Читать книгу Warum wir sesshaft wurden und uns seither bekriegen - Brenna Hassett - Страница 7

Einleitung
Nothing (but Flowers)

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Die Zeit, die Menschen in Städten verbracht haben, ist ein winzig kleiner Fleck in der Menschheitsgeschichte. Unsere Spezies brauchte rund 200.000 Jahre, um sesshaft zu werden. Weitere 180.000 Jahre vergingen, bis wir auf die Idee kamen, das ganze Jahr über am selben Ort zu bleiben. Schließlich experimentierten wir noch einige Jahrtausende, bis aus den uneinheitlichen frühen Siedlungen Städte wurden, wie wir sie heute kennen, und erst seit wenigen Jahren leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Wir sind jetzt offiziell ein urbaner Planet – aber warum haben wir so lange gebraucht, um dort hinzukommen? Wenn Städte so toll sind, warum stecken sie dann voller Dinge, die uns töten? Das Leben in der Stadt serviert uns einen Cocktail der gefährlichsten Dinge, die der Menschheit bekannt sind – Krankheit, Ungleichheit und natürlich andere Menschen. Es ist daher nicht unvernünftig zu fragen: Warum haben wir Städte auf diese Art erschaffen?

Es gibt jedoch noch eine bessere Frage, die man nur mit etwas Geduld und einer Menge toter Menschen in der Hinterhand stellen kann. Wenn wir uns das Leben und Sterben der Menschen in all den verschiedenen Experimentierphasen des Stadtlebens ansehen, können wir einige sehr interessante Muster bei diesen urbanen Pionieren erkennen. Muster von Krankheiten. Muster von Mangelernährung. Schrumpfende Gesichter und wachsende Einwohnerzahlen. Kaputte Wirbelsäulen, kaputte Schädel, fehlende Knochen, wo man sie gern gehabt hätte, und Knochenhaufen an unerwünschten Stellen – die sprachlosen Generationen der Vergangenheit haben noch immer eine spannende Geschichte zu erzählen. Durch die Skelette vergangener Stadtbewohner lässt sich die Frage beantworten, die dieses Buch stellt, und sie ist von Bedeutung für alle heute Lebenden: Warum haben die Städte uns auf diese Art erschaffen?

Es ist nicht schwer, aus einem Fenster im 21. Jahrhundert auf einen Himmel voller dunstigem Smog über dem Gleißen der mit fossilen Brennstoffen angetriebenen Lichter und den Partikel hustenden Fahrzeugen zu blicken und zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass Städte eine Gefahr für die menschliche Gesundheit sind. Wollen wir wirklich verkünden, dass in den kaum 2 Prozent der Zeit, die unsere Spezies mit Städten experimentiert hat, unsere Zukunft liegt, oder ist unser derzeitiges Stadtleben nur ein weiterer Boxenstopp auf der langen Wanderung der Hominini*? Waren wir damals nicht glücklicher?

Sehen Sie sie an. Da drüben. Wie sie über den Grat kommen, zuerst nur als dunkle Umrisse gegen die aufgehende Sonne, aber als sie den Dünenkamm überwinden und mit dem Abstieg beginnen, werden immer mehr Einzelheiten ihrer Körper sichtbar. Er (wir müssen immer zuerst über ihn reden, denn der Androzentrismus gehört zur paläontologischen Tradition) ist der Inbegriff menschlicher Tugenden. Schlank wie ein Windhund, mit strammen, gerundeten Waden und einem Waschbrettbauch. Seine Haare sind je nach Ihren eigenen modischen Bezugspunkten vielleicht in einem Man-Bun zurückgebunden, ein paar sonnengeküsste lose Strähnen werden gebändigt von einer Art Band aus Moschusochsenleder; vielleicht trägt er auch schmucke Dreadlocks, die sein Gesicht hübsch einrahmen. Sie wiederum ist schwieriger zu beschreiben, vor allem deshalb, weil die überall an ihrem Körper festgebundenen Kinder die Teile verdecken, die die merkwürdig winzigen und zerlumpten Tierhautfetzen frei lassen, und sie noch einen Säugling in ihren zugegeben muskulösen Armen hält. Er dagegen hat einen Speer und eine dieser Muschelketten, die Surfer so gern tragen. Das, meine Damen und Herren, ist der Trend der Zukunft in der Vergangenheit. Schlanke, fettarme Körper, Kleidung aus Naturfasern und Attachment Parenting in Reinform. Unser Modellpärchen, wie es da über die imaginären Dünen meiner werbespot- und Raquel-Welch-verdorbenen Fantasie irrt, ist der absolute Gipfel dessen, was unsere modernen Neurosen uns als das Leben von damals vorgaukeln, als wir noch „natürlich“ lebten. Die Waschbrettbäuche (seiner und ihrer, den man flüchtig sehen kann, wenn sie das mittlere Kind kurz von sich löst) sind das Ergebnis einer „Paläo-Ernährung“, die beneidenswerten Beinmuskeln verdanken sie dem Barfußlaufen und der Wurf glücklicher Kinder ist die Folge von (und ich schwöre Ihnen, das gibt es wirklich) „Paleo Parenting“.

