Читать книгу Radunsky hört zu - Bärbel Nolden - Страница 5

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II


1

Ich lernte Hajo in der Straßenbahn kennen. An einem Donnerstag Mittag. Ich kam aus der Schule, musste am Neumarkt umsteigen. Keiner mehr aus meiner Klasse dabei, die letzten fünf Stationen. Ich warf mich auf die letzte Bank, kramte ein Buch heraus, um die Fahrtzeit für ein paar Hausaufgaben zu nutzen. Mein Stift fiel hin und rollte unter den Sitzen nach vorn, ihm vor die Füße. Er hob ihn auf und sah sich um. Nur ich saß da noch. Er grinste mich an und brachte mir den Stift. „Danke.“ Nix sonst. Ich vertiefte mich in mein Buch. Er setzte sich seitwärts auf die Bank vor mir. Als ich raus musste, sagte er „Tschüss“.

Die Woche drauf, wieder Donnerstag, wieder er. Ich hatte Vokabeln zu lernen. Er guckte mich an. Ich spürte seinen Blick. Schaute auf. Sah ihn an. Er guckte nicht weg. Ich schielte. Er lachte. „Tschüss.“ Nix sonst.

Den darauffolgenden Donnerstag hatte es mich in den ersten Wagen der Bahn verschlagen. Als ich mich hinsetzen wollte, fiel er mir ein. Er saß hinten, im zweiten Wagen. Ich konnte ihn sehen, und er mich auch. Er winkte. Ich krakelte ein paar Sätze in mein Heft. Stieg aus. Er auch.

„Hallo.“

„Wohnst du hier?“

„Nee, ne Station weiter. Wollte auf nen Kaffee zum Tschibo. Kommste mit? Ich lad dich ein.“

„Okay.“

Im Tschibo holte er ne Makkaroni aus der Tasche.

„Willste auch?“

„Wozu?“

Er steckte die Nudel in seinen Kaffee und schlürfte ihn wie durch einen Strohhalm. Ich musste lachen.

„Na gut. Gib her.“

„Das Beste kommt noch.“

Vom heißen Kaffee waren die Makkaronis unten weich geworden und wir kauten sie ab.

„Ich heiße übrigens Hajo.“

„Polly.“

„Schöner Name.“

„Na ja.“

Dann: Wie alt bist du? Was machst du so? Das übliche.

Und natürlich die Frage, auf die ich schon gewartet hatte:

„Stehst du auf Beatles oder Stones?“

„Zappa.“

Kannte er. Immerhin.

Er hatte donnerstags Berufsschule und machte eine Lehre als Elektriker.

„Und?“

„Ist in Ordnung. Energie, verstehst du? Licht und so. Aber auch für die Musik. Ist ja alles Elektrik. Und ich geh in die Musik, wenn ich fertig bin.“

„Spielst du was?“

„Ja, hab mit Bass angefangen. Komm aber im Moment nicht zum üben.“

„Haste ne Band?“

„Such noch.“

Der Kaffee war alle.

„Okay dann. Danke für den Kaffee.“

„Was machste denn jetzt?“

„Hab noch zu tun.“

„Am Samstag spielen zwei Bands im ‚Beatkeller’ am Eigelstein. Haste Lust?“

„Weiß noch nicht. Mal sehen.“

2

War ein bisschen schwierig für mich, dieser Samstag. Da hatte ich nämlich meinen ersten größeren öffentlichen Auftritt. Das hatte ich Hajo natürlich nicht sagen wollen, er sollte nicht wegen so was auf mich abfahren. Oder mich womöglich für nen Angeber halten. Und es war auch nicht wirklich „meine“ Musik.

