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1.

September 2021

Da taucht er schon wieder auf meinem Bildschirm auf, wie seit Monaten jeden Morgen: der dünne kleine Kerl mit der Zahnlücke. Noch vor den Nachrichten aus aller Welt und dem Wetterbericht für Berlin. Doch was er zu verkünden hat, rückt schlechtes Wetter in den Hintergrund. Seine Botschaften sind klar und müssten vom Dümmsten verstanden werden. Das schätze ich an Johannes, diese Klarheit. So war er schon als Kind.

Ich heiße Johannes. Darf ich deine Schultasche tragen?

Und ich sehe auch, dass er immer noch gern lacht, obwohl seine Prognosen so düster sind. Die Kontakte, die er sucht, machen mir deutlich, dass er nicht in einem Meer aus Tränen versinken wird oder mit dem Gedanken spielt, sich vor einen ICE zu werfen. Warum auch? Die Nachrichten aus aller Welt, die ich mir jeden Morgen reinziehe, deprimieren auch mich und ich wundere mich: Wie armselig muss ein Mensch sein, der den Ehrgeiz entwickelt, durch Barbarei größer zu werden? Aber bislang sammle ich keine Tabletten, um sie, in Alkohol aufgelöst, mit einem letzten Prost auf die Welt mir einzuverleiben. Warum also sollte Johannes das tun? Er befindet sich immerhin in einem Metier, in dem er sich auskennt und wohlfühlt und nicht nur mit-, sondern gar vorreden kann.

Warum Johannes damals den Kontakt zu mir suchte, weiß ich nicht. Ich bekam als Kind den Mund kaum auf, weil ich sehr schüchtern war. Vielleicht hatte er die Neigung, schüchterne Mädchen aufzuheitern. Vielleicht fand er mich einfach nur hübsch. Obwohl ich nicht glaube, dass es so einfach ist im Leben: einen Menschen hübsch/gut aussehend zu finden und in der Fortsetzung der Betrachtung, in einem vorgeschritteneren Alter als in einem kindlichen, als unwiderstehlich sexy. Und dann eine alles überwältigende Lust zu empfinden, sich mit diesem Menschen zu verbinden. Das würde zum Beispiel eine Völkerwanderung von Frauen auslösen auf den Sexiest Man Alive. Es muss etwas anderes geben, etwas Wesentlicheres, die Lust auf einen Menschen zu wecken, sonst hätte Johannes mich in unserem kindlichen Alter nicht angesprochen und mir angeboten, meine Schultasche zu tragen, um mich in die Schule zu begleiten.

Jahrelang hatte ich nicht mehr an ihn gedacht. Bis er dann, während eines verlängerten Wochenendes, das ich auf meinem Sofa verbrachte, mir wieder einfiel. Er war ausgelöscht aus meiner Erinnerung an eine Kindheit, als ich sechs, sieben Jahre alt war und in die erste oder zweite Schulklasse ging. Johannes mag damals eine, vielleicht zwei Klassen über mir gewesen sein. Jedenfalls saß er nicht in meiner Klasse, denn sonst hätte er mein Leben vielleicht nachhaltiger geprägt und wäre nicht zu einer Erinnerung verblasst, die erst viele Jahre später wieder lebendig wurde. Er hätte vielleicht immer wieder von der linken Schulklassenseite, in der die Jungs saßen, zu mir in die Mädchenseite herübergeschaut und mich – ungehemmt ob seiner Zahnlücke – angestrahlt. Vielleicht hätte er aber auch mit einem Bein nervös gewippt, wie das viele Jungs taten und was ich schon als Kind nicht leiden konnte.

So aber, mit einem Altersunterschied von ein, zwei Jahren, gab es da nur den gemeinsamen Schulweg und den auch nur einmal. Allerdings sah ich ihn noch einige Male auf dem Pausenhof unserer Schule. Er spielte ausgelassen mit anderen Jungs Fußball in einer abgelegenen Ecke des Hofes. Ballspiele waren zwar nicht erlaubt, aber das Aufsichtspersonal blickte großzügig über das Verbot hinweg, wenn keine Gefährdung für andere Kinder bestand.

Dann sah ich Johannes nicht mehr. Ich weiß nicht, ob er auf das Gymnasium wechselte. Wenn es so war, dann muss er zwei Klassen über mir gewesen sein. Also auch zwei Jahre älter.

