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Augen zu und los?

Schön wär's!

Es ist sicherlich keine klassische männliche Eigenschaft, dieses In-Frage-Stellen meines Tuns. Dass ich mich mit so vielen Zweifeln und Unsicherheiten rumschlagen muss, nur weil ich mich auf schwankenden Boden begebe, wie er abseits meines gut gepflasterten Weges lauert.

Mein Vorhaben, mit dem ich mir unbekanntes Terrain betrete, ruft sofort die Erwägung des Verfassens eines Prologs auf den Plan. Als eine Art Selbsterklärung.

Ein Prolog, der eher Appetit auf meine Geschichte macht, wäre natürlich angebrachter.

Oder – warum nicht einfach mit etwas breiterer Brust gleich ein selbstsicheres Hineinspringen in meine Geschichte?

Siehe oben: Augen auf und los!

Das kann ich aber nicht.

Dabei ist es ja nicht mal meine Geschichte, es ist die von Paula, ein Rückblick auf Ausschnitte aus ihrem Leben, zu dessen Chronist ich mich aufschwinge.

Als ich Paulas Vorschlag annahm, mich, das heißt meine Situation des Zuhörens, des Nachfragens mit zu thematisieren, da war ich mir meiner Unsicherheit noch nicht richtig bewusst.

Der Mut, sich diese einzugestehen, sie zu kommunizieren ist ein wichtiger Schritt – das würde ich einem Patienten sagen und erstmal ein „Hmmh“ ernten.

Mein Prolog finge also mit einem „Hmmh“ an.


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Unsicherheit also. In Bezug auf das Ob und das Wie. Und das Warum und die Frage der Rechtfertigung. Denn das, was ich hier tue, geht nicht konform mit meinem Berufsethos, mit dem, was ich mir als Therapeut meine erlauben zu dürfen.

Ein Pseudonym hilft da nach außen, das ja, aber ich, für mich selber, kann ja meine Berufsidentität nicht von der des Schreibenden abspalten. Und nicht nur, weil ich therapie-analoge Sitzungen als Erzählansatz hernehme.

Vielleicht sollte ich mein Ich umschreiben. Oder es ganz rausnehmen. Oder ihm eine andere Sprache verpassen. Eine andere Stimme. Gar keine Stimme. Lediglich Gedankenwolken an dem, was mir erzählt wird, vorbeiziehen lassen.

Quatsch, die müsste ich ja auch sprachlich fassen, müsste ja auch eine Stimme für sie finden. Und ich brauche doch die Fragen, das Nachhaken, das kleine Bisschen Steuern. Denn ich habe ja keine dramaturgisch strukturierte Geschichte. Ich habe Episodenhaftes, Anekdotisches, wie man es einander erzählt, wenn man zusammensitzt. Und dann, und dann, und dann. Und davor, und danach.

Paula erzählt und Radunsky hört zu.

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Ich klammere diese ersten Abschnitte ein.

Mir wird schon ein Anfang einfallen, wenn ich bis zum Ende durchgekommen bin – hoffe ich.

Und starte erstmal, ganz ohne Prolog, mit meinem eigenen „Davor“, meiner ursprünglichen Idee:

Das Schreiben eines Reigens von Erzählungen, angesiedelt in der Stadt Köln im Laufe der letzten 15 Jahre, zusammengehalten von einer Protagonistin, deren Begegnungen sich in einem „erotischen Alphabet“ – so der Untertitel – durchbuchstabieren.

Ein erster Entwurf war mittlerweile fertig, und nun ging es mir um die Resonanz darauf.

Ich selber war von meinem Manuskript durchaus angetan – wohl wissend, dass es eben nur ein erster Entwurf war, der es nötig hatte, überarbeitet, befeilt und geschmückt zu werden. Noch zu sehr Skelett und zu wenig üppiges Fleisch. (Dies vielleicht nicht das beste Bild für mein Vorhaben eines erotischen Romans. Aber egal.)

Wie das alles anfing, weiß ich gar nicht mehr so genau zu sagen. Geschichten haben mich immer interessiert. Sie zu lesen, und noch mehr, welche erzählt zu bekommen. Selber welche zu erleben – gut, aber bitte keine groß dramatischen. Für mein eigenes Leben hab ich's schon lieber gemächlich, beruhigt dahinplätschernd, und darin bestärkt mich meine Rolle als Beobachter und Zuhörer, die ich mir als Profession ausgesucht habe. Selber welche zu erfinden fand ich schon eher reizvoll, aber meine Fantasien wirkten ganz schnell so, als seien sie kontaminiert von Gehörtem und Gelesenem – und das waren sie auch. Also warum nicht genau das aufgreifen? Und erstmal andererleuts Geschichten in eine Form bringen und aufschreiben?

