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Vorwort

Kann man »Kinder- und Hausmärchen« ins Lateinische übersetzen? Und was hat man davon? Gab es bei Griechen und Römern schon Märchen? Das griechische Wort apologus, das schon von Plautus (ca. 250–184 v. Chr.) ins Lateinische übernommen wurde, ist vieldeutig. Es kann einfach »Erzählung« bedeuten, besonders die äsopische Fabel, aber auch das, was wir unter Märchen verstehen: »Fuit olim senex; ei filiae duae erant … Es war einmal ein alter Mann, der hatte zwei Töchter …« So beginnt eine Erzählung innerhalb einer Komödie des Plautus (Stichus 538ff.). Auch das rein lateinische Wort fabula ist recht vieldeutig. Darunter kann man Mythos, Sage, Fabel, Legende, Anekdote und andere Erzählungen verstehen. Sicher ist aber, dass es auch Märchen in unserem Sinne gab, die zwar erwähnt, aber kaum schriftlich überliefert wurden. Das ist ja eine der großen Leistungen der Brüder Grimm, dass sie die mündlich überlieferten Märchen ihrer Zeit gesammelt und schriftlich festgehalten haben.

Eines der wenigen überlieferten Märchen aus der Antike ist das von »Amor und Psyche«, das Apuleius (2. Jh. n. Chr.) in seinen großen Roman »Der goldene Esel« eingeflochten hat (Metamorphosen 4,28–6,24). Das Märchen wird dort von einer alten Frau erzählt, die das unglückliche Mädchen »durch hübsche Erzählungen und Altweibermärchen« (narrationibus lepidis anilibusque fabulis) von seinem Kummer ablenken will: »Erant in quadam civitate rex et regina. Hi tres numero filias forma conspicuas habuere … Es waren in einer großen Stadt ein König und eine Königin. Diese hatten drei Töchter von auffallend schöner Gestalt. …« (4,27,5). Dass dies erfundene, unwirkliche Geschichten sind, ist klar. So mahnt schon der Apostel Paulus seinen Mitarbeiter Timotheus, er solle sich an die »gesunde Lehre« halten und »alberne Altweibermärchen vermeiden« (vgl. 1. Brief an Timotheus 1,10 und 4,7: ineptas et aniles fabulas devita).

In der antiken Literatur ist hier und da – und keineswegs abwertend – von »Ammenmärchen« die Rede. Quintilian, der große Rhetoriklehrer (ca. 35–100 n. Chr.), empfiehlt, die Kinder sollten, bevor ihre eigentliche Ausbildung zum Redner beginnt, lernen, kleine äsopische Fabeln, die den Märchen der Ammen am nächsten stehen (Aesopi fabellas, quae fabulis nutricularum proxime succedunt), nachzuerzählen, zu kürzen oder auszuschmücken (Institutio oratoria 1,9,2).

Cicero (106–43 v. Chr.) erwähnt die märchenhafte Erzählung von Gyges, der einen Ring fand, mit dem er sich unsichtbar machen konnte und dadurch zum König wurde, als eine schon von Platon erzählte Geschichte (De officiis 3,38). Cicero bezeichnet Herodot als Vater der Geschichtsschreibung, bei dem man unzählige Geschichten finde (De legibus 1,5: apud Herodotum patrem historiae … sunt innumerabiles fabulae); aber, wie er an anderer Stelle schreibt, Glaubwürdigkeit könne eine fabula nicht unbedingt beanspruchen (Cato de senectute 9: parum enim esset auctoritatis in fabula). Plinius der Jüngere (62 – ca. 114 n. Chr.) erzählt in seinen Briefen eine schöne Gespenstergeschichte (Epistulae 7,27). Dass sich märchen- und sagenhafte Geschichten in lateinischen Versen erzählen lassen, zeigen Ovids Metamorphosen in großer Fülle. Im Mittelalter werden die Gesta Romanorum (13. Jh.) und die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (ca. 1228–1298) in lateinischer Prosa niedergeschrieben; sie enthalten zahlreiche Märchenmotive. Johann Peter Hebel (1760–1826) hat als Gymnasiallehrer einzelne seiner »Kalendergeschichten« in sein lateinisches »Stilbuch« aufgenommen. So ist z.B. die Erzählung vom Kannitverstan, zwar kein Märchen, aber eine sehr volkstümliche Kalendergeschichte, auch in Hebels eigener lateinischen Version überliefert.