Was für ein reizendes Bild. Wie weit entfernt von dem deprimierenden Anblick einer weiteren mittel- bis übergewichtigen Familie, die im Auto auf dem Parkplatz eines Drive-in-Schnellrestaurants streitet. Die Anhänger der Paläo-Ernährung erzählen uns, wenn die genervten und gestressten Eltern im geleasten Minivan einfach das Burgerbrötchen wegließen und sich für die „tierische Option“ entschieden, würden sein beginnender Diabetes und ihre chronischen Darmprobleme einfach verschwinden und beide hätten wohlgeformte Muskeln, strahlende Haut und glänzendes Haar. Die Verfechter des Paläo-Lifestyles, die es auch ablehnen, Schuhe zu tragen oder es dem Kleinkind zu erlauben, sein Aufmerksamkeitsdefizit an einem iPad auszulassen statt an Ihrem ausgefransten letzten Nerv, kommen mit ähnlichen Ratschlägen um die Ecke. Sie strömt aus tausend Winkeln des Internets, aus Zeitschriften, dem Fernsehen und aus Talkshows – die wenig subtile Botschaft, dass wir alle ein bisschen moderner geworden sind, als uns guttut. Zu sesshaft, zu viel Zeit im Sitzen verbringend, zu abhängig von unseren leicht verfügbaren Kohlenhydraten und den gepolsterten Laufsohlen.

Aber haben sie auch recht? Wenn wir uns umsehen und betrachten können, wie wir heute leben, und sehen, dass es uns in vielerlei Hinsicht umbringt – warum tun wir es dann? Warum leben wir in unseren großen Städten, mit unseren 1,5-Liter-Bechern Limonade und unseren dicken Bäuchen? Darauf gibt es eine kurze und eine längere Antwort. Dieses Buch, so hoffe ich, ist die längere Antwort, aber eine kurze erhalten wir, wenn wir uns einfach unser Paläo-Pärchen ansehen, wie es über die Savanne trottet. Was wissen wir wirklich über die beiden? Wir können uns vorstellen, was wir wollen, aber wie kommen wir an echte Informationen darüber, wie das Leben als Jäger und Sammler aussah? Eigentlich ist das gar nicht so schwer. Archäologie ist, wie den meisten bekannt sein dürfte, die Wissenschaft von der Nachbildung der menschlichen Vergangenheit. Bioarchäologie, von der die meisten Menschen lässlicherweise noch nie etwas gehört haben, ist die Wissenschaft von der Nachbildung des Lebens in dieser menschlichen Vergangenheit. Die Bioarchäologie nimmt die Überreste des Lebendigen wie Skelette und Zähne (aber auch Haare, Haut und sogar Fingernägel) und sagt uns auf der Grundlage der Fülle von Informationen, die in der Struktur, Zusammensetzung, Form und Größe dieser uralten Hinweise stecken, wie die Menschen (und Tiere) in der Vergangenheit lebten und starben. Menschliche Überreste können uns unglaublich detaillierte Beschreibungen des Lebens in der Vergangenheit liefern. Sehen wir uns zum Beispiel doch noch einmal unsere Paläo-Eltern an.