Paula, die seit knapp zwei Jahren in meine Praxis kam, hatte ich gefragt, ob ich Splitter aus ihrem Erzählten literarisch verwenden dürfe. Entpersonalisiert natürlich. Sie hatte nichts dagegen. In welche Richtung es laufen sollte, wusste ich da noch nicht.

Wen es interessiert? Gute Frage.

Meine Frau hatte eine Literaturagentin in ihrem Yoga-Kurs kennengelernt und zu uns eingeladen – wahrscheinlich mit Hintergedanken, sie wusste ja von meinen Schreibversuchen. Das Gespräch mit dieser Frau über Literatur beziehungsweise die Veröffentlichung selbiger war durchaus ernüchternd. Bei der Auswahl der Stoffe – gerade von bis dato unbekannten Autoren – kam es weniger auf die Qualität, als auf die Möglichkeit einer Marketing-Strategie an: Die Leser interessiert das, was ihnen in einer Kampagne als interessant eingebläut wird. Und dann natürlich: Sex sells.

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Letzteres war mir Paula gegenüber so rausgerutscht. Natürlich bereute ich es sofort. Allerdings hatte ich eine schärfere Replik erwartet als ihr „Na, dann sellen Sie mal schön, Herr Radunsky.“

Vorsichtig fragte ich: „Sind Sie jetzt beleidigt?“

„Nö. So ist es nun mal hierzulande heutzutage. Wenn die Leute schon Ihrem eigenen Sex nichts abgewinnen können, dann eben fremdem. Oder fantasiertem.

Ich hatte mir das Ganze übrigens eher wissenschaftlich vorgestellt, und nicht so … ich will’s mal ,belletristisch’ nennen. Zumindest ist es durchaus fiktiv. Aber Sie dachten, ich finde mich darin wieder?“

„Nicht?“

„Es ist natürlich einiges von dem drin, was ich im Lauf der Zeit erzählt habe. Ein bisschen verkleidet oder verschleiert. Vor allem aber dadurch unkenntlich gemacht, dass Sie alles und jeden auf ein zwischen-geschlechtliches Abenteuer zulaufen lassen. Andere Dinge sind nur Nebensachen, die Ihrem Scherenschnitt doch noch so was wie Farbe verleihen sollen.“

„Ich wollte mich eben auf ein Kernthema konzentrieren. Und die Sexualität ist nun mal grundlegend für den Menschen.“

„Also sprach der Psychotherapeut. Dass Sie darauf stark fokussiert sind, ist mir schon öfters aufgefallen.“

„Was spricht dagegen?“

„Mir ist das zu eindimensional.

Zum Glück haben Sie das in der Therapie nicht gar zu sehr zum Schwerpunkt gemacht.“

„Aber?“

„Es war Ihnen offenbar wichtiger als mir.“

„Sie haben gemerkt, dass Sie die Vergangenheitsform benutzt haben?“

„Das Kontingent der Krankenkasse läuft halt Ende des Monats aus.“

„Und wenn ich Ihnen den Vorschlag mache, unsere Stunden weiterlaufen zu lassen? Und wir sprechen über mein Manuskript?

Es wäre ein Job, den ich Ihnen anbieten möchte.“

„Ich habe jetzt zwei Jahre lang bei Ihnen nen Haufen Erinnerungen ausgekramt. Da kommt's auf ein paar Stunden mehr oder weniger auch nicht an.

Was haben Sie denn für einen Stundensatz?“


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Ob die Geschichte chronologisch bleiben sollte, wusste ich noch nicht.

Paula wollte sich darüber keine Gedanken machen.

„Verhackstücken Sie das mit Ihrem Lektor.“

„Das Manuskript hat momentan noch meine Literaturagentin. Vor dem nächsten Schritt – Verlag und Lektorat – will ich's noch überarbeiten. Aber ihr gefällt es so schon gut.“

„Das ist doch schön für Sie.“

„Sie hat gesagt, sie sei frappiert, wie gut ich mich in eine weibliche Seele hineinversetzen kann.“

„Das hat sie gesagt? Zu Ihrer ‚Sex-Sells’-Fassung?“

„Mhm. Genau.“

„Wie alt ist sie ungefähr?“

„So in meinem Alter, Anfang 40.“

„Und weiß, wie eine ‚weibliche Seele’ aussieht.“

„Ich denke schon.“

„Und was sagt Ihre Frau?“

„Sie sieht das genauso. Wenn sie auch der Ansicht ist, dass meine Protagonistin eher abgehoben wirkt, gefällt sie ihr als literarische Figur.“

