Читать книгу Radunsky hört zu - Bärbel Nolden - Страница 6

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III


1

Natürlich habe ich Ihnen von Tony erzählt, da bin ich mir ganz sicher. Ich erinnere mich sogar noch an Ihren Kommentar zu der Geschichte.

Er war Technischer Zeichner gewesen, inzwischen auf der Fachoberschule für Gestaltung, wollte nach dem Fach-Abi Architektur studieren. Und ich dann auch. Und dann würden wir zusammen ein Architekturbüro aufmachen in einem verrückten Haus, das wir zusammen entwerfen und bauen wollten. Von seiner ursprünglichen Einfamilienhaus-Idee konnte ich ihn schnell abbringen. Es musste ein großes Stadthaus sein als Gegenbeispiel zum Einerlei der Stadtwüsten, wo Phantasie und konstruktives Sozialverhalten verdorren. Mir schwebte eine Künstler-Kommune vor, eine Art Kolonie als Vorbild für weitere Zellen, die die Stadt durchwuchern und ihre Bewohnbarkeit wiederherstellen sollten. Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ wurde unser Pamphlet.

Tony nahm es offenbar nicht sonderlich ernst, dass für mich die Musik ein genauso großes Anliegen war, wie der Städtebau. Dass ich mich ausführlich mit dem Singen beschäftigen wollte und unbedingt auch noch mit Philosophie und Politik. Dass ich mich also nicht fulltime in die Architektur zu stürzen gedachte.

Dafür nahm ich es nicht so wichtig, als Tony vom Heiraten sprach und von zwei Kindern, die er sich wünschte. Ich fühlte mich einerseits geschmeichelt. Aufgehoben auch. Tony wollte mich wirklich. Auf der anderen Seite hatte ich Angst, festgebunden zu werden. Darum ließ ich mich gar nicht erst auf das Thema ein. Vor allem nicht auf den Plan mit den Kindern. Über freies Aufwachsen und antiautoritäre Erziehung diskutierte ich zwar mit. Aber bitte schön rein theoretisch. Unsere Ideen, das wären unsere Kinder. Das würde Tony sicher auch bald so sehen. Denn unsere Projekte waren doch von sehr viel weitreichenderer Bedeutung, als der schnöde Wunsch, sich zu vermehren. Wir hatten doch große Visionen. Utopien. Und wenn das alles in der piefigen BRD nicht möglich wäre, dann würden wir sie eben in den Niederlanden realisieren.

Tony hat dann übrigens später nicht Architektur studiert, genauso wenig wie ich, während meine damalige Freundin Charlotte und sein damaliger Freund Henk diese Dinge durchzogen, also ein gemeinsames Studium in Aachen sowie ein Architekturbüro nebst Familie in Maastricht.

Wie das alles anfing ?

Okay, wenn Sie auf Geschichten so scharf sind, dann erzähle ich Ihnen, wie das war mit Tony und Henk, Charlotte und mir. Es hat aber wieder nicht vordringlich mit Erotik zu tun.

2

Wie gesagt, ich hatte einen Ferienjob. Ich war in der Möbeltischlerei der städtischen Bühnen untergekommen, das hatte ich über den „Jugendclub kritisches Theater“ in die Wege leiten können. Charlie hatte eine Scheiß-Zeit hinter sich. Anfang Mai hatte sie sich das Bein gebrochen und war für sechs Wochen im Krankenhaus. Ich hatte sie über den Lernstoff in der Schule und die Hausaufgaben sowie natürlich über das, was sonst so anstand, auf dem Laufenden gehalten. In den Ferien dann musste sie mit ihren Eltern nach Österreich in den Urlaub fahren. Als sie zurück kam, war auch mein Job so gut wie zu Ende. Für die restlichen zehn Tage bis zum Schulanfang hatten wir uns eine Erholung verdient.

