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Skizze 1.2 Anna Wronskaja?

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Jede unglückliche Familie ist auf ihre ganz eigene Art unglücklich.31 Aber sind Alexej Alexandrowitsch Karenin und Anna wirklich so einzigartig?

Anna Karenina ist die Geschichte einer verheirateten Frau, die sich in einen schneidigen, eleganten und ungeheuer reichen jüngeren Mann verliebt, den Grafen Wronskij. Auf einer bestimmten Ebene ist die Geschichte auch eine Kritik an den gesellschaftlichen Normen und der Heuchelei, denn ohne diese „Eigenschaften“ würde Anna nicht wegen ihrer Affäre mit Wronskij von der Gemeinschaft verstoßen und könnte eine Scheidung erwirken (obwohl nicht klar ist, ob sie sich wirklich scheiden lassen will, weil sie dadurch die Vormundschaft für ihren Sohn verlieren würde). Hätten Anna und Wronskij geheiratet, so ist nicht auszuschließen, dass es eine glückliche Ehe geworden wäre – um eine Anleihe bei Tolstois berühmtem ersten Satz zu nehmen, sie hätten eine der vielen Familien werden können, die einander ähneln, weil sie glücklich sind. Vielleicht aber auch nicht. Denn Tolstois Kunst besteht darin, uns zu zeigen, dass nicht nur die Gesellschaft und ihre Normen, sondern auch die Persönlichkeiten Annas und des Grafen eine glückliche Verbindung der beiden verhindern.

Die Geschichte von Anna Karenina spielt um das Jahr 1878 in Moskau, St. Petersburg und auf dem Land. Die Figuren sind also „Zeitgenossen“ Tolstois (der Roman erschien 1877). Um die Handlung sehr grob zusammenzufassen: Tolstoi erzählt die Geschichte von Anna Kareninas unglücklicher Ehe mit dem strengen, gefühlsarmen Alexej Karenin, der ein hochrangiger Beamter ist, und von Annas Liebesaffäre mit dem Grafen Wronskij. Diese Beziehung, die zuerst heimlich und dann in aller Öffentlichkeit geführt wird, ist anfangs aufregend und voller Hoffnungen, doch später wird sie von Streit, Falschheit und Verzweiflung beherrscht, zerstört Wronskijs Karriere und endet für die Liebenden schmerzhaft und unglücklich.

Auf den ersten Blick haben Anna Karenina und Stolz und Vorurteil wenig gemein. Würde man „Stimmung“ und „Atmosphäre“ vergleichen, so fände man in Stolz und Vorurteil launenhafte englische Sommer, in denen sich strahlender Sonnenschein mit bedrohlich dunklen Wolken abwechselt. Aber dunkle Wolken und Regenschauer verschwinden so rasch, wie sie aufgetaucht sind, und alles in allem bleibt ein Bild sommerlicher Heiterkeit in Erinnerung. Anna Karenina hingegen beginnt mit jenen wunderbaren, warmen russischen Sommern, in denen die Natur vor unseren Augen zu explodieren scheint. Dann geht dieser stabile kontinentale Sommer in einen melancholischen Herbst über, auf den ein langer, dunkler, harter und unnachgiebiger Winter folgt. Insgesamt bleibt uns eine Atmosphäre in Erinnerung, die nicht vom Sommer, sondern vom Winter geprägt ist: An den kalten Dezembertagen fällt es uns schwer, vor unserem inneren Auge die sorglose Heiterkeit vergangener Sommer heraufzubeschwören.