„Sagt sie das so?“

„Ja, in etwa.“

„Und warum wollen Sie noch was ändern, wenn alle zufrieden sind? Und glauben, dass es sich als Buch verkauft?“

„Weil es vielleicht wirklich etwas flach daherkommt.“

„Wenn Sie es doch sowieso unter Pseudonym veröffentlichen wollen …

Kleine Randfrage: Soll es ein weibliches oder männliches sein?“

„Das weiß ich noch nicht“

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Starten wir mit meiner Hauptfigur. Sie wird natürlich in der Endfassung nicht „Paula“ heißen. Einen guten Namen für sie habe ich noch nicht gefunden. Wer ist sie? Auf jeden Fall schon mal eine interessante Frau. Apart. Selbstbewusst …

„Was heißt für Sie selbstbewusst?“

„Sie hat ein starkes Selbstwertgefühl.“

„Aha. Also für mich muss ein selbstbewusster Mensch sich selber nicht besonders wertschätzen. Im Gegenteil. Wenn er sich selbst bewusst anschaut, dann wird er sich doch eher realistisch, also sicherlich nicht als ‚besonders wertvoll’ einschätzen können.“

„Es ist seltsam, dass Ihre Selbsteinschätzung so negativ ist und sie gleichzeitig so selbstbewusst wirken.“

„Ach, Herr Radunsky, wir sind uns doch noch gar nicht einig, was ‚selbstbewusst’ überhaupt ist.

Nehmen wir’s doch mal wörtlich: Du bist dir bewusst, woraus sich dein Selbst oder auch dein Ego zusammensetzt. Reflektierst das Wertegefüge, nach dem du versuchst, dein Handeln, dein Leben auszurichten. Kennst deine Stärken und mehr noch deine Schwächen. Weißt, wo deine Grenzen sind. Wo die Grenze des Herausschiebens dieser Grenzen ist. Also was du nicht kannst und wohl nicht mehr können wirst. Was du erreichen wolltest, aber voraussichtlich nicht mehr erreichen wirst.“

„Sie meinen jetzt Erfolg im landläufigen Sinne.“

„Auch. Für mich muss ein selbstbewusster Mensch nach außen hin nicht besonders weit kommen. Nicht unbedingt erfolgreich sein. Was ein Erfolg für ihn wäre, dessen wäre er sich schon bewusst. Aber eben auch, wie viel davon für ihn möglich ist.“

„Was wäre denn für Sie ein Erfolg?“

„Darum soll es doch jetzt nicht mehr gehen. Vergessen? Keine Therapiestunde mehr. Wir beschäftigen uns doch jetzt mit dem, was Sie wollen, nämlich einen Roman aus der Perspektive einer Frau zu schreiben und diesen auch noch mit Sex zu sellen.“

„Ich frage ja gar nicht als Therapeut. Ich will etwas mehr Hintergrund für meine Ich-Figur. Das hatten Sie doch angemahnt. Und dass sie ein bisschen was von Ihnen haben darf, das hatten Sie doch akzeptiert.“

„Okay, okay. … Erfolg … Puh! Die Dinge tun zu können, an denen mein Herz hängt. Wenn es mir gelingt, meine Interessen auszuleben und damit auch noch die Basis für mein Überleben zu sichern, das ist für mich Erfolg.“

„Hört sich bescheiden an.“

„Ist es aber nicht. Ist sogar ziemlich ambitioniert. Es ist eben auch ein Werben um Anerkennung. Ich muss Leute finden, die mir meine Tätigkeit abkaufen. Im wahrsten Sinne des Wortes: die mich engagieren, bezahlen. In der Musik zum Beispiel, da lief ich immer auf verschiedenen Schienen. Manches hat gut Geld gebracht, anderes wollte erst mal kein Mensch hören geschweige denn finanzieren. Meine Lieblingsprojekte waren selten die lukrativsten. Aber Kosten-Nutzen-Rechnung war irgendwie nie mein Ding.“

„Auch nicht in Bezug auf die Auswahl Ihrer Liebschaften?“

„Mein Gott! Niemals! Um Gottes Willen, nein!“

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„Ich wollte Sie mit dieser Frage nicht ärgern.“

„Doch, Herr Radunsky. Trotzdem tut mir meine Reaktion leid. Ich wollte Ihren Gott wirklich nicht ins Spiel bringen.“

„Es hätte ja auch irgendein anderer Gott gemeint sein können.“

„Müssen Sie gerade sagen. Für euch Christen gibt es doch nur den einen. So hat man’s mir zumindest als Kind versucht einzubläuen.“

Radunsky wusste, dass Paula religiös erzogen worden war. Ihre Kindheit war eingezwängt in ein konfessionelles Regelwerk. Und das obwohl der Vater im Krieg seinen Glauben verloren hatte. Nichtsdestoweniger hielt er das, was sie die „Drohkulisse der Religion“ nannte, aufrecht. Man habe diese hervorragend dazu nutzen können, Kinder zu zähmen. Mehr hatte sie zu diesem Thema nicht sagen wollen. Jetzt vielleicht?