Wir entschlossen uns also, nach Holland zu trampen. Zuerst über Maastricht, Breda und Rotterdam für ein paar Tage ans Meer und dann unbedingt nach Amsterdam. Zu Hause erzählten wir was von einem Jugendcamp; unsere Eltern hätten uns niemals alleine fahren lassen. Schon gar nicht per Autostop. Wir haben ihnen sogar ein Prospekt vom „Jugendfahrtendienst“ vorgelegt und sie die Anmeldung unterschreiben lassen. Hatten noch bis zu unserer Abfahrt Schiss, dass die ganze Sache auffliegen würde, aber offenbar schöpfte keiner Verdacht.

Statt zum Busbahnhof fuhren wir also in aller Herrgottsfrühe zur passenden Autobahnauffahrt, und keine halbe Stunde und wir hatten unseren ersten Lift bis kurz hinter Aachen. Wir ließen uns auf einer Raststätte absetzen, und da las uns ein klappriger Käfer aus Köln auf mit zwei Jungs drin. Genau, Tony und Henk. Sie wollten zwar erstmal nur bis Maastricht, Henks Oma besuchen, später aber weiter nach Katwijk an Zee, wo sie in einem Ferienhäuschen seiner Familie Urlaub machen wollten. Ein, zwei Stunden Aufenthalt in Maastricht wollte ich zwar in Kauf nehmen, wenn wir dann in einem Rutsch bis ans Meer fahren könnten. Von der Idee, mit den beiden im Häuschen zu campieren, war ich allerdings nicht so angetan. Wir hatten natürlich unsere Schlafsäcke dabei und vorgehabt, einfach draußen in den Dünen zu schlafen. Charlie aber war so begeistert von dem Angebot, dass ich nicht nein sagen konnte. Zumal mir sofort klar war, dass sie am allermeisten von Henk begeistert war. Und umgekehrt. Auch das war nicht zu übersehen. Um nur ja keine falschen Erwartungen aufkommen zu lassen, erzählte ich auf der Fahrt ausführlich von Hajo, und auch Tony führte seine Freundin ins Feld. Da würden also keine Missverständnisse aufkommen. Und mit Charlie verständigte ich mich zwischendurch, dass wir’s einfach versuchen sollten. Wenn’s blöd würde, könnten wir uns eben immer noch absetzen.

Das Häuschen war winzig. Ein Wohnzimmer mit Küchenzeile, ein Schlafzimmer, ein Kämmerchen mit einem schmalen Bett und ein Duschbad, eine veranda davor und ein Stückchen Wiese.

Die Jungs wollten uns das Schlafzimmer überlassen, aber das akzeptierten wir nicht. Lieber legten wir uns die Auflagen der Gartenliegen als zweite Matratze neben das Bett im Kabüffchen.

Das Meer! Ich liebte es auf den ersten Blick. Konnte nicht schnell genug aus den Kleidern kommen, um mich reinzustürzen. Das Wetter war zwar nicht so toll, es war kühl und windig, aber egal. Zuerst die Brandung, die mich immer wieder umwarf. Ich hatte mal gehört, man müsse unter den Wellen durchtauchen, wenn man rausschwimmen will. Tony war neben mir, machte es vor. Er schwamm aber nicht mit bis zur Boje. Dafür war ihm das Wasser zu kalt. Ich hatte mich total mit der Entfernung verschätzt, musste mich auf dem Rückweg ein paar Mal auf den Rücken legen und ausruhen. Als ich endlich zurück am Ufer war, war ich ziemlich platt. Charlie hatte die Jungs, die sich Sorgen gemacht hatten, beruhigt: Ich sei eine gute und leidenschaftliche Schwimmerin.

Wir hatten eine schöne Zeit. Wir wanderten kilometerweit am Meer entlang, streiften durch den Ort, aßen Backfisch, schlabberten Vanille-Pudding aus der Flasche, grillten Fisch auf der Terrasse, Henk und Charlie turtelten, Tony und ich diskutierten über ich weiß nicht mehr was alles, auf jeden Fall gingen uns die Themen nicht aus. Und zwischendurch immer wieder hinein ins Meer, wenn auch nicht noch mal so ausgiebig, wie beim ersten Mal.