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass sich Goethe über die lateinische Übersetzung seines Epos »Hermann und Dorothea« besonders gefreut hat. In einem Brief an den Staatsrat Christoph F. L. Schultz schreibt er am 8. Juli 1823: »Man brachte mir die lateinische Übersetzung von Hermann und Dorothea, es ward mir ganz sonderbar dabey; ich hatte dieses Lieblingsgedicht viele Jahre nicht gesehen, und nun erblickte ich es wie im Spiegel […]. Hier sah ich nun mein Sinnen und Dichten, in einer viel gebildeteren Sprache, identisch und verändert, wobey mir vorzüglich auffiel, daß die römische nach dem Begriff strebt und, was oft im Deutschen sich unschuldig verschleyert, zu einer Art von Sentenz wird, die, wenn sie sich auch vom Gefühl entfernt, dem Geiste doch wohlthut.« Im Gespräch mit Eckermann sagt er am 18. Januar 1825: »Hermann und Dorothea … ist fast das einzige meiner größeren Gedichte, das mir noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen Antheil lesen. Besonders lieb ist es mir in lateinischer Übersetzung; es kommt mir da vornehmer vor, als wäre es, der Form nach, zu seinem Ursprunge zurückgekehrt.« Die lateinische Fassung (1822) stammte von Benjamin Gottlob Fischer, der seinerzeit Professor am Seminar zu Schönthal war. Goethes Hochschätzung für die Übertragung seines Lieblingsgedichts ins Lateinische gibt m. E. nicht nur den Philologen des 19. Jahrhunderts das Recht, ihre Lateinkompetenz an zeitgenössischen Werken zu erproben, sondern auch den Freunden der Latinitas viva des 21. Jahrhunderts die Erlaubnis, dies an volkstümlicher Literatur zu versuchen.

Übrigens hat Sigrid Albert, seit 2008 Herausgeberin der lateinsprachigen Zeitschrift Vox Latina, bereits 1988 eine Reihe Grimmscher Märchen ins Lateinische übersetzt. Auch der Altphilologe Rainer Nickel hat vor Kurzem zweimal je sieben Märchen der Brüder Grimm ins Lateinische übertragen und zweisprachig herausgegeben. Hier bietet sich also dem Liebhaber der lateinischen Sprache die Möglichkeit zum Vergleich der Übersetzungen an. Der renommierte Klassische Philologe Michael von Albrecht hat 1991 sogar selbst ein lateinisches Märchen gedichtet und zweisprachig veröffentlicht.

Im 19. und 20. Jahrhundert sind viele deutsche Lieder und Gedichte, besonders Balladen ins Lateinische übersetzt worden. Mögen das nun lateinische1 Stilübungen oder kreative sprachliche Leistungen sein; sie geben doch stets Anlass, den deutschen Urtext, seinen Inhalt, seine sprachliche Form, vor allem auch die darin zum Ausdruck kommende Stimmung mit dem lateinischen Text zu vergleichen und dabei das Besondere des deutschen Textes umso deutlicher zu empfinden. Der Kenner der lateinischen Sprache kann sich dann im Vergleich sein eigenes Urteil über die lateinische Fassung bilden. Außer Romanen und Novellen ist auch eine ganze Reihe von Kinderbüchern ins Lateinische übersetzt worden. Nur exemplarisch erwähnt seien hier »Der Struwwelpeter“, »Max und Moritz«, »Pinocchios Abenteuer«, »Die Häschenschule«, »Pu der Bär« und »Der kleine Prinz«.