„Nun ja, es kann für ein Kind ein ziemlicher Horror sein zu glauben, dass alles, was man tut, alles, was man will, eine Sünde sein kann. Allein schon überhaupt etwas zu wollen war ja heikel. Hinter jeder Ecke, um die man ungefragt bog, konnte die Hölle lauern. Man wusste ja gar nicht so genau, ob etwas richtig oder falsch war. All diese Normen und Regeln waren durchaus unergründlich. Auf eine Erklärung konnte man nicht hoffen. Warum? Darum!, hieß es immer. Am schlimmsten war vielleicht, dass man gar nicht drum herum kam, zu sündigen. Ein Beispiel: ‚Widerworte’ geben. Ganz schlimme Sache. Durfte man nicht, und natürlich setzte es eine Ohrfeige von Mutter, Vater oder Lehrer. Aber so was nicht zu sagen half einem leider auch nicht weiter. Schon der Gedanke konnte ja zur Falle werden. Weil Gott ihn doch lesen kann und ganz bestimmt irgendwo vermerkt. Da war’s sicherlich besser, wenn er gleich hier im Diesseits durch die Ohrfeige bestraft wurde und die Sünde damit womöglich abgegolten war.

Meine Gut-Böse-Bilanz machte mir wirklich Sorgen. Besser wurde das erst, als ich endlich zur Beichte durfte. ‚Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken’. Allerdings mochte ich es gar nicht, dem Pfarrer oder Kaplan all meine Sünden zu beichten. Wenn Gott doch alles sieht, hört und über mich weiß, musste ich ihm gegenüber doch nur zugeben, dass ich wusste, was Sünde war und was nicht. Und trotzdem welche begangen hatte. Also erzählte ich ihm diese am Samstag Nachmittag auf dem Weg zur Kirche. Bat ihn, mit den Glocken zu läuten, wenn er mir vergibt. Und kletterte, statt in den Beichtstuhl zu gehen, auf einem Rohbau herum. Wenn’s dann vier Uhr schlug, wusste ich bescheid: vier Vaterunser und vier Gegrüßetseisdumaria. Die betete ich auf dem Heimweg runter. Schnell, um bis zur großen Straße damit durch zu sein. Beseelt von dem Gedanken, jetzt sterben zu können, ging ich rüber, ohne vorher nach rechts und links zu schauen. Aber der blöde Schutzengel brachte mich jedes Mal heil auf die andere Seite. Blieb die Hoffnung, dass noch am Abend oder in der Nacht was passiert. Denn sündenfrei würde ich nur bis zum nächsten Morgen sein. Dann musste ich ja wie jeden Sonntag zur Messe und zur Heiligen Kommunion. Und konnte nicht gegen meinen Widerwillen an, die Hostie zu empfangen. ‚Corpus Christi’ – und Jesus war doch Mensch geworden und ich sollte also Menschenfleisch schlucken. Mir wurde jedes Mal speiübel. Was für eine Art Sünde das war, wagte ich niemanden zu fragen. Im Katechismus stand nichts davon. Ich befürchtete allerdings, es sei eine Todsünde. Was würden Sie sagen, Herr Radunsky?“

„Sie erwarten doch jetzt keine Antwort.“

„Weil Sie evangelisch sind? Dieses ganze Sündenregister gibt es doch auch bei euch. Wir hatten zu jedem der zehn Gebote die Auflistung einer ganzen Latte von möglichen Verstößen. Die meisten Probleme machte mir das sechste Gebot, weil mir schleierhaft blieb, was ich unter ‚unzüchtigem Verhalten’ zu verstehen hatte. Irgendwas ‚unten rum’, aber darüber sprachen die Erwachsenen ja nicht. Ich denke, in Ihrer Kinder- und Jugendzeit war das sicherlich längst anders. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, dass die christlichen Kirchen die sexuelle Liberalisierung mitgetragen haben. Daher wundert es mich ja auch, dass ein bekennender Evangele wie Sie sich so viel mit Sinnlichkeit beschäftigt.“