Auf Kiffen standen die beiden übrigens nicht. Ich hatte ein Klümpchen Shit mitgenommen und baute am ersten Abend einen Joint. Charlie zog nur einmal mit, die Jungs rümpften die Nase. Sie machten lieber ne Flasche Genever auf. Für mich war Alkohol was für Spießer, da wollte wiederum ich nichts mit zu tun haben. Zum Glück betranken sie sich nicht. Wir ließen dann das Thema außen vor. Um sich darüber zu zanken, war es zu unwichtig, fand ich. Die beiden LSD-Trips, die ich dabeihatte, brachte ich natürlich auch nicht mehr ins Spiel. Als einzige einen einzuwerfen, das hätte ich doof gefunden. Und bis Amsterdam habe ich nicht mehr dran gedacht. Da hab ich sie verkauft, weil ich wusste, dass die Gefahr, an der Grenze gefilzt zu werden, groß war. Und weil ich Geld brauchte.

3

Wenn wir im Häuschen waren, hörten wir „Radio Veronica“. Das war ein Piratensender, der von einem Schiff jenseits der Drei-Meilen-Zone gleich vor Katwijk Rockmusik sendete. Bisschen Werbung dazwischen – damit finanzierten sie sich –, aber das nahm man doch gerne in Kauf, wenn’s ansonsten non-stop Cream, Hendrix, Zappa, Deep Purple u.s.w. gab. Ich wäre scharf drauf gewesen, den Laden näher kennenzulernen, fragte auch überall rum, bei allen möglichen Leuten, vom Fischer bis zum Kellner, ob es irgendwie machbar wäre, da mal rauszufahren, aber keine Chance.

Auf „Radio Veronica“ waren wir am Fischstand gekommen. Der Mann dort war mindestens 30 und spielte unsere Musik! Erst dachten wir, er hätte einen Plattenspieler, aber dann zeigte er uns sein Kofferradio und erzählte uns von der Sendestation auf dem Meer.

Es war frappierend: der Sender lief an Orten, wo wir es überhaupt nicht erwartet hätten. Sogar ältere Leute hörten „Veronica“. Fischer, die ihre Netze flickten, der Strandkorbverleiher, einige Händler auf dem Markt. Und nur die Touristen rümpften die Nase.

Es waren auch nur die Touristen, die uns abschätzige Blicke zuwarfen. Uns „Gammler“ oder „Hippies“ nannten, als Pack oder Gesocks beschimpften, langhaarige Affen und Schlampen. Die Holländer waren ganz und gar anders. Eben auch die alten. Alle waren total nett zu uns, und nicht nur, weil Henk Niederländisch sprach.

Nur einmal war es anders, im Obstladen. Ich wollte Weintrauben und Bananen kaufen. Grüßte auf Holländisch – das hatte ich mir von Henk beibringen las-sen. Das weitere auf Englisch. Die Verkäuferin antwor-tete auf Deutsch. Eine alte Frau hinter mir schimpfte plötzlich los. Ich verstand sie nicht, hörte aber das Wort „Nazi“ raus. „Ich doch nicht. Ganz bestimmt nicht, ganz bestimmt nicht!“ Ich wollte mich für uns Deutsche entschuldigen, um Verzeihung bitten, aber die Obstfrau gab mir durch ein kleines Kopfschütteln zu verstehen, besser nichts mehr zu sagen. Sie reichte mir meine Tüte, nahm die alte Frau in den Arm und redete leise auf sie ein. Lächelte mir aber noch zu zum Abschied. Ich schlich aus dem Laden.

4

Bis auf diese kleine Szene waren es super-schön in Katwijk. Aber Amsterdam rief! Das war doch unser Ziel gewesen. Also nahm ich Charlie am vierten Tag beiseite. „Hey, lass uns morgen weiterfahren.“ Aber sie wollte lieber bleiben. Das Häuschen wäre doch eh nur bis Samstag frei. Dann wollten die Jungs sowieso nach Amsterdam und von da am Sonntag zurück nach Köln. Da könnten wir uns doch anschließen.