Zwei Jungs aus dem Schulchor, die auch Gitarre spielten, hatten mich gefragt, ob ich mit ihnen Musik machen wollte. Ich hatte damals schon eine für Mädchen tiefe Singstimme, sang im Tenor und stand immer neben Uwe. Der andere, Frank, kam wohl auf die Idee. Ich hörte mir an, was sie bislang zusammen einstudiert hatten und sang ihnen ne dritte Stimme dazu. Sie suchten weitere Lieder aus, mehr so aus der Folk- und Protestsong-Ecke – die Stücke mussten ja mit akustischen 12-seitigen Gitarren funktionieren –, und schon nach vier Proben machte Uwe den Gig für zwei Monate später auf dem Sommerfest seiner Jugendgruppe klar.

Die Stimmung zwischen uns war allerdings drei Wochen vor dem Auftritt den Bach runter gegangen. Das tat mir sehr leid, zumal ich dran Schuld war.

Uwe hatte zwei Songs selbst geschrieben, Liebeslieder, sehr bluesig und melancholisch, und der Hundeblick, mit dem er mich ansah, wenn ich sie sang, nährte meinen Verdacht, dass er sich in mich verliebt hatte. Als Gegenmaßnahme flirtete ich heftig mit Frank. Bei dem sah ich keine Gefahr, denn der hatte eine Freundin. Mit Frank zu knutschen hätte ich mir jedoch wirklich sparen sollen. Frank aber bitte schön auch, denn der wusste, wie sich später rausstellte, von Uwes Verliebtheit.

Wir alle taten so, als wäre nix gewesen, aber Uwe war stinksauer, mäkelte in den weiteren Proben stän-dig an Frank rum und spulte selbst völlig lustlos seine Parts ab. Ich sah schwarz für unseren Auftritt und schlug vor, alles abzublasen. Auf diese meine Ansage hin bekam Uwe einen Schreck, das wollte er nun doch nicht. Er riss sich zusammen, kriegte die Kurve, und das Ganze wurde wieder vorzeigbar.

Unser Auftritt fing um 19 Uhr an. Während der ersten beiden Stücke bin ich fast gestorben vor Angst. Den Applaus konnte ich kaum glauben. Aber dann wurde es immer besser, ich wurde immer freier und bewegte mich bald beim Singen wie auf den Proben. Nach einer guten halben Stunde war das Set zu Ende. Das Publikum war durchaus begeistert und verlangte eine Zugabe nach der anderen. Zwei hatten wir vorbereitet, dann mussten wir Stücke aus dem Programm wiederholen. Als wir schließlich durch waren, lagen wir uns in den Armen und kabbelten ein bisschen rum, um runterzuspielen, dass wir richtig stolz auf uns waren.

Uwe badete in der Begeisterung seiner Freunde aus der Jugendgruppe, Frank war mit seiner Freundin befasst und ich verschwand ohne mich zu verabschieden in Richtung Beatkeller.

3

„Okay, Herr Radunsky, genug geschwätzt. Jetzt schauen wir doch mal, was Ihnen zum ersten Mal Ihrer Paula eingefallen ist.“

Radunsky hat Paula auch auf die Bühne gestellt, aber bei ihm singt sie in einer richtigen Rockband. Und die erinnert doch stark an „Rhubarb“, die Gruppe, in der Polly zwei Jahre später gesungen hat.

Radunskys Paula ist heute Anfang 30. Eine 16-Jährige hätte sich vor 15 Jahren ganz sicher nicht mit Rockmusik abgegeben! Das war doch was für Fusselbärte und andere Vorgestrige. Techno hätte sie da gemacht, Hip-hop vielleicht oder maximal Britpop.

Und kaum zu glauben, dass ein erotisch völlig unerfahrener Teenie für gleich drei Bandmitglieder die Femme fatale gibt, bis sie sich nach langem Komm-her-geh-weg einen von ihnen ausguckt, der zur Entjungferung anzutreten hat.

Und schon gar nicht, dass sich eine Ich-Erzählerin von Anfang 30 im Rückblick derart damit brüstet.