„Gott hat die Erotik ja zum konstituierenden Teil des Menschen gemacht.“

„Erzählen Sie das mal einem Pfaffen.“

„Die sind heute nicht mehr so verknöchert, wie noch vor 30, 40 Jahren.“

„Gott sei Dank.“

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Religion hat Radunsky nun wirklich sorgfältig ausgeklammert in seinem Manuskript. Das fiel angenehm auf. Da gab es dann auch kein Gerangel zwischen Trieb und Befolgung rigider Verhaltensmaßregeln. Moral bezieht sich in seinem Text lediglich darauf, dass niemand sich oder andere zu etwas zwingt. Also weder zu Verzicht und Kasteiung, noch zu Ausschweifung oder gar Obszönität. Dennoch ist alles zuhöchst unmoralisch, insofern seine Protagonistin die anderen zu puren Objekten degradiert. Um das moralisch zumindest fragwürdig zu finden, dazu muss man kein religiöser Mensch sein. Ein gewisses emotionales Engagement schimmert zwar hier und da durch, und Kompetenz in Gefühlsdingen bezeichnet man ja als feminine Eigenschaft, aber wenn das alles ist an „weiblicher Seele“ …

Und dann ist er ja doch allgegenwärtig, der Allmächtige. Hinter der Ich-Figur, oder vielleicht besser obendrüber aber sitzt ein Erzähler oder eine Erzähle-rin, keine Ahnung, offenbar ein bewusst geschlechtsneutral gehaltenes Wesen. Es sitzt auf seiner Wolke und schaut sich das Spielchen von oben an.

Das hört sich so an, als würde Paula eine Vogelperspektive in Bausch und Bogen verdammen. Ich hingegen gehe da nicht mit. Gerade den Wechsel zwischen neutralem Blick auf das Geschehen und der Innen-Sicht der Protagonistin habe ich bewusst eingesetzt. Vielleicht ja ein kleiner Stolperstein, den ich auch weiterhin zu benutzen gedenke. Ich selber mag es, wenn mir solche Perspektivwechsel angeboten werden.

Mit diesem kleinen Einschub will ich nicht ablenken von ihrer inhaltlichen Kritik, die sie im übrigen so nicht persönlich vorgebracht hat, sondern im Nachhinein notiert hat. (Ihre gesammelten Notizen zu unseren Treffen hat sie mir übrigens später zur Verwendung überlassen.)

Im Gespräch blieb sie vordergründig:

„Zuerst wirkt es so, als würde die Protagonistin wahllos in der Gegend rumficken, aber dann merkt man: Hey, da gibt es ja ein System! Die Mitspieler treten in alphabetischer Reihenfolge an! Aber Nomen ist hier in keinster Weise Omen. Und also sieht es so aus, als habe der Erzähler damit nur im Sinn, sich selbst ein kleines Vergnügen zu gönnen. Womöglich noch seinen Lesern eines zu bereiten. Das Vergnügen der Protagonistin findet ja auf einer durchaus anderen Ebene statt. Für sie scheint die Alphabetisierung ihrer Objekte keine Rolle zu spielen. Obwohl, vielleicht könnte man da ja was Pfiffiges draus basteln.“

„???“

„Was? Keine Ahnung. Bin ich die Autorin, oder Sie?

Ich hab’s ja mehr mit Zahlen. Frage mich etwa, ob die Nummer 24 und die Nummer 42 was gemeinsam haben. Beide haben die Quersumme 6, sind also womöglich miteinander sowie mit der 6 selbst und der 15 verwandt.

Ich könnte allerdings nicht auswendig sagen, welcher meiner Geschlechtspartner der Wievielste war.“

„Ich wusste gar nicht, dass Ihnen an Zahlen gelegen ist. Das haben Sie mir nie erzählt.“

„Auch nicht, dass ich manchmal die Treppenstufen zähle? Zu Ihnen sind es übrigens 38, runtergerechnet die 11. Diese Zahl mag ich, die 2 allerdings nicht so. Und meinen Wecker stelle ich so, dass er mir mit einer angenehmen Zahl meinen Tag einläutet.“

„...“

„Ich glaube, jetzt halten Sie mich endgültig für bekloppt. Immer schon, also während unserer früheren Sitzungen hatte ich Spaß daran, solche Häppchen anzubieten. Und darauf zu lauern, ob Sie drauf anspringen oder nicht. Ein Teufelchen in meinem Nacken? Ich weiß natürlich nicht, ob Sie es für geboten hielten, an einem Punkt wie diesem rumzutherapieren. Wahrscheinlich wäre das Ganze für Sie eher ein Spleen, der mein Funktionieren in dieser unserer Gesellschaft ja nicht beeinträchtigt. Abgesehen davon, dass Sie eh nicht mehr an mir rumzudoktern haben. Und was ,normal’ ist und was nicht, das sei doch sowieso relativ, haben Sie mal gesagt, die Grenze dazwischen sei durchaus unscharf.