Von Samstag-Nachmittag bis Sonntag, das war mir zu wenig. Ich wollte doch auf den Spuren der „Provos“ wandeln, womöglich welche kennenlernen. Also fragte ich, ob es ihr was ausmache, wenn ich schon vorfahren würde. Sie machte zwar erst ein säuerliches Gesicht, aber als ich besorgt tat – wenn sie Angst hätte, mit den beiden alleine zu bleiben, würde ich natürlich verzichten –, gab sie mir erwartungsgemäß grünes Licht.

Tony fand’s sehr sehr schade, dass ich schon fahren wollte, aber am Samstag würden wir uns ja wiedersehen. Und dann hoffentlich in Köln nicht aus den Augen verlieren. Ganz bestimmt nicht. Obwohl ich da ein bisschen Angst vor hatte, denn ich war inzwischen durchaus in ihn verliebt. Aber ich hatte ja Hajo, dachte ich da noch, und Tony hatte seine Freundin.

Oh, war ich froh, dass es keinen Mond und keine Sonnenuntergänge am Meer gab, sondern all die Tage bewölkt war …

Außerden war ich ein bisschen stinkig auf Charlie. Bevor wir losfuhren, war auch sie noch angetan gewesen von dem, was ich über die Happenings der „Provos“ erzählt hatte, und fand es oh so schade, dass sie bei meinen Versuchen, Aktionen dieser Art nach Köln zu tragen, nicht dabeisein konnte. Und über die „Kabouter“-Bewegung wollte sie alles hören, was ich wusste. Aber dann, als Henk die Leutchen als Spinner bezeichnete, die ohne Struktur, Sinn und Ziel nichts außer Chaos zu schaffen imstande seien, da hat sie kein Wort zur Verteidigung vorgebracht.

Liebe macht stumm? Oder was?

5

Ich war begeistert von den „Provos“. Und Henks Sprüche konnten mich nicht davon abhalten, von ihren Ideen und Aktionen zu schwärmen.

Die Blütezeit der Bewegung war allerdings schon seit 67 vorbei. „Die Provos“ zu sagen, war eigentlich falsch. Der Name war mehr ein Etikett für eine Reihe von Happenings unterschiedlicher Leute und Grüppchen. Was sie gemeinsam hatten war natürlich die Provokation. Insofern der Aufruf zur individuellen Selbstbefreiung in Verknüpfung mit dem Kampf um soziale Befreiung das „Establishment“ provoziert. Aber auch die Propagandisten einer sozialistischen Umwälzung fühlten sich provoziert: Diese Leute lehnten jedes Kader-Gehabe ab. Statt autoritärer Führung der „Massen“ hatten sie die Verführung zu selbständigem Denken und Handeln auf ihre Fahnen geschrieben. Anarchie! riefen die Befürworter der „Diktatur des Proletariats“. Nee, nicht Anarchie. Anarchismus. Als herrschaftsfreie Form des Zusammenlebens freier und mündiger Bürger. Schon mal was von Selbstverwirklichung gehört? Dann lest doch euren Marx! Die Aufhebung der Entfremdung ermöglicht die Selbstverwirklichung. Ob man in kapitalistischen oder kommunistisch geprägten Zusammenhängen entfremdete Arbeit verrichtet, kommt ja wohl aufs gleiche raus. Aber die Automatisierung, die die Menschen immer mehr von entfremdeter Arbeit befreit, das ist die Chance, die genutzt werden muss. Klar müssen die Produktionsmittel kollektiviert werden. Wenn die Erzeugung von Produkten dann nicht mehr aus Profitgründen geschieht, wird keiner mehr künstliche Bedürfnisse nach Konsum von sinnlosen Gütern schaffen. So schrumpft die Zeit, die dafür nötig ist, das Lebensnotwendige zu erzeugen, auf ein Minimum. Arbeit um zu überleben kann ersetzt werden durch das Leben selbst. Durch Selbstverwirklichung eben. Statt staatstragendem Arbeitsethos: Lust auf kreative Arbeit. Das war doch das auf den Punkt gebracht das, was mich schon im zarten Realschülerinnen-Alter umgetrieben hatte!