Werfen wir einen genaueren Blick auf den Speertypen. Wie groß ist er? Ziemlich groß eigentlich – rund 1,79 Meter. Wenn Archäologen in 15.000 Jahren seine Knochen finden, werden sie alle Extremitätenknochen – Oberschenkelknochen, Oberarmknochen und Unterschenkelknochen – sorgfältig vermessen und diese Daten in eine Formel eingeben, die seine Größe berechnet. Auch die muskelbepackten Gliedmaßen, die wir so lüstern begutachtet haben, werden dabei zum Vorschein kommen, diesmal jedoch mit der Hilfe eines Geräts. Durch eine CT-Aufnahme seiner Knochen können die Bioarchäologen seine Knochendichte rekonstruieren und daraus ableiten, ob er eher Couch Potato oder Herumtreiber war. An den Außenseiten seiner Knochen finden sich reichlich weitere Hinweise auf seine Aktivitäten. Sehen Sie sich seine Arme an, vor allem den, mit dem er den Speer festhält. Wo die am stärksten ausgeprägte Muskulatur sitzt, sieht man noch nach seinem Tod – die Stellen an den Armknochen, an denen die Muskeln zum Speerwerfen ansetzen, sind auffälliger als bei seiner geschlechterklischeebehafteten Partnerin, die ihre Kinder vermutlich nicht auf dieselbe Weise wirft oder schleudert wie einen Speer. Sehen wir uns nun einmal seine Zähne an. Uff. Tja, an diesem Punkt möchten die Paläo-Ernährungsfans sich vielleicht nach einem anderen Modell umsehen. Unser Freund hier hat auf jeden Fall Zähne, und wenn es auch nicht die 32 sind, die ein heutiger Zahnarzt erwarten würde, weil einige inzwischen ausgefallen sind, geht es ihnen gar nicht so schlecht. Natürlich sind sie nicht gerade perlweiß – genau genommen sieht man gar nicht viel von ihnen: Die großen Mahlzähne hinten sind vom Kauen fast flach geschliffen und seine Vorderzähne wurden ihm irgendwann als Jugendlicher gezogen – weil sogar Jäger und Sammler verrückten Moden folgten. Der Verschleiß an seinen Zähnen verrät uns, dass er kein junger Hüpfer mehr ist, und dafür finden wir noch weitere Belege, wenn wir uns genauer mit den knöchernen Überresten seiner Wirbel, Ellbogen und Knie beschäftigen. Der Speertyp entwickelte so langsam eine Arthrose – eine reife Leistung, wenn man bedenkt, dass die menschliche Lebenserwartung in der Altsteinzeit eher 40 als 100 Jahre betrug und dass viele seiner Zeitgenossen gestorben sind, bevor sie Zeit hatten, altersbedingte Erkrankungen zu entwickeln.

Gut, der Speertyp hat also das eine oder andere Problemchen, aber was ist mit Raquel? Ihre Knochen und Zähne erzählen eine ähnliche Geschichte über ein aktives, anstrengendes Leben, aber beeindruckend sind vor allem die drei Kinder, die sie mitschleppt. Und das ist auch kein Wunder: Moderne Jäger und Sammler bekommen ihre Kinder nämlich in relativ großen Abständen. Die Gründe dafür sind nicht unmittelbar einleuchtend, aber Raquel demonstriert Ihnen gerade einmal das Grundprinzip, indem sie versucht, Säugling C zu stillen, während sie Kleinkind B vor ihre Brust gebunden trägt und Kind A nach ihrer Hand greift und gelegentlich versucht, an ihren Beinen hochzuklettern, als wäre sie eine Art Ent. Sie schiebt die Schlinge, die Kleinkind B hält, auf eine Seite und versucht, Säugling C fester an sich zu drücken, aber gleichzeitig landet Kind A mit Wucht auf ihrem linken Bein und beginnt, die Körperhälfte zu erklimmen, auf der sich bereits das zappelnde Kleinkind B befindet. Einen kurzen, glorreichen Augenblick lang werden ihre straffen, angespannten Muskeln sichtbar, als könnten sie diese letzte Belastung auch noch auffangen, ihre Waden stemmen sich hervortretend gegen das Gewicht und die Arme versuchen, Säugling C an ihre Brust zu drücken. Aber ach, dann bricht das ganze Nachwuchsgebäude zusammen und Mutter und die Kinder A bis C stürzen der komischen Wirkung wegen kopfüber in die nächste Sanddüne. Einige von Ihnen, die mit mehr Zartgefühl gesegnet sind als die Illustratoren der meisten „Paläo“-Bücher, fragen sich jetzt vielleicht, warum der Speertyp nicht, na ja, den Speer weglegen und das Baby mal ein Stück tragen konnte oder so … Aber das würde natürlich das Bild verzerren.