Darf ich deine Schultasche tragen?, hat er mich also gefragt und mich dabei angelacht. Er muss sich auch vorgestellt haben, denn warum sonst konnte ich mich viel später an seinen Namen noch erinnern. (Der Name irgendeiner biblischen Gestalt, musste ich nur kurz überlegen, bis er mir wieder einfiel. Und sofort fiel mir auch sein Nachname ein. Wie aneinandergekoppelt in meinem Gedächtnis – sein Vor- und sein Nachname.) Ich heiße Johannes, sagte er damals und wird mich gefragt haben, wie ich denn heiße. Vorstellbar, dass ich ihm meinen Namen leise genannt habe, den kurz und bündigen Vornamen Klara. Weitergegeben von meiner Großmutter, die auch meine Patin war und auf die Vererbung ihres Vornamens an ihr erstes Enkelkind bestand. Dankbar war ich für das Erbe nicht, es klang für mich immer nach Oma.

Vorstellbar aber auch: Ich habe ihm meinen Namen nicht verraten.

Ich weiß nicht, ob ich Johannes meine Schultasche zum Tragen überlassen habe. Warum auch? Sie war leicht. Sehr viel leichter als zum Beispiel die Taschen, die Kinder heute zu schultern haben. Sie zog mich keineswegs zu Boden. Und selbst wenn sie es getan hätte: Es war meine Schultasche, auf die ich zu achten hatte. Was ich weiß, ist: Ich habe den Weg in die Schule gehasst.

Weil er mich zur Schule führte.

Ein vieljähriges Elend, aus dem ich mich erst mit Beginn der Pubertät durch ein ziemlich clowneskes Verhalten erlösen konnte. Noch fand ich innerhalb des Klassenzimmers keine Sprache. Meine albernen Aufführungen drückten sich eher in Grimassen und schnell gebastelten Accessoires aus: eine dicke rote Schleife um meinen Hals gebunden; Eselsohren aus Papier, die ich meinen ohnehin schon großen Ohren überstülpte. Und noch immer wurde meine Mutter von Zeit zu Zeit in die Schule zitiert, um zu bestätigen, dass ich meine Hausaufgaben selbst erledigte. Vor allem meine Aufsätze: Wer schrieb sie für mich? Es war dem Lehrpersonal unverständlich, dass ein Kind, das während des Unterrichts nicht sprach, selbst auf nachdrückliche Forderungen oder auf ein flehendes Bitten hin den Mund nicht öffnete, dass ein solches Kind rechnen und schreiben konnte.

Nun aber fand ich Freundinnen in der Schule. Mädchen, die sich sogar von ihren Busenfreundinnen trennten, um mich zu begleiten. Ich war unterhaltsam geworden – lustig und frech. Und endlich sprach ich auch, wenn auch immer noch nur außerhalb des Klassenzimmers. Was ich meinen neu gewonnenen Freundinnen erzählte, strotzte nur so vor Übertreibungen und Unwahrheiten. Aber wem machte das etwas aus? Nicht unserer kleinen Mädchengruppe, die sich nach Schulschluss gemeinsam auf den Weg nach Hause machte.

Warum ich mich so viele Jahre später an Johannes erinnerte: Es war seine Selbstverständlichkeit, sich einem anderen Menschen, der ihm gefiel, zuzuwenden. Ich hätte mich das nie getraut. Und an sein freundliches Lachen habe ich mich erinnert. Und natürlich an seine Zahnlücke. Ich hatte zwei.

Vielleicht überließ ich dem Johannes aber doch meine Schultasche. Denn warum sonst hätte meine Mutter, die uns auf dem Hinweg zur Schule beobachtet haben musste, nicht so überaus belustigt meinem Vater nach meiner Rückkehr aus der Schule verkündet haben: Klara hat einen Kavalier! In dem Moment war mein Status als Dame mit einem Kavalier auch schon Vergangenheit.

Die fängt ja früh an, wird mein Vater gedacht oder gesagt haben. Kochend vor Wut. Sofortiges Einschreiten war nötig. Wie er den Kontakt unterbunden hat, weiß ich nicht, jedenfalls nicht wie ein paar Jahre später. Da war ich neun oder zehn Jahre alt und somit noch gefährdeter als im Alter von sechs, sieben Jahren.