Die Provos sahen es als Aufgabe der schöpferischen Menschen an, gegen die überkomme Moral und die verkrusteten Institutionen der profitorientierten Gesellschaft zu rebellieren. Und dabei setzten sie auf die subversive Kraft der Ironie, des Lächerlich-Machens und der Irritation. Die gewalttätigen Reaktionen von Polizei und Behörden auf die gewaltlosen Aktionen sensibilisierten tatsächlich die Öffentlichkeit und führten zu Solidaritätsbekundungen der Bevölkerung. Als der Provozismus zu einem Pop-Phänomen und zur Touristenattraktion zu verkommen drohte, erklärten die Aktivisten seine Auflösung.

Ex-Provos gründeten dann die „Kabouter“-Bewegung, riefen den „Oranje Vrijstaat“ aus, eine sich selbst steuernde Rätedemokratie, mit Schattenregierung und allem Drum und Dran. Sie propagierten „Weiße Pläne“ – von der Verbannung der Autos aus den Innenstädten, der Einrichtung antiautoritärer Kinderkrippen bis zur Umschulung von Polizisten zu Sozialarbeitern. Gerade hatten sie an den Kommunalwahlen teilgenommen und über fünf Prozent der Stimmen geholt; in Amsterdam sogar elf Prozent!

Soviel zum Thema Spinner ohne Sinn und Ziel.

6

Polly hatte von den Provos durch Arnie, einen holländischen Tänzer aus der Companie der städtischen Bühnen gehört. Für einen Ballett-Abend brauchte das Tanz-Ensemble eine Gruppe junger Leute, die in einem der Stücke in Hippie-Klamotten wild tanzen sollten. Man fragte beim Jugendclub an, und Polly meldete sich natürlich. Es gab zwar erst Stress mit den Eltern, weil sie eigentlich unter der Woche um Zehn zu Hause sein musste, was an den Aufführungs-Abenden nicht zu schaffen war, aber nach einigem Hin und Her und einem Schrieb vom Theater bekam sie die Erlaubnis.

In den Probenpausen kam sie mit dem Tänzer ins Gespräch. Vor Köln hatte er ein Engagement in Am-sterdam, und dort hatte er an einigen Provo-Aktionen teilgenommen. Arnie war sogar mal von den Hennen – so nannte man dort die Bullen – verprügelt worden. Zu Hause hatte er noch ein paar alte Provo-Zeitungen, und er lud Polly zum Kaffee ein und übersetzte ihr das eine oder andere. Sein Partner Manuel hatte sogar noch ein deutsches Blättchen: „Peng – Zeitung für Provos und Linkssexuelle“.

Polly wollte unbedingt auch so was machen. Zuerst mal ein Pamphlet für die Schülerzeitung: „Provokarier aller Schulen vereinigt euch !“. Das druckten sogar ein paar andere Schülerzeitungen nach. Der Artikel ging erstaunlicherweise durch die Lehrer-Zensur. Vielleicht weil er argumentierte, das Proletariat gäbe es längst nicht mehr, das sei ein nostalgisches Konstrukt blinder Ideologen. Und die verbliebene Arbeiterbewegung sei vor lauter Wohlfahrtsstaat nicht für Rebellion und Protest zu gewinnen. Nun ja, und der Aufruf an die subkulturelle Jugend, etwas zu bewegen, schien den Lehrern nicht unbedingt gefährlich und revolutionär zu sein.

Bis zum Sommer hatte sie zwei Aktionen auf die Beine gestellt.

Einmal den „Weißen Scheinheiligenplan“ zur Schiffsprozession an Fronleichnam. Auf ihr Flugblatt hin kamen zwar einige auf die Brücke, dem Ort des Geschehens, aber es gab nur sechs eigentliche Aktivisten: Polly im weißen Nachthemd und mit holländischer Haube, Arnie und Manuel in weißen Tutus. Zwei Studenten der Kölner Werkschule, der eine, Bru-no, im Donald-Duck-Kostüm, die blaue Jacke weiß übersprüht, der andere mit Hochzeits-Schleier. Günter, den Sohn des Schul-Pedells, in ein Bettlaken gehüllt. Und einen alten Mann, Pollys Kunstlehrer, im weißen Maleroverall, allerdings mit diversen Farben bekleckert. (So steinalt, wie er Polly damals vorkam, war er eigentlich gar nicht. Er schied erst Ende der 70er aus dem Schuldienst aus, war also zu dem Zeitpunkt wohl noch keine 60.) Sie hatten Pisspötte voll Wasser dabei, segneten die Prozessions-Boote mit Klobürsten und bewarfen sie mit Popcorn. Ein älteres Ehepaar beschimpfte sie zwar, aber sonst nahm keiner Notiz von ihnen. Die Bullen kamen auch nicht vorbei.