Und damit wären wir beim Übersetzer der hier ausgewählten Märchen, Franz Schlosser, der die Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry ebenfalls ins Lateinische übertragen hat. Schlosser ist in der Szene der Latinitas viva kein Unbekannter. Im Gegensatz zu anderen Übersetzern ist er jedoch kein professioneller Klassischer Philologe, sondern eher ein Liebhaber der lateinischen Sprache. Geboren 1946, hat er nach dem Abitur in Speyer Anglistik und Romanistik in Heidelberg studiert und an Gymnasien in Bad Kreuznach, in Idar-Oberstein und Schifferstadt die Fächer Englisch, Französisch, Italienisch und gelegentlich auch Latein unterrichtet. Hier suchte er den Lateinunterricht durch abwechslungsreiche Methoden und Inhalte aufzulockern und zu bereichern, und hat eine Menge beliebter »Lieder und Songs« ins Lateinische übersetzt, deren lateinische Version übrigens bis nach Amerika gedrungen ist. Auch Grimmsche Märchen hat er für den Lateinunterricht aufbereitet, allerdings – der höheren Altersstufe entsprechend – in Märchenparodien verwandelt. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von zehn gereimten und annotierten, mit Illustrationen aufgelockerten lateinischen Parodien zu bekannten Märchen (wie Hänsel und Gretel, Schneewittchen u.a.) mit situativen Grammatikübungen. Im hier vorliegenden Buch aber handelt es sich um die von Franz Schlosser ausgewählten »12 schönsten Märchen der Brüder Grimm«, die im deutschen Originaltext mit lateinischer Übersetzung geboten werden. Ob das Latein den Geist und die Stimmung der deutschen Märchen wiedergibt und ob das Latein des Übersetzers dem Latein der alten Römer entspricht, muss der kundige Leser, die kundige Leserin selbst beurteilen. In jedem Fall wird die Lektüre unterhaltsam, anregend und in vielfacher Hinsicht lehrreich sein.

Andreas Fritsch

Erwähnte Literatur und ergänzende Hinweise

Märchen der Antike. Hrsg. und übers. von Erich Ackermann. Frankfurt am Main 1981.

Sigrid Albert, Apologi Grimmiani. Saarbrücken 1988.

Rainer Nickel, Fabula de quodam … Sieben Märchen der Brüder Grimm. Band 1. Vöhl-Basdorf 2012. – Band II, 2015.

Michael von Albrecht, Das Märchen vom Heidelberger Affen, lateinisch-deutsch. Heidelberg 1991 (mit vielen geistreichen Anspielungen auf die antike Lebenswelt, insofern aber grundverschieden von Grimms »Kinder- und Hausmärchen«).

Kinderbücher ins Lateinische übersetzt (Auswahl): Der Struwwelpeter (1844, H. Hoffmann; mehrere Übersetzungen, u.a. von E. Bornemann, U. E. Paoli, P. Wiesmann), Max und Moritz (1865, W. Busch; lat. u.a. auch von F. Schlosser), Pinocchios Abenteuer (1881/83, C. Collodi; lat. von U. E. Paoli), Die Häschenschule (1924, A. Sixtus/F. Koch-Gotha; lat. von H. Wiegand), Pu der Bär (1926, A. A. Milne; lat. von A. Lenard), Der kleine Prinz (1946, A. de Saint-Exupéry; 1961 lat. von A. Haury: »Regulus«; 2015 von F. Schlosser: »Principulus“, s.u.).

Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Hrsg. von W. Theiss. Stuttgart 1981; die lat. Fassung von »Kannitverstan« auf S. 349).

Walther Ludwig, Venusinae Musae amatoribus. Württembergische Neulateiner zu Anfang des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 74. Jg. 2015, S. 121–148.

Franz Schlosser, Cantate Latine. Lieder und Songs auf Lateinisch. Übersetzt, illustriert und herausgegeben von F. Schlosser. Revidierte und erweiterte Ausgabe Stuttgart 2013. – In Amerika: Latine Cantemus: Cantica Popularia Latine Reddita. Mundelein, Illinois (USA).

–, Fabulae! Zehn lateinische Märchenparodien. Göttingen 2008.

–, Principulus (Der kleine Prinz). Stuttgart 2015.

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