Auch die Geschichte mit der Verhütung ist völlig aus der Zeit gefallen. Große Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Anti-Baby-Pille haben Mädels nun wirklich seit bestimmt 30 Jahren nicht mehr. Dafür denkt bei Radunsky kein Mensch an Aids. Kein Kondom weit und breit. Es lebe das Risiko? Bei Radunskys Paula? Die hat sich doch auch – genau wie Polly lange Jahre zuvor – ausführlich theoretisch mit diesem ganzen Themenkomplex beschäftigt. Um möglichst wenig dem Zufall zu überlassen. Um möglichst gleich am Anfang ein optimales Ergebnis zu erzielen. Weil es doch heißt, das erste Mal sei prägend für die weitere erotische „Karriere“. (Ein Statement, das, seit in den 80er Jahren das Zeitalter von Aids angebrochen ist, noch mal einen ganz anderen Beigeschmack bekommen hat.)

Dabei beschreibt Radunsky seine Protagonistin als eine Person, der daran gelegen ist, stets alle Fäden in der Hand zu halten. Die es nicht haben kann, wenn etwas nicht nach ihrer Nase geht. Was dann auch – aus unerfindlichen Gründen – so gut wie nie passiert.

„Hallo?! Herr Radunsky, was haben Sie denn da ge-bastelt? Die schimmernde Oberfläche einer 16-Jährigen, umgeben von blassen Puppen, die nach ihrer Pfeife tanzen.

Denken Sie doch mal zurück an sich selbst in diesem Alter. Beziehungsweise an die Mädchen rundum. Glauben Sie, dass es da so jemanden hätte geben können? Na klar, da kam die ,Girlie’-Welle auf. Aber war das Girlie-Image nicht vielleicht eher ein für durchschnittliche Mädchen unerreichbares Ideal? Was ich in den 80ern und 90ern von den Töchtern von Freunden mitbekommen habe, das sieht mir doch nach genauso viel Unsicherheit aus, nach genauso viel Versuchen, diese zu überspielen, nach genauso vielen Diskrepanzen zwischen dem sich tastend entwickelnden Selbstbild und der angestreben Außenwirkung, wie zu meiner Zeit. Auch und gerade wenn es in Ihrem Text vorrangig um Paulas erotisches Alphabet geht, sollten Sie ein bisschen tiefer schneiden.“

In Radunskys Text ist im übrigen die Wahl des Kandidaten durchaus beliebig. Warum Andy, der Schlagzeuger? Dazu fällt Radunsky nix ein. Wenn der Name des Ersten unbedingt mit A anfangen muss, hätte er genauso gut einen anderen Andreas, Alex oder Axel nennen können, weil Paula genauso gut irgendeinen anderen hätte aussuchen können. Egal welchen. Als Antwort auf das Warum bietet Radunsky höchstens ein „Warum nicht?“. Alle Jungs aus der Band werden als von Mädchen umschwärmt dargestellt. Eine besondere Trophäe wäre der Drummer also auch nicht für sie. Ein papiernes Strichmännchen mit schulterlangen Locken halt, der sie will, weil all die von Radunsky entworfenen Strichmännchen sie wollen. Und das am Ende stolz darauf ist, das Rennen gemacht zu haben. Also von Andy aus betrachtet schlüssig. Selbst wo Paula nicht gerade sexy, sondern eher dürr ist, so wie Polly damals. In den 90ern wohl nicht gerade der Traumtyp, oder? Ende der 60er, ja, da war das mal kurzzeitig anders, da kam aus England ein hohlwangiges, x-beiniges, flachbrüstiges Model, „Twiggy“, und da war das auf einmal schwer in Mode. Was es schmaleren Mädels ermöglichte, den ausgestopften BH wegzuwerfen, ohne sich der mangelnden Oberweite zu schämen. Wenngleich sich keine wirklich sicher sein konnte, ob den Jungs nicht doch was fehlen würde, so lange noch keiner das Gegenteil bewiesen hatte.

