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Skizze 1.3 Wer war der reichste Mensch aller Zeiten?

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Es ist alles andere als leicht, vergangene mit heutigen Einkommen zu vergleichen. Es gibt keinen Wechselkurs für die Umrechnung von römischen Sesterzen oder Assen oder kastilischen Pesos aus dem 17. Jahrhundert in heutige Dollar gleicher Kaufkraft. Obendrein ist keineswegs klar, was mit „gleicher Kaufkraft“ in diesem Fall gemeint sein soll. Gleiche Kaufkraft oder „Kaufkraftparität“ sollte bedeuten, dass man mit einer gegebenen Menge römischer Sesterzen denselben Warenkorb kaufen konnte, den man heute mit einer gegebenen Menge US-Dollar kaufen kann. Aber nicht nur die Warenkörbe haben sich geändert (es gab keine DVDs in römischer Zeit): Würden wir einen Warenkorb nur auf jene Dinge beschränken, die sowohl damals als auch heute verfügbar sind, so würden wir rasch feststellen, dass sich die relativen Preise erheblich verändert haben. Dienstleistungen waren damals aufgrund der niedrigen Löhne relativ billig, während sie heute in den wohlhabenden Ländern teuer sind. Bei Grundnahrungsmitteln wie Brot und Olivenöl verhält es sich umgekehrt.

Um Vermögen und Einkommen der Allerreichsten in verschiedenen Epochen zu vergleichen, situiert man sie daher am besten in ihrem historischen Kontext und misst ihre wirtschaftliche Macht an ihrer Fähigkeit, zu jener Zeit und an jenem Ort durchschnittlich qualifizierte menschliche Arbeitskraft zu erwerben. In gewissem Sinn ist eine gegebene Menge menschlicher Arbeitskraft eine universell unveränderliche Maßeinheit, anhand derer wir den Wohlstand messen können. Wie Adam Smith vor mehr als zwei Jahrhunderten schrieb: „[Ein Mensch] ist arm oder reich je nach der Menge Arbeit, über die er verfügen oder deren Kauf er sich leisten kann.“39 Zudem beinhaltet diese Menge Produktionssteigerungen und eine Zunahme des Wohlstands im Lauf der Zeit, da das Einkommen von jemandem wie Bill Gates heute an den Durchschnittseinkommen der Menschen gemessen wird, die gegenwärtig in den Vereinigten Staaten leben.

Ein naheliegender Ausgangspunkt für solche Vergleiche ist das alte Rom, für das wir Daten zu extrem reichen Personen haben, die Teil einer Volkswirtschaft waren, die ausreichend „modern“ und monetarisiert war, um uns sinnvolle Vergleiche mit der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit zu ermöglichen. Sehen wir uns drei Personen aus dem alten Rom an. Der sagenhaft reiche Triumvir Marcus Crassus besaß ein Vermögen, das um das Jahr 50 v. Chr. auf etwa 200 Millionen Sesterzen geschätzt wurde.40 Das Vermögen von Kaiser Augustus wurde im Jahr 14 n. Chr. auf 250 Millionen Sesterzen geschätzt.41 Und der ungeheuer reiche Freigelassene Marcus Antonius Pallas (der unter Neros Herrschaft lebte) soll im Jahr 52 n. Chr. 300 Millionen Sesterzen besessen haben.42

Sehen wir uns also Crassus an, dessen Name noch immer mit ungeheurem Reichtum verbunden wird (nicht zu verwechseln mit dem griechischen Krösus, der zum Inbegriff des reichen Mannes geworden ist). Bei einem Vermögen von 200 Millionen Sesterzen und einem durchschnittlichen jährlichen Zinssatz von 6 Prozent (der im „goldenen Zeitalter“ Roms, das heißt vor der Inflation im 3. Jahrhundert, als „normaler“ Zins betrachtet wurde) können wir das Jahreseinkommen von Crassus auf 12 Millionen Sesterzen schätzen. Das Durchschnittseinkommen russischer Bürger um das Jahr 14 n. Chr. (das Todesjahr von Augustus) wird auf etwa 380 Sesterzen im Jahr geschätzt, und wir dürfen annehmen, dass es sechzig Jahre früher, zu Crassus’ Lebzeiten, etwa genauso hoch war.43 Crassus erzielte also dasselbe Einkommen wie rund 32 000 Menschen zusammengenommen, eine Menschenmenge, mit der man das halbe Kolosseum hätte füllen können.44

Spulen wir in die nähere Vergangenheit vor und wenden wir dieselbe Methode auf drei amerikanische Ikonen des Reichtums an: Andrew Carnegie, John D. Rockefeller und Bill Gates. Carnegies Vermögen erreichte im Jahr 1901 seinen Höhepunkt, als er U.S. Steel erwarb. Sein Anteil an dem Unternehmen war 225 Millionen Dollar wert. Wenn wir wie zuvor einen Zinssatz von 6 Prozent anwenden und von einem BIP pro Kopf der USA von 282 Dollar (zu Preisen von 1901) ausgehen, stellen wir fest, dass Carnegies Einkommen das von Crassus überstieg. Mit seinem Jahreseinkommen hätte Carnegie die Arbeit von fast 48 000 Menschen kaufen können, ohne sein Vermögen im Geringsten zu schmälern. (Zu beachten ist, dass wir bei all diesen Berechnungen davon ausgehen, dass das Vermögen der superreichen Person unangetastet bleibt: Um die Ergebnisse der Arbeit anderer zu kaufen, zehrt sie lediglich von ihrem Jahreseinkommen, das heißt vom Ertrag ihres Vermögens.)