Worauf ich hier so umständlich hinauswill: Woran wir denken, wenn wir uns die menschliche Vergangenheit vorstellen, ist zum Teil ein Mythos, der uns mehr darüber verrät, was unserer Meinung nach mit unserem Leben heute schiefläuft, als darüber, was vor Tausenden und Abertausenden von Jahren geschehen ist. Die Verhaltensökologin und Evolutionsbiologin Marlene Zuk schrieb ein großartiges Exposé über „Paläo-Fantasy“ in ihrem gleichnamigen Buch, in dem es genau darum geht. Aber uns interessiert hier ja nicht nur die Demontierung einer lächerlichen promibefeuerten Diät oder eines Modetrends. Wir wollen wissen: Was passierte mit dem Speertypen und Raquel? Warum beschlossen sie, die weite Savanne aufzugeben und ihre Zeit am Flussufer zu verbringen, den endlosen Horizont gegen überschaubarere Arbeitswege einzutauschen, die mit dem sesshaften Leben einhergehen? Und was machte diese Entscheidung mit seinen Beinmuskeln und ihrem Baby-Balancier-Geschick? Denn wir können uns das Pärchen ansehen, das in einer namenlosen Stadt Fast Food in seinem Auto isst, diese Erfolgsgeschichten und Paradebeispiele der menschlichen Leistung im Streben nach dem Leben in der Stadt, das die letzten rund 15.000 Jahre der Menschheitsgeschichte prägte, und wir können uns die Legionen unserer Vorfahren ansehen, die auf dem Weg zu diesem Fast Food-Parkplatz starben, und verborgen in den Zellen und Strukturen von Knochen und Zähnen und Haaren und Haut erkennen, dass nicht nur wir Städte geschaffen haben. Die Städte haben auch uns geschaffen.

Dieses Buch betrachtet die Anpassung der Menschen im Angesicht des menschlichen Erfindungsgeistes. Es versucht außerdem, einige der Faktoren aufzudröseln, die unserem urbanen Leben zugrunde liegen, und herauszufinden, welche davon uns vielleicht umbringen und welche gar nicht so übel sind. Einiges, was wir über Städte in der heutigen Welt wissen, lässt sich bis auf ihre Ursprünge zurückverfolgen, etwa die Rolle, die die Ungleichheit in der Entscheidung spielt, wer in einem Slum stirbt und wer die modernste medizinische Versorgung erhält. Die Geschichte der Menschen in den Städten ist, wenn man so will, eine Art Mikro-Evolutionsgeschichte, und wir können sie lesen, wenn wir Monty Pythons Rat befolgen und die Toten rausbringen. Die Bioarchäologie gibt uns die einzigartige Gelegenheit, einen besonders eingeweihten Blick darauf zu erhaschen, was der Umzug aus der Savanne in die Stadt mit unseren Körpern und unserer Gesundheit gemacht hat, kurz bevor es vor rund 15.000 Jahren richtig losging bis hin zur Industriellen Revolution und dem Beginn unserer modernen Zeit.

* Hominini sind wir und alles, was enger mit uns als mit den Schimpansen verwandt ist. Das ist wirklich besser so, wenn man bedenkt, wie Schimpansen so sind.

Warum wir sesshaft wurden und uns seither bekriegen

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