Keine Ahnung, welches Körpergefühl Radunskys Paula mit sich herumtrug im Angesicht all der Push-up-BHs und Silikon-Implantate, von denen in dieser Zeit überall die Rede war. Und noch weniger Ahnung, mit welchen Emotionen Paulas erotische Initiations-Geschichte koloriert war. Auf jeden Fall scheint sie nicht in Radunskys Andy verliebt gewesen zu sein, zumindest nicht mehr, als etwa in einen der beiden Gitarristen.

„Und wie das mit dem puren Begehren im Vorfeld jeglicher sexueller Erfahrung ist, das weiß ich nicht mehr. Da kann ich mich nicht mehr dran erinnern. Danach müsste man vielleicht mal einen Psychologen fragen (Hihi!)“.

4

Gut, bei Polly und der Band ging es auch nicht um Verliebtheiten. Dafür kannte man sich mittlerweile zu gut. Man hatte musikalische Beziehungen, Arbeitsverhältnisse eben, und manchmal kam halt so was wie Lust auf, Einklang und Reibung, eher entzündet durch die Musik und die Atmosphäre der Songs, als durch eine persönliche Attraktion. Ein kleines Begehren, das gestillt werden wollte. Vor dem Hintergrund des doch recht intimen Arbeitsumfeldes. Aber es ist schon was anderes, ob einer von denen der Erste ist oder parallel durcheinandergewürfelt die Nummer 6, 7 oder 8, wie die Jungs von „Rhubarb“. Wo jeder mit seiner je eigenen Art in jeweils unterschiedlichen Stimmungen für den jeweiligen Moment zum Objekt der Begierde taugte. Und das passte deshalb so gut, weil keiner der Drei in sie verliebt war, schon gar nicht ganz und gar, mit Haut und Haar. Wo aber dennoch jeder auf Polly stand. Und zwar auf eine jeweils andere Seite von ihr: auf die romatische, die handfeste oder die wilde Seite.

Uwe und Frank – genau, die beiden, mit denen sie seinerzeit als Allererstes musikalisch zu tun hatte: der verträumte Typ und der Kumpel. Der eine war gefragt, wenn Mondschein-Stimmung angesagt war, der andere, wenn man sich vom Organisieren oder der Lösung pragmatischer Probleme erholen wollte. Frank hatte eine feste Freundin, eine andere allerdings als die von vor zwei Jahren. Und Uwe hatte ein heimliches Verhältnis zu einer ehemaligen Lehrerin.

Axel war solo. (So hieß das damals, „Single“ sagte man noch nicht.) Er war überschäumend und ausgelassen wie ein junger Hund und nur zu bändigen, wenn man ihn hinter sein Schlagzeug setzte. Er nahm nichts und niemanden ernst, am allerwenigsten sich selber. Für jede verrückte Idee und für jedes Experiment zu haben, war er zuständig für das Besondere.

Rainer hatte mit Sex nichts am Hut. Der Bassist war der Ernst in Person. Jeder ahnte, dass er schwul war, er selbst wollte das aber noch nicht so recht wahrhaben. Und Polly hatte den Verdacht, dass er im Stillen über die erotischen Bande der Band die Nase rümpfte. Rainer studierte Soziologie und Geschichte, und er sorgte für den intellektuellen Imbiss zwischendurch. Damit war er in dem ganzen Gefüge ein durchaus wichtiger Faktor.

(Radunsky nölt. Nicht wegen der Abschweifung, sondern weil er sich solche Geschichten früher von Paula gewünscht hätte.

Für die Therapie seinerzeit? Oder für sein Buch?)

5

Man darf sich das Ganze übrigens nicht so ausschweifend vorstellen, wie es vielleicht klingen mag. Die Legendenbildung über die Zeit der späten 60er- und frühen 70er-Jahre führt da auf eine falsche Fährte. In unserem konkreten Fall, bei unseren konkreten Personen, war es eher so, dass sich bei der einen oder anderen Probe, bei dem einen oder anderen Auftritt ein Hungergefühl meldete. Ich glaube, das habe ich eben schon mal angedeutet. Ja, und wenn dann die Arbeit getan war, schaute man, ob man auf die Gerichte, die vor Ort angeboten werden, Appetit hatte. Oder ob man doch irgendwo anders essen gehen sollte.