Eine entsprechende Berechnung für Rockefeller zum Zeitpunkt seines größten Reichtums im Jahr 1937 (1,4 Milliarden Dollar)45ergibt ein Jahreseinkommen, das dem von rund 116 000 Amerikanern entsprach. Rockefeller war demnach fast viermal so reich wie Crassus und mehr als doppelt so reich wie Andrew Carnegie. Mit den Personen, deren Arbeitskraft er kaufen konnte, hätte man leicht das Rose Bowl-Stadium in Pasadena füllen können – und viele Leute wären draußen geblieben.

Wie steht Bill Gates in einem solchen Vergleich da? Forbes beziff erte sein Vermögen im Jahr 2005 auf 50 Milliarden Dollar. Sein Jahreseinkommen könnte man daher auf 3 Milliarden Dollar schätzen, und da das BIP pro Kopf der USA im Jahr 2005 bei etwa 40 000 Dollar lag, hätte Bill Gates mit seinem Einkommen über die Arbeitsergebnisse von rund 75 000 Menschen verfügen können. Damit lag er irgendwo zwischen Andrew Carnegie und John D. Rockefeller, war jedoch sehr viel reicher als der „arme“ Marcus Crassus.

Aber diese Berechnung lässt die Frage offen, wo Milliardäre wie der Russe Michail Chodorkowski und der Mexikaner Carlos Slim einzuordnen sind, die zugleich „national“ und „global“ sind.Chodorkowskis Vermögen wurde im Jahr 2003, als er der reichste Mann Russlands war, auf 24 Milliarden Dollar geschätzt.46 Im globalen Maßstab konnte sich sein Reichtum nicht mit dem von Bill Gates messen. Wenn wir sein Vermögen jedoch in den russischen Kontext einordnen und dieselben Annahmen wie zuvor zugrunde legen, stellen wir fest, dass er mit seinem Einkommen die Arbeitsleistung von mehr als einer Viertelmillion Menschen in Russland kaufen konnte. Anders ausgedrückt: Setzt man Chodorkowskis Reichtum in Beziehung zum relativ niedrigen Durchschnittseinkommen seiner russischen Landsleute, dann war er reicher und potenziell mächtiger als Rockefeller in den Vereinigten Staaten im Jahr 1937. Vermutlich war es diese Tatsache – die potenzielle politische Macht – die den Kreml hellhörig werden ließ.

Nur aus seinem Einkommen, ohne sein Vermögen anzutasten, hätte Chodorkowski eine Armee von einer Viertelmillion Mann aufstellen können. Fast wie eine Regierung verhandelte er sowohl mit den Amerikanern als auch mit den Chinesen über den Bau neuer Erdgas- und Erdölpipelines. Seine potenzielle Macht führte zu seinem Sturz und brachte ihn ins Gefängnis. Aber die Geschichte hat uns gelehrt, dass man auf dem Weg zur Macht in Russland oft einen Umweg über Sibirien machen muss. Vielleicht werden wir noch von Chodorkowski hören.

Der Mexikaner Carlos Slim ist noch reicher als Chodorkowski. Das Magazin Forbes schätzte sein Vermögen vor der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 auf mehr als 53 Milliarden Dollar. Wenn wir dieselbe Berechnung wie zuvor anstellen, zeigt sich, dass Slim über die Arbeitskraft von noch mehr Menschen verfügen konnte als Chodorkowski auf dem Höhepunkt seines Reichtums: Er konnte die Arbeitsleistung von etwa 440 000 Mexikanern kaufen. Ordnet man das Vermögen also lokal ein, so scheint Slim der Reichste unter den Reichen zu sein! Keine Arena in Mexiko, nicht einmal das berühmte Aztekenstadion, könnte all die Mexikaner aufnehmen, deren Arbeitsleistung Slim mit seinem Jahreseinkommen kaufen könnte.

Wir müssen einen weiteren Faktor berücksichtigen, der solche Vergleiche erschwert: die Größe der Bevölkerung. Als Crassus über die Arbeitsleistung von 32 000 Menschen verfügen konnte, entsprach sein Jahreseinkommen dem des 1500sten Teils aller Einwohner des Römischen Reichs. Die 116 000 Amerikaner, die zusammen ein so hohes Einkommen wie Rockefeller erzielten, stellten den 1100sten Teil der Einwohner des Landes, weshalb Rockefeller gemessen an beiden Maßstäben Crassus übertraf.

Können wir also sagen, wer der Reichste von allen war? Da die Reichen im Zuge der Globalisierung ebenfalls dazu übergehen, ihr Vermögen mit dem von Reichen in anderen Ländern zu vergleichen, war vermutlich Rockefeller der Reichste von allen, weil er im zu diesem Zeitpunkt reichsten Land der Welt über die größte Zahl von Arbeitseinheiten verfügen konnte. Aber wenn sich die Superreichen entschließen, eine politische Rolle in ihrem Land zu übernehmen (das so wie Russland und Mexiko möglicherweise nicht zu den reichsten Ländern der Welt zählt), kann ihre Macht in diesem Land sogar größer sein als die des reichsten Mannes der Welt.

Haben und Nichthaben

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