»Ja, ganz woanders«, sagte ein kleiner Junge und nickte zustimmend. »Das war da drüben, in Kakos.« Er zeigte hinüber zu der finsteren Stadt. Ivan lächelte den Jungen an und versuchte, ihm zu erklären, dass er sich irrte.
»Nein, nicht in Kakos. Dort bin ich noch nie gewesen.«
»Doch, das bist du. Das sind wir alle. Wir kommen alle aus der schwarzen Stadt. Wir kommen alle aus Kakos.«
Ivan wollte das Kind gerade berichtigen, als die ganze Gruppe wie aus einem Munde sagte: »Kakos ist unsere Mutter, aber Basileia ist unser Zuhause.«
»Bin ich tot?«
»Nein, nicht tot«, sagte die Frau. »Du lebst. Du lebst ewig.«
»Aber ist dies dann der Himmel?«, fragte Ivan zunehmend ungeduldig.
»Das haben wir dir doch schon gesagt«, erwiderte der kleine Junge grinsend. »Das hier ist Basileia, das himmlische Königreich!«
»Aber wo ist meine Familie? Mein Haus? Mein Auto?«
Die Leute lachten wieder und tätschelten ihm den Rücken.
»Jetzt sind wir deine Familie. Willkommen hier bei uns.« Und damit machte die ganze Gruppe kehrt und tollte durch das Tor zurück in die Stadt. Ivan kniff – immer noch verwirrt – ganz langsam fest die Augen zusammen.
Basileia – das Königreich, aber doch nicht der Himmel? Er hatte in der Gruppe keinen seiner Freunde aus der Gemeinde entdeckt, und er war ziemlich sicher, dass er dort eigentlich Monicas gesamte Verwandtschaft hätte antreffen müssen. Wer waren diese Leute? Ihm kam das alles jedenfalls sehr merkwürdig vor.
Ein wenig abgeschreckt von dem tanzenden Begrüßungskomitee, warf er noch einmal einen Blick zurück auf die schwarze Stadt und wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken. Er konnte sich nicht erinnern, Kakos je zuvor gesehen zu haben, und dennoch kam ihm der Anblick seltsam vertraut vor. Nichtsdestotrotz beschloss Ivan, sein Glück in Basileia zu versuchen, und durchschritt deshalb zügig das gewaltige Stadttor.
Direkt hinter dem Tor blieb Ivan kurz stehen, um sich zu orientieren. Ein paar Schritte vor ihm stand eine Mauer, die stolz und golden hoch empor ragte. Zu seiner Linken befand sich ein offener Torbogen und zu seiner Rechten eine Steintreppe, die aufwärts führte.
»Alte Stadt oder Neue Stadt?«, fragte eine schleppende Stimme zu seiner Linken. Er drehte sich um und erblickte einen beleibten Mann, der hinter einem Verkaufskarren stand und ihn angrinste. Dem Mann fehlten etliche Zähne und sein zotteliges rotes Haar hing ihm jungenhaft bis über die Augenbrauen in die Stirn. Ivan erwiderte das Lächeln.
»Ich bin neu in Basila.«
»Ba-si-lei-a«, korrigierte ihn der Mann langsam mit leicht schräg gelegtem Kopf. Aber dann wurden seine Augen plötzlich ganz groß und er sagte: »Oh, tut mir leid. Du hast noch gar nicht dein Buch, oder? Das habe ich ja ganz vergessen.«
»Mein Buch?«
»Ich soll den neuen Leuten hier ihr Buch geben. Das ist meine Aufgabe.« Er grinste stumm und hielt ihm ein dickes, in Leder gebundenes Buch hin. »Hier. Und verlier es bloß nicht.«
Ivan nahm das Buch entgegen und blätterte in den schönen Seiten herum. »Wozu ist das?«
»Alte Stadt oder Neue Stadt?«
Ivan seufzte und kam zu dem Schluss, dass der alte Kauz ihm nicht weiterhelfen konnte. »Wofür entscheiden sich denn die meisten Leute?«
»Fast immer für die Alte Stadt.« Das Gesicht des Mannes war ausdruckslos.
»Na, dann wähle ich auch die Alte Stadt.« Ivan schlenderte zu der Treppe hin.
»Dann zeigt es dir, wie es geht!«
Der Mann versuchte sicher nur zu helfen, aber Ivan hatte das Gefühl, von einem Deppen belehrt zu werden.
»Was?«
»Das Buch. Es sagt dir, wie du ein guter Bewohner der Stadt werden kannst.«
»Toll! Danke.« Ivan klemmte sich das Buch unter den Arm und winkte über die Schulter noch einmal dem Mann hinter sich zu, während er schon die Treppe hinauf ging. Es wurde Zeit, herauszufinden, wo er eigentlich war.