Aber in einer Hinsicht, und zwar in der, für die wir uns hier interessieren – in Bezug auf die Ungleichheit von Einkommen und gesellschaftlicher Stellung –, ähneln Anna Karenina und Stolz und Vorurteil einander. Sehen wir uns den Ausgangspunkt der Heldin in beiden Romanen an: Sie lebt in der Geborgenheit einer sehr reichen und respektablen Familie. Im ersten Roman ist sie verheiratet, im zweiten ledig. Aber in beiden Fällen hängt vom nächsten Schritt – von der Wahl zwischen Liebe und Ehe – der Sprung auf eine Stufe sehr viel größeren Reichtums ab. Alexej Karenins Einkommen wird nirgendwo im Buch erwähnt. Aber in seinem Gespräch mit Annas Bruder Stepan Oblonskij verrät er uns, dass er 10.000 Rubel für ein sehr hohes Einkommen hält, denn dies ist, wie wir an anderer Stelle erfahren, das Gehalt eines Bankdirektors.32 Wir wissen auch, dass ein hohes Beamtengehalt bei 3000 Rubeln liegt und dass Stepan Oblonskij, der ebenfalls Staatsbediensteter ist (wenn auch auf einer niedrigeren Besoldungsstufe als Karenin), 6000 Rubel verdient.33 Mit Blick auf Karenins hochrangigen Beamtenposten können wir also annehmen, dass er ein Jahresgehalt von 8000 bis 9000 Rubel hat. Und was ist mit dem reichen Grafen Wronskij? Bei ihm ist sich ähnlich wie bei Darcy „alle Welt“ darin einig, dass er ein Jahreseinkommen von 100.000 Rubel hat. Später erfahren wir, dass dies zwar das Einkommen ist, mit dem er normalerweise hätte rechnen dürfen – aber er hat die Hälfte seines Erbes an seinen jüngeren Bruder abgetreten. Daher hat Wronskij, als er Anna begegnet, in Wahrheit nur ein Einkommen von nicht ganz 50.000 Rubel.34 Später scheint er angesichts von Geldproblemen die Hälfte des Erbes, die er etwas voreilig seinem Bruder versprochen hat, „zurückzugewinnen“, weshalb sein Einkommen vermutlich wieder auf das „normale“ Niveau von 100.000 Rubel steigt.35

Sehen wir uns nun an, wie Annas Reichtum wüchse, würde sie Wronskij heiraten. Aus einem Pro-Kopf-Einkommen von etwa 3000 Rubel (das vermutliche Einkommen ihres Ehemanns, aufgeteilt zwischen den beiden und ihrem Sohn) würde mit einem Schlag ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 30.000 Rubel (wenn wir auch hier annehmen, dass sie wie Elizabeth Bennet selbst kein Einkommen beisteuert und dass Wronskij sein Einkommen gleichmäßig mit ihr und ihrem Sohn teilen wird).36 Der Sprung von Annas bereits sehr komfortablem Leben im großen Palais der Karenins, wo sie von Dienstboten und Kindermädchen umgeben ist, in das fast königliche Leben der Wronskijs ginge also mit einer Verzehnfachung ihres Einkommens einher.

Für Russland existieren keine Tabellen zur Sozialstruktur, anhand derer wir die Herren Wronskij und Karenin in der zeitgenössischen Einkommensverteilung einordnen könnten. Aber es steht außer Zweifel, dass die Karenins auf einer der höchsten Einkommensstufen stehen (vielleicht gehören sie zum reichsten 1 Prozent), weshalb Wronskij genau wie Darcy Teil der Crème de la Crème ist und vermutlich zum reichsten Zehntelprozent der Russen zählt (wenn sein Einkommen nicht noch höher anzusiedeln ist). Auch hier fällt die gewaltige Distanz zwischen den Reichen und den extrem Reichen auf.

Aber worin liegt der potenzielle Nachteil für Anna Karenina? Können wir auch diesen (niedrigeren) Bereich der Einkommensverteilung sehen? Für Anna liegt die Schattenseite der Einkommensverteilung in der Vergangenheit. Wir erfahren, dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt37 und dass ihre Familie wahrscheinlich mit einem Jahreseinkommen von wenigen hundert Rubeln pro Kopf auskommen musste.38 Die Heirat mit Karenin bedeutete einen gesellschaftlichen Aufstieg für Anna und ermöglichte es ihr, ihr Einkommen zu verfünffachen. Durch eine Heirat mit Wronskij würde sie, wie wir gerade gesehen haben, ihr Einkommen erneut verzehnfachen. Durch zwei Ehen könnte Anna ihren Lebensstandard etwa um das Einhundertfünzigfache erhöhen (15x10).

Sind die Einkommen in Russland heute gleichmäßiger verteilt? Ja. Aus einer neueren Haushaltserhebung geht hervor, dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen des reichsten 1 Prozents der russischen Haushalte im Jahr 2005 bei 340.000 Rubel lag. Das war etwa das Sechseinhalbfache des Durchschnittseinkommens. Im Jahr 1875 verdiente das reichste 1 Prozent (zu dem die Karenins gehörten) das Fünfzehnfache des Durchschnittseinkommens. Also ist auch die Spreizung der russischen Einkommensverteilung heute geringer als zu Anna Kareninas Zeiten. Auch eine Anna, die heute durch das Spitzensegment der russischen Einkommensverteilung „reisen“ würde, würde sich zweifellos sehr weit von ihrem Ausgangspunkt entfernen (man nehme Roman Abramowitsch), aber obwohl die russischen Milliardäre, die so großes Aufsehen erregen, ungeheure Reichtümer angehäuft haben, würde der Einkommenssprung einer heutigen Anna Karenina sehr viel geringer sein als jener der Heldin von Tolstois Roman.

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