Polly war der Ansicht, dass das ganze Drumherum nicht nur verlogen war, sondern auch Zeitverschwendung. Wenn ich will, dann will ich, und dann ist es Blödsinn, den Anlauf dazu verdruckst auf mäandern-de Umwege auszudehnen. Ob der andere auch will, kriege ich dann am besten mit, wenn ich schlicht nachfrage. Wenn ich über Politik oder Musik oder Psychologie mit jemandem reden will, fange ich doch auch nicht umständlich mit dem Wetter oder sonst was an, sondern mache das direkt. Und war Vögeln nicht auch nur eine Form der Kommunikation? Wenn ich Lust auf Körperlichkeit habe, fällt mir zu Politik oder Kunst oder sonst einem intellektuellen Thema sowieso nichts Sinnvolles ein.

So sah Polly das, aber nicht mit knapp 16, vor dem ersten Mal, sondern mit 18, 19, zwei bis drei Jahre und ein paar Erfahrungen später. Und nicht in den 90ern, sondern mehr als 20 Jahre früher. Klar, das Thema Sex und Erotik war da schon aus dem Kokon der Verschämtheit geschlüpft. Wörter wie „vögeln“ oder „bumsen“ konnte man da ganz normal im Gespräch unterbringen, ohne dass das Gegenüber zusammenzuckte. Na gut, in bestimmten Kreisen nur, die im Laufe der weiteren Jahre immer mehr zusammenschrumpften. Bis 20 Jahre später zwar Nacktheit allgegenwärtig war, aber keiner mehr offen sagen mochte, an was er oder sie Spaß hat. Abgesehen vom Perversitäten-Zirkus vielleicht, der in diversen Schlüsselloch-Sendungen im Fernsehen ausgebreitet wurde. Über den alle die Nase rümpften, der aber nichtsdestotrotz fette Quoten brachte. Und der die Angst schürte, dass man ein erotischer Versager sei, wenn man „nor-male“ Praktiken goutiert. Was das mit „Neulingen“ gemacht hat, kann man nur ahnen.


6

Paula hat ja Recht! Ich hätte den Hintergund der Geschichte aus dem Jahrzehnt ihrer Jugendzeit in die 90er übersetzen müssen. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger von ihren Erlebnissen ist 25 Jahre später noch möglich.

Verhütung, okay. Auch zu meiner Zeit war tatsächlich keine 16-jährige mehr darauf angewiesen, gefälschte Rezepte für die Pille bei gnädigen Arzthelferinnen zu kaufen. Und Kondome hingen in jeder Größe und Form offen in den Drogeriemärkten. Ob-wohl, ich muss gestehen, dass ich mich um so was nie gekümmert habe. Das schien mir Sache der Mädchen zu sein. Im Nachhinein ist mir das sehr peinlich. Um Aids machten wir uns tatsächlich nicht viel Gedanken. Auch wenn wir es besser wussten, schrieben wir diese Krankheit eher den Schwulen, Junkies und Nutten zu. Für uns Newcomer galt Aids nicht als Gefahr.

Auch die Suche nach einem Ort war in meiner Generation nicht wirklich ein Thema. Ich gebe zu, dass kein Mensch im tiefsten Winter auf Schrebergarten-Lauben angewiesen war. Unsere Jugendzimmer taugten perfekt als bequeme Liebesnester. Kein Elternteil platzte je herein, wenn man Besuch hatte. Schon gar nicht, wenn es ein Mädchen war. Und Geräusche wurden durch Musik überdeckt. Das war in fast allen Familien so. Wenn doch mal jemand mit seinen Eltern Schwierigkeiten haben sollte, konnte man bei Freunden unterkommen, weil immer irgendwer sturmfreie Bude hatte und sich großmütig ins Kino verzog, um nicht zu stören.