Auch der „Weiße Flottenplan“ brachte nicht viel mehr Aufmerksamkeit. Günter, der eine Setzerlehre machte, hatte in seiner Firma heimlich Aufkleber gedruckt, mit denen er und Polly die Werbe-Plakate der Ausflugsdampfer bestückten: „Große Sonderaktion am 6.6.: Kommen Sie ganz in Weiß und fahren Sie umsonst mit der Weißen Flotte! gez. das Kölner Provokariat“. Einige Leute, die dieses Angebot wahrnehmen wollten, maulten zwar, als sie trotz blütenweißer Kleidung bezahlen sollten, aber keiner las die am Kai ausgelegten Flugblätter. Die sammelten zwei Polizisten ein. Und der Zeitungsartikel unter der Überschrift „Grober Unfug“ zwei Tage später ignorierte die Thesen der Provokarier völlig. Eigentlich hatte ja auch noch ein Kollege von Arnie, ein Schwarzer, kommen wollen. Dass ja wohl auch er nicht hätte umsonst fahren dürfen, sollte Anlass für einen Disput über Rassendiskriminierung sein, in den sich das Grüppchen – getarnt als zufällig vorbeikommende Passanten – lauthals einmischen wollten. Er kam aber dann doch nicht. Im Nachhinein dachten sie, man hätte sich doch besser dort hingestellt und die Flugblätter verteilt. Und wäre vielleicht von den Bullen verhaftet worden.

Als Drittes wollten sie noch eine Plakat-Aktion machen, den „Grauen Sanierungsplan“. Im Theater hatte Arnie einen Stapel übriggebliebener Plakate für ein Stück der vor-vorletzten Spielzeit entdeckt. Hintergrund war das Foto einer Sichtbeton-Fläche, oben und unten war je eine Textzeile mit dem Stücktitel und den Terminen aufgedruckt. Die wollten sie abschneiden, und mit den Betonplakaten die Fassade eines der alten Häuschen in der Altstadt zukleistern. Sie hatten dann aber Angst, dass man die Herkunft der Plakate würde zurückverfolgen können, und Arnie womöglich aus der Companie rausfliegt.

7

Radunsky konnte ein Schmunzeln über diese „Schülerstreiche“ nicht verbergen.

„Das hätte ich mir gerne angesehen.“

„Mitgemacht aber eher nicht?“

„Ehrlich gesagt, wohl kaum. Ich war nie besonders mutig.“

„Wir hatten damals nicht das Gefühl, besonders mutig sein zu müssen, um unsere Aktionen durchzuführen.“

„Gibt es denn noch Fotos davon?“

„Nee. Konservieren und Bewahren für die Ewigkeit, das war mein Ding nicht.

Rudolf, so hieß mein Kunstlehrer auf dem Gymnasium – damals siezte ich ihn allerdings noch und nannte ihn beim Nachnamen –, versuchte mich zu überzeugen, die Aktionen zu dokumentieren. Wozu? Zum Beispiel für eine Mappe, um mich damit auf der Kunstakademie zu bewerben. Happening, Performance, Fluxus – das sei ein wichtiges Gebiet der Gegenwartskunst. (Er hatte auch vorher schon immer mal wieder das Thema Kunststudium angeschnitten, versuchte vorsichtig, mich in diese Richtung zu bugsieren.) Er akzeptierte aber dann, dass ich das nicht wollte.