„Wussten Sie übrigens, Herr Radunsky, das ‚normal’ in meiner Jugend in meinen Kreisen ein Schimpfwort war? ‚Der ist doch normal!’, das war für uns damals ein grob abwertendes Urteil. Im schlimmsten Fall fing jemand sich die Bezeichnung ‚stocknormal’ ein. Noch ein Argument, wieso es nicht funktionieren kann, wenn Sie der Protagonistin Ihrer Erzählung meine Erfahrungen und Erlebnisse andichten und sie gleichzeitig im Alter von 30 Jahren ihre Geschichte erzählen lassen. Ich glaube, dass die Jugendlichen vor 15, 20, 25 Jahren unterschiedlich drauf waren, je nachdem, was gerade in der Altersgruppe angesagt war. Auch halte ich es für abwegig, die gesammelten letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts auf schlappe 10 Jährchen einzudampfen.“

„Aber Sie hatten doch zwischendurch längere Beziehungen in ruhigerem Fahrwasser. 7 Jahre, 5 Jahre, 3 Jahre, 8 Jahre – die kann man doch rausrechnen.“

„Ach, Sie denken also, diese Zeiten wären nicht relevant gewesen?“

„Für Sie wohl schon. Für meine Geschichte eben nicht.“

9

Na ja, normal ist mein Leben schon. Ich esse, trinke, schlafe normal, wenn auch immer noch nicht so ganz regelmäßig. Ich nehme wahr und halte das Wahrgenommene für wahr, zumindest normalerweise. Meine äußeren Lebensumstände – Umbrüche, Abbrüche, Neustarts – der Normalfall für mich.

Dieses alte Schimpfwort, „normal“, hatte ich übrigens völlig vergessen bis vor ein paar Monaten. Da hatte ich Klassentreffen meiner alten Realschule. Habe versucht, mich zu erinnern: Wie war das damals? Wie habe ich mir mein weiteres Leben erträumt? Es sollte auf keinen Fall „normal“ sein, das war schon mal ausgemacht. Und nicht „läppsch“. Noch so ein Ausdruck von früher. Und Achtung: ohne „i“. Das Wort „läp-pisch“ kam in unserem Sperachgebrauch nicht vor. Was war „läppsch“? Das, womit sich die Stocknormalen beschäftigten, natürlich. Läppsch war, etwas zu tun, nur um Geld zu verdienen. Oder um die Zeit totzuschlagen. Arbeitszeit als Warteschleife. Bis zum Feierabend. Oder bis zur Rente. Etwas, das nur außerhalb des Hier und Heute einen Sinn macht: läppsch. Zukunft, also auch Planung, zählte nicht. Vorsorge oder Versicherung schon gar nicht. Ausnahme: die Schule. Neben den vielen Gebieten, auf denen es Neues zu wissen und zu lernen gab, war schon wichtig, dass das Abi die Möglichkeit eines Studiums eröffnete. Aber die Frage, was das Studium an Berufssaussichten bot, war irrelvant. Was auch hier zählte: Selbstverwirklichung.

Es klappte natürlich nicht durchgängig. Zwischendurch mussten es immer mal wieder sogenannte „Brotjobs“ sein, um das Überleben zu sichern, mein Studium zu finanzieren. Wichtig war aber, sich nicht davon vereinnahmen zu lassen. Und schon gar nicht, einem solchen Job einen Wert über das momentane Geldverdienen hinaus aufzupfropfen. Ein Graus war für mich zu sehen, wie viele Leute sich in ein Arbeitsleben eingesperrt hatten und auch noch proklamierten, was sie täten hätte zumindest ökonomische, wenn nicht gar gesellschaftliche Relevanz. Und produzierten doch nur etwa überflüssigen Konsum-Scheiß – um es sich leisten zu können, überflüssigen Scheiß zu konsumieren. Und dabei keine Vorstellung von der Gesellschaft hatten, weder vom Status quo, geschweige denn davon, wie diese idealerweise zu organisieren oder zu strukturieren wäre, damit zwar alles Lebenswichtige ausreichend vorhanden ist, sich aber möglichst viele möglichst viel Raum für freie Tätigkeiten, eben für Selbstverwirklichung schaffen können. Aber was sie von sich und ihrem Leben wollten, davon hatten viele, viele ja keinerlei Begriff. Es sich nett machen jenseits der Arbeit, sich zu erholen, um dann desto besser zu funktionieren? Das sollte alles sein? Entwicklung war nicht vorgesehen, weder individuelle noch gesellschaftliche? Großes Achselzucken. Und: wozu auch. Um die Gegebenheiten zu hinterfragen, um Selbstzweifel zu nähren, um Unzufriedenheit zu säen? Und das soll ein gelungenes Leben ausmachen? Werde du erstmal erwachsen.