Wie es ging und was man tun musste, damit auch das Mädchen Spaß hat, wussten wir schon lange. Theoretisch jedenfalls. Trotzdem war da die Unsicher-heit: Ist er groß genug? Halte ich lange genug durch? Und aufseiten der Mädchen: Ist mein Busen zu klein? Findet er womöglich meinen Hintern zu dick?

Und was ist „guter Sex“? Wenn beide zum Orgasmus kommen? Einmal oder mehrmals? Muss man sich etwas einfallen lassen bei den Stellungen? Ein paar Mal wechseln? Schreien oder Stöhnen?

Auf jeden Fall musste man so tun, als habe man es schon reichlich oft gemacht. Und beten, dass die Partnerin nicht merkt, wenn es nicht so war. Und erst recht beten, dass ihre Behauptung, erfahren zu sein, nicht gelogen war. Anfangs hatten wir alle Angst, der Erste zu sein und etwas falsch zu machen, was dann nicht mehr gutzumachen wäre. Weil für uns selbst diese Initiation riesengroß und hyper-gewichtig am Horizont dräute. Wie man sich ein solches Fehlverhalten und was sich daraus ergeben könnte vorzustellen hatte, wussten wir allerdings nicht. Wie uns überhaupt die Sexualität der Frauen ein Rätsel war. Es kam uns alles so kompliziert vor, so unübersichtlich. Viel zu viele Fallen, in die man tappen könnte.

Manchmal glaube ich, diese Angst verflüchtigt sich im Grunde nie. Dass sie immer wieder hochkommt, wenn man einer unbekannten, attraktiven Frau begegnet. Vielleicht sind die einen deshalb treu, während die anderen den Reiz in der Überwindung dieser Angst sehen. Nicht vielleicht. Bestimmt ist das so. Ich als Psychotherapeut müsste das doch wissen.

7

„Warum schreiben Sie denn nicht so was in Ihr Buch rein?“

„Weil ich aus der Sicht der Frau geschrieben habe.“

„Und weiblicherseits sehen Sie keine Ängste?“

„Sind da welche? Konkret jetzt bei Ihnen. Damals oder auch später?“

„Wenn’s emotional um nix geht, nicht. Sonst schon. Da waren und sind welche.“

„Welche Ängste?“

„Die Angst, dass es erotisch nicht passt. Zu fürchten, beim anderen kein Begehren entzünden zu können. Oder nur ein kurzes Strohfeuerchen.“

„Und wie sind Sie damit umgegangen?“

„Durchaus schüchtern. Immer wenn ich verliebt war, habe ich mich zurückgehalten, auf Signale gelauert. Sucht er mich? Meine Nähe? Und wenn ja, was ist das für ein Interesse? An was von mir? An guten Gesprächen? Seinen Themen oder auch meinen? Da kam dann viel Drumherum ins Spiel. Aber dann war eben nicht allein die Erotik das Ziel. Schon gar nicht bloß Sex.“

„Wie bei Ihrem erstem Mal mit Hajo?“

„Hm. Ich weiß nicht so recht. Das ist zum einen schon so ur-lange her. Und zum anderen kannte ich mich ja überhaupt nicht aus. Nicht mit den Jungs und auch nicht mit mir selber und meiner Erotik.

Hajo fand ich süß. ,Süß’ war das Attribut für jemanden, der einem weiche Knie bescherte, wenn man an ihn dachte oder gar auf ein Treffen zusteuerte. Es war alles ziemlich schwärmerisch.