Als er eine zweite kopfsteingepflasterte Ebene erreichte, schaute Ivan sich auch dort erst einmal um. Offenbar war er in eine Art altertümliches Wohngebiet gelangt. Die Stadt hier war ein bisschen kleiner, weil sie etwas höher lag. Dutzende von Bewohnern wuselten um ihn herum und gingen ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Hier kümmerte sich offenbar jeder um seine eigenen Angelegenheiten, denn er wurde von niemandem angesprochen. Ein Stückchen weiter die Straße hinunter erstreckte sich eine Art Markt. Auf Drängen seines knurrenden Magens beschloss er, zunächst diese Richtung zu erkunden. Er würde erst einmal einen Happen essen und dann weiter erkunden, wo er eigentlich war.
Der Markt war ein uriges Kaleidoskop von Marktkarren, die überquollen mit frischen Waren wie Fisch, Hühnchen und Bergen bunter Nüsse.
»Neu in Basileia?«
Ivan drehte sich um und sah eine Marktfrau mittleren Alters, die hinter einer Pyramide leuchtend grüner Äpfel stand.
»Ja, ich bin erst vor ein paar Minuten angekommen.«
»Na, dann willkommen zu Hause.«
»Sagtest du ›zu Hause‹?«
»Hier, probier doch mal einen.« Sie warf ihm einen Apfel zu.
»Aber ich habe gar kein Geld.«
»Ach, das ist schon in Ordnung«, entgegnete sie. Ivan biss fest in den Apfel – teils, weil er hungrig war, und teils, weil er dachte, der herzhafte Biss könnte ihn vielleicht zurückversetzen auf sein Ledersofa im heimischen Wohnzimmer. Es war ein leckerer Apfel, aber leider veränderte sich seine Realität dadurch nicht das kleinste Bisschen. Er wollte schon weiterschlendern, um sich die Stadt etwas genauer anzusehen, blieb dann aber doch noch ein wenig stehen.
»Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?« Neugierig zog die Marktfrau eine Augenbraue hoch.
»Ich habe dieses nagende Gefühl, dass ich eigentlich etwas tun müsste.«
»Aber sicher solltest du das. Das müssen wir alle. Manche Leute glauben, dass dieses Gefühl verschwindet, wenn sie erst mal hier angekommen sind, aber das ist ein Irrtum. Normalerweise ist es wie ein sanfter Druck, eine Art Last, die der König uns auferlegt. Wenn man besonders treu ist, wird diese Last meistens sogar noch stärker. Das ist ganz normal.«
»Ach, normal also? Na, du musst es ja wissen. Aber was soll ich denn jetzt mit diesem Gefühl anfangen?«
»Hast du schon dein Buch gelesen? Das Buch wird dir alles sagen.«
»Ich bin ja gerade erst angekommen, und ehrlich gesagt, habe ich eigentlich auch nicht vor, lange zu bleiben. Ich muss auf jeden Fall wieder nach Hause.«
»Also wenn du von heute an jeden Tag in dem Buch liest, dann werde ich dir sagen, was du tun sollst, und auch deine Fragen beantworten, ja?« Sie zeigte auf den Buchumschlag, in dessen verblichenes Leder Worte eingeprägt waren, Worte, von denen Ivan ziemlich sicher war, dass sie dort noch nicht gestanden hatten, als der zahnlose Alte es ihm überreicht hatte. Das Buch der Pflichten stand da.
»Okay, es ist so wie die Bibel. Wo soll ich anfangen?«
Die Frau zwängte sich hinter dem Karren hervor und kam zu ihm herüber geschlendert. Sie nahm das Buch und blätterte darin, bis sie eine Stelle ziemlich am Anfang gefunden hatte. Sie schob einen Streifen braunes Papier zwischen die Seiten und klappte das Buch dann wieder zu. »Da.« Sie lächelte, als sie es ihm wieder zurück gab.
»Fang langsam an, denn es gibt viel zu lernen, und später kann es ziemlich kompliziert werden. Sorge einfach dafür, dass du am Dienstag nicht den Tempel versäumst.«
»Tempel?«
»Alle treuen Stadtbewohner kommen einmal in der Woche im Tempel zusammen, um den König anzubeten. Die Zeremonie beginnt abends um acht.«
»Den König? Meinst du Jesus?«
»Ja, aber wir nennen ihn hier nur den König.«
»Also gut, danke für den Apfel und deinen Rat. Dann sehen wir uns ja wahrscheinlich am Dienstag, wenn ich bis dahin nicht selbst schon mehr heraus bekommen habe.«
Als er das sagte, entdeckte er einen kleinen idyllischen Park ein Stückchen weiter die Straße hinauf mit einer freien Bank im Schatten. Er beschloss, sich dort ein Weilchen hinzusetzen und in seinem neuen Buch zu lesen. Vielleicht würde er ja auf diese Weise erfahren, wo er war und weshalb er hier war. Wenn er Glück hatte, gab es am Ende des Buches ja sogar ein Glossar, in dem all die neuen Worte erklärt wurden, die er hier jetzt schon gehört hatte: Kakos, Basileia, Pflicht, Tempel.
Tempel.
Er rief der Frau noch eine letzte Frage zu:
»Äh, welchen Tag haben wir heute eigentlich?«
»Montag.«
»Und diese Sache mit dem Tempel ...«
»Ist immer dienstags, also morgen. Um acht.«
»Gut.«