Nun ja. Ich tue mein Bestes dafür.

Was für mich auch hieß, dass ich mich in Bereichen bewegen wollte, die die Möglichkeit eröffnen, ständig meinen Horizont zu erweitern. Daran war mir gelegen. Und da war viel Neugier: möglichst viel lernen, sehen, erfahren.

An die Hoffnung auf gute Freunde kann ich mich noch erinnern – durch Dick und Dünn. Mentale, emotionale, soziale Nahrung. Das habe ich als Teenager wohl noch anders ausgedrückt.

Und da war auch der Glaube an so was wie Liebe. Jemand, der mich liebt, würde mir nicht sagen, was ich zu tun und zu lassen habe, mich nicht erpressen mit Statements wie: „Ich liebe dich nur, wenn …“ Zu Liebe fiel mir als Schülerin nur ein, was sie nicht darf. Das wurde später übrigens nicht besser.

Dass ich keine konkreten Berufswünsche hatte, hing also nicht damit zusammen, dass es bei uns zu Hause immer hieß: „Du heiratest ja doch“. Gegen dieses Argument hatte sich meine Volksschullehrerin durchsetzen müssen, die mich wenigstens auf die Realschule schicken wollte. Derselbe Aufstand eben, als ich weiter zum Abitur wollte.

Vielleicht haben mir meine Eltern damals zugetraut, tatsächlich von zu Hause abzuhauen, wie ich angedroht hatte. Meine Mutter kann sich daran nicht mehr erinnern. Auch nicht an meine damaligen Lebensträume. Wie auch. Sie hatte im Grunde genommen nie einen Schimmer, was in ihren Kindern vorging. Ihr Job war es, den Haushalt in Schuss zu halten, uns zu füttern und darauf zu achten, dass wir uns ordentlich gekleidet ordentlich benahmen. Punkt. Das alles war schon lästig genug. Ich weiß nicht, ob sie sich damals schon ihre Träume abgeschminkt hatte – sie bezogen sich auf mehr vorzeigbaren Wohlstand –, aber es war ihr wohl klar, dass die gesamten Umstände, in denen sie festzusitzen glaubte, nicht dazu angetan waren, Träume wahr werden zu lassen.

Für ihre Tochter vielleicht. Von einem „anständigen Mann“ war die Rede – und wenig Geld war eher nicht „anständig“ –, von Kindern in einem gemütlichen Heim. Akzeptabel ein Mann, der seiner Familie was zu bieten hatte, mit einem ordentlichen Beruf, am besten einem, bei dem man sich nicht die Finger schmutzig machen musste. Daher auch die Idee, mich nach der Mittleren Reife in eine Banklehre zu geben mit der Chance, dort den Passenden kennenzulernen. Dass ihre Tochter sowohl Bankgeschäfte unmoralisch fand als auch die „Büttel des Geldes“ verachtete, ignorierte sie.

Aber ich hätte doch so gute Noten in Mathe.

Ja und? Was hat denn Geld mit Mathematik zu tun?

Außerdem war ich in Musik, Kunst und Sport etwa genauso gut.

Aber damit könne man doch kein Geld verdienen.

Ja und? Ich denke, ich heirate ja doch.

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Das ausgerechnet wollte ich ganz bestimmt nicht. Später vielleicht, wenn ich alt wäre. Aber Nachwuchs sicher nicht. Kinder gab’s wirklich schon genug in dieser Scheißwelt. Sich um fremde Kinder kümmern, die sonst niemanden haben, na gut, das wäre gerade noch akzeptabel.

Am Wichtigsten aber war, möglichst viel zu können, um mir möglichst viele Optionen zu eröffnen. Also auf jeden Fall studieren. Mathematik oder Physik. Unbedingt auch Philosophie. Psychologie. Geschichte: spannend. Politikwissenschaften.

Und dann die Musik natürlich. Kunst. Und Literatur. Aber die nicht studieren, sondern selber schreiben.

Oder als Journalistin arbeiten.