Natürlich spielte es eine große Rolle, dass er so toll aussah. Braune Rehaugen hatte er mit langen Wimpern, und die Haare schwarze, seidige Fransen. Runde Schultern, schmale Hüften und einen Katzengang. Ganz aufregend war, dass er richtige Bartstoppeln hat-te. Die anderen Jungs in meinem Umfeld versuchten, sich einen Bart stehen zu lassen, nur wuchs da meis-tens kaum was. Wenn Hajo sich morgens rasierte, hatte er am Abend schon wieder dunkle Schatten auf den Wangen. Das piekste zwar etwas, sah aber nunmal ganz und gar grandios aus. Fast schon erwachsen.

Ich selber kam mir fast ein bisschen mickrig vor neben ihm, so blond und farblos. Aber er sah ja, dass die Leutchen viel von mir hielten, dass meine Meinung gefragt war, dass ich eben auch wer war. Das glich dann, dachte ich, einiges aus. Und er meinte sogar, viele Jungs würden mich richtiggehend bewundern, aber das fand ich eher übertrieben.

Anfangs ließ er sich von mir überall mit hinschleppen. Es war mir wichtig, dass er in meine Welt eintauchte. Nicht nur um zu zeigen: ‚Seht her, was ich für einen tollen Freund habe.’ Ich wollte, dass wir möglichst viel gemeinsam haben. Aus den Gesprächen und Diskussionen hielt er sich eher raus. Er war eben ein Stiller, dachte ich. Dass ihn das alles interessierte, davon ging ich einfach aus. Ich glaube, ich kannte ihn gar nicht und wollte ihn auch nicht wirklich kennenlernen. Aber ich wollte mit ihm ins Bett. Und zwar schnell. Das war es, was ich mir von ihm zeigen lassen wollte.“

„Und das lief ja auch sehr gut.“

„Nee, eigentlich nicht. Von den ersten paar Malen war ich eher enttäuscht.“

„Aha?“

„Wir hatten wochenlang geknutscht, gefummelt – ‚Petting’ hieß das in unserer ‚Zeitschrift für das Leben zu Zweit’. Das war schön, das war aufregend. Es bescherte uns Orgasmen – was dann beim Vögeln zu-nächst nicht klappte. Erst beim 4. oder 5. Versuch. Das hat mich doch sehr erleichtert. Ich hatte schon befürchtet, mit mir stimme was nicht.“

„?“

„Nee, kommen Sie, da werde ich jetzt nicht ins De-tail gehen. Wie’s funktioniert, wissen Sie doch, das können Sie ja bei sich selbst nachlesen. Und so spannend ist das Ganze ja auch nicht. Erst das Begehren macht was aus diesen im Grunde banalen Handlungsabläufen. Verwandelt Sex in Erotik.

Die ganze Beschäftigung mit den ‚erogenen Zonen’, in die zu dieser Zeit so viel hineingeheimnist wurde, was wie zu stimulieren sei, die 1000 guten Ratschläge, die uns im Kopf herumspukten, verhinderten gerade, uns einfach vom Verlangen leiten zu lassen.

Interessanterweise lief’s genau dann richtig gut, als mal keine Zeit für den ganzen Kram war, als wir einfach mal in ner Pause zwischen irgendwas übereinander herfielen, ohne uns um all die Rezepte zu kümmern.“

„Sie waren dann aber nicht mehr lange zusammen.“

„Nein. Er kam immer seltener mit zu all den Veranstaltungen, die mir so wichtig waren. Wir trafen uns bald nur noch Dienstagabend bei ihm, wenn seine Eltern Kegeln waren. Im Sommer trampte er nach England und schrieb mir noch zwei Briefe: einen Liebesbrief und einen Abschiedsbrief.“

„Und Sie?“

„Ich hatte in der Zeit einen Ferienjob, kaufte mir ein gutes Mikrophon, weil ich im Herbst mit Uwe und Frank die neue Band starten wollte. Und, noch bevor Hajos zweiter Brief kam, lernte ich auf einem Trip nach Holland die spätere Nummer 2 kennen.“

Radunsky hört zu

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