Allerdings habe ich mal einige Scans von ein paar alten Artikeln und Flugblättern von damals bekommen. Vor mehr als zehn Jahren war’s, da hat mich ein Herr nach einem Auftritt angesprochen und mir eine CD in die Hand gedrückt. Er wäre immer schon ein Fan von mir gewesen und hätte vieles von mir gesammelt. Wenn ich mehr haben wolle, könne ich ihn gerne anrufen. Seine Nummer stände auf der Hülle.“

„Kannten Sie ihn von früher?“

„Auf jeden Fall habe ich ihn nicht wiedererkannt. Er war dann auch schon weg, als ich aus der Garderobe kam. Im Nachhinein dachte ich, es hätte Günter gewesen sein können.“

„Zu ihm hatten sie nach der Schule keinen Kontakt mehr?“

„Der brach schon früher ab. Er hatte im Herbst sei-ne Lehre durch und musste dann zum Bund, also zur Bundeswehr. Ich warf ihm vor, nicht verweigert zu haben. Er hat wohl später noch mal bei meinen Eltern angerufen, aber das war nach meinem Abi, da war ich längst ausgezogen.“

„Wenn er all die Jahre das Material aufbewahrt hat, war ihm wohl sehr an Ihnen gelegen.“

„Er war damals fest davon überzeugt, dass ich mal berühmt werde. Hatte er jedenfalls immer wieder gesagt. Vielleicht dachte er, dass dann das Zeugs was wert sein könnte. Und vor zehn Jahren spätestens war ihm klar geworden, dass da nun wohl kaum noch was draus werden würde.“

„Haben Sie ihn denn nicht angerufen?“

„Nein. Die Vorstellung, mich mit ihm in einem Café zu treffen und über die Vergangenheit zu labern, hat mich ganz und gar nicht gereizt. Die CD hab ich mir dann erst sehr viel später angeschaut. Da schrieb ich gerade eine meiner Erzählungen und dachte, ich könnte vielleicht was davon verwenden. Es kam aber nix dabei raus. Und später dann ist das Ding bei einem Wasserschaden in meinem Keller kaputtgegangen.“

„Aber ein Treffen mit einem Zeitzeugen von damals wäre doch spannend gewesen.“

„Ach, wissen sie, gerade mal ein halbes Jahr zuvor hatte ich das ja erlebt: Tony und ich waren uns über den Weg gelaufen. Das war auch nur ein Aufrühren längst vergangener Zeiten.“

„War das so schlimm?“

„Nee. Aber noch so einen Zirkus aus ‚Weißt-du-noch’-Anekdoten? Na klar weiß ich noch. Die ganze Menagerie lagert doch in meinen Gedächtnis-Schubladen. Aber ich würde nicht unter dem Motto: ‚Ach, was war das schön?’ darin schwelgen wollen. Was war, war. Punkt. Und übrigens war es meistens längst nicht so glorreich, wie die Nostalgie es gerne zeichnen würde.“

„Also ich höre gerne davon und finde es schade, dass Sie Ihre Erinnerungen so niedermachen.“

„Da haben Sie mich missverstanden. Ich will die Vergangenheit nur nicht überhöht wissen.“

„Mir aber doch hoffentlich weiterhin davon erzählen.“

„Jetzt gucken sie doch nicht so, Herr Radunsky, ja klar. Ich leide ja nicht unter den alten Geschichten. Sonst würde ich bestimmt nicht jede Woche eine Stunde lang die Schublädchen für Sie aufziehen. Sie können gerne meine Erinnerungen haben. Alle anderen 167 Stunden in der Woche bleiben ja reserviert für’s Hier und Jetzt. Und für die Projekte von Morgen. Über die Pläne von gestern, die Konjunktive der Vergangenheit – ‚was wäre geworden, wenn …’ – habe ich mir auch schon damals ein paar Tage drauf keinen Kopf mehr gemacht. Und heute schon mal gar nicht. Solche Spekulationen machen mir höchstens als literarischer Entwurf Spaß. Obwohl ich dafür meine Anekdötchen von Anno dunnemals gar nicht bräuchte. Die können Sie haben, wenn Sie was damit anfangen können.“

„Danke.“

Radunsky hört zu

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