Theater wäre klasse. Regie oder Schauspiel. Oder Bühnenbild. Kulissen bauen. Möbel bauen. Häuser bauen: Architektur, genau, das wäre was für mich.

Auf jeden Fall aber Philosophie. Wie ist die Welt gestrickt? Das Leben? Das Dasein? Logik ist auch ganz wichtig. Bin ich überhaupt intelligent genug? Wie kann ich meinen Verstand schärfen? Ich will alles verstehen lernen.

Aber auch etwas schaffen. Bilder malen. Musikstücke schreiben. Und singen. Oder Filme machen, mit viel Philosophie und Politik drin. Wie Godard zum Beispiel. Am liebsten das alles auf einmal.

Und dazwischen noch die Revolution.

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Und so vertiefte ich mich in Werke über den deutschen Expressionismus und den russischen Konstruktivismus. Fand heraus, dass der Existentialismus das Spezialgebiet unserer Französisch-Referendarin war und löcherte sie, mir Sartre zu erklären. Baute aus Versatzstücken meiner Lieblings-Songs neue Lieder zusammen mit Texten über unsere Lehrer. Verlangte vom Religionslehrer schlüssige Gottesbeweise, die er mir schuldig bleib. Brachte ihn damit zur Weißglut. Trat aus der Kirche aus. Diskutierte in der Tanzschule über Sisyphos und den Sinn des Lebens, bis mein jeweiliger Partner völlig aus dem Takt gekommen war.

Und dann landete ich – stolz und zufrieden mit meiner Dickköpfigkeit – tatsächlich auf dem „Gymnasium in Aufbauform für Realschulabsolventen“ mit dem Ziel Vollabitur. Kassierte dort zwar die ersten beiden Fünfen in meinem Leben und hatte zunächst ein bisschen Schiss, mich übernommen zu haben. Kriegte aber zum Glück noch innerhalb des ersten Halbjahres die Kurve. Anders wäre es auch blöd gewesen, denn zum Pauken hätte ich nicht genug Zeit gehabt. Es gab so viel anderes zu tun. Arbeitskreise gab es an dieser neuen Schule! Einer spannender als der andere! Nicht nur Chor, sondern auch freies Werken, Politik – das war damals noch kein Schulfach – und auch die Theater-AG. Piscator, Brecht, der V-Effekt … Vor allem aber die Schülerzeitung. Die schrieb ich voll mit Thesen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit als oberstem Erziehungsziel. Rief dazu auf, sämtliche Tyrannen – Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, Regenten – von ihren Sockeln zu stürzen. Las „Jasmin. Zeitschrift für das Leben zu Zweit“ und zitierte was das Zeug hielt. Es ging ja immerhin auch um die sexuelle Befreiung als Grundlage einer freien Gesellschaft!

Aus von den Lehrern zensierten Artikeln wurden Flugblätter. Ich tippte sie auf Matritze und zog sie im Werkraum mit Hilfe des Sohnes des Hausmeisters heimlich ab und verteilte sie vor der Schule. Bei der Gelegenheit lernte ich im Selbststudium Schreibmaschine schreiben. Und kriegte mit dieser neuen Kenntnis bei kleineren Zwischendurch-Jobs gleich ne Mark mehr pro Stunde. Nicht dass ich viel Geld gebraucht hätte. Ab und zu mal ne Eintrittskarte fürs Theater oder ein Konzert. Mal ne Cola oder ein Klümpchen Haschisch. Klamotten nähte oder strickte ich mir selbst. Bücher gab’s in der Stadtbibliothek. Gefüttert wurde ich zu Hause.

Grandios war, dass ich irgendwann auf die Idee kam, mich „Polly“ zu nennen, weil ich den Namen Paula doof und altbacken fand. Als „Polly“ kriegte ich es dann auch endlich hin, nach all den kleinen Knutschgeschichten jemanden zu finden, mit dem ich es richtig machen konnte. Das Ganze hielt übrigens nicht besonders lang, drei Monate vielleicht, dann hatte der süße Hajo die Schnauze voll davon, ständig mit mir zum „Jugendclub kritisches Theater“, zum „Experimentierstudio für Neue Musik“ oder in die „Lupe“ zur Nouvelle-Vague-Filmreihe mit Diskussionsforum gehen zu müssen, statt mal schlicht in die Disco oder zur Baggerloch-Party.

So, Herr Radunsky. Vielleicht auch nicht gerade ein spektakulärer Anfang, aber das gerade Beschriebene ist das Bett, in dem der erotische Werdegang von Paula anfing.

Radunsky hört zu

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