Wir waren zu der Zeit in einen Neubau gezogen, raus aus der barackenähnlichen Unterkunft, in der wir zusammen mit den Großeltern gelebt hatten. Aus unserer neuen Wohnung, die im vierten Stock lag, hatten wir einen weiten Überblick über die Straße, in der wir nun zu Hause waren. Aus dem Küchenfenster heraus wird mein Vater mich entdeckt haben (ja, ich stand unter fast ständiger elterlicher Beobachtung), als ich in einer kleinen Gruppe aus dem Freibad kam. In der Gruppe befand sich auch ein Junge, der nach Ansicht meines Vaters nur mich meinen konnte als das Objekt seiner Begierde. Was so falsch nicht war, denn der Junge hatte mir im Schwimmbad ein paar bunte Karten angeboten: Porträts von den Größen der Leinwand und von Sängern und Sängerinnen. Fotos, auf die wir alle erpicht waren, die ich aber selbstverständlich nicht annahm. Mein Vater muss die Treppen vom vierten Stock bis hinunter auf die Straße geflogen sein – immer fünf, sechs Stufen auf einmal nehmend. Die Kraft, mir eine schallende Ohrfeige zu versetzen, hatte er allerdings noch. Vor einem erschrockenen Publikum. Ich ging nie wieder ins Freibad. Die Scham über die öffentliche Demütigung war zu groß.

Die Familie von Johannes war stadtbekannt und wahrscheinlich darüber hinaus. Sein Vater war Künstler: Maler und Bildhauer, und einige seiner Skulpturen wurden von der Stadt angekauft und im Stadtgarten und längs des kleinen Flusses aufgestellt, der unsere Stadt in eine Ober- und Unterstadt teilte. Wir wohnten in der Unterstadt wie auch mein kleiner Kavalier. Doch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft. Er muss einen Umweg gemacht haben, um mich auf dem Weg zur Schule abzufangen, denn es gab einen sehr viel kürzeren Weg von seinem Elternhaus zur Schule. Ich muss also wieder einmal beobachtet worden sein, doch anders als die elterlichen Observationen rührte mich die vom kleinen Johannes, als er mir auf meinem blauen Sofa in Kreuzberg, etwa zwanzig Jahre später, wieder einfiel.

Ich habe überlegt, ob der Kontakt zu einer frühen kindlichen Begleitung in die Schule nicht so abrupt durch meinen Vater unterbunden worden wäre, wenn die Familien von Johannes und mir unmittelbare Nachbarn gewesen wären. Nachbarn, die sich miteinander unterhielten und im Sommer im Innenhof unseres Hauses, in dem ich geboren wurde, zusammen saßen und auf ihre flapsige Art die eigentlichen Nöte wegdrängten, da die Sonne schien und der nächste Tag ein Sonntag war. Mal wieder ausschlafen dürfen. Wäre also ein Nachbarsjunge aus dem Haus, in dem wir zusammen mit unseren Großeltern lebten, weniger suspekt gewesen, weil kontrollierbarer, und der gemeinsame Gang in die Schule somit geduldet?

Aber diese Frage war müßig. Denn damals herrschte eine absolute Geschlechtertrennung in unserer katholisch geprägten Kleinstadt am Niederrhein – sieht man einmal ab von der gemischten ersten, zweiten und dritten Schulklasse, die es ab dem vierten Schuljahr auch nicht mehr gab. Es gab einfach keine gemeinsamen Wege von Jungen und Mädchen und kein gemeinsames Spiel. Und je ärmer die Familien waren, desto strenger wurde auf Trennung geachtet. Es musste also ein Fremder kommen, Sohn eines Künstlers, der sich die Freiheit zu unerlaubter Nähe nahm. Vielleicht kannte er die Regeln der sogenannten Unterschicht nicht oder sie waren ihm schnurzpiepegal.

Wann ich mich in meiner Erwachsenenwelt zum ersten Mal an Johannes erinnerte, weiß ich also noch gut. Ich hatte ein zwei Tage währendes Trinkgelage hinter mir und lag verkatert auf meinem kleinen blauen Sofa mit Blick auf sehr viel Grün und in der Ferne sah ich den Alex. Ich lebte in Kreuzberg. Um mich herum wirkliches Leben: Wohngemeinschaften zur Linken, die sich wieder einmal zu einer Fete zusammenfanden bei lauter Musik, aber nicht laut genug, um das enthusiastische Stimmengewirr in ihrem Haus zu übertönen; Kinder auf einem sehr großzügig gestalteten Freiauslauf vor unseren Häusern, die bis spät in die Nacht dort herumtoben durften; Nachbarn in meinem Haus, die sich von Fenster zu Fenster in einer Sprache unterhielten, die ich weder verstand noch verstehen wollte. Ich wollte gar keine Stimmen hören.

Ich war frustriert. Wieder einmal. Es gab durchaus eine Einladung aus dem Wohngemeinschaftshaus zur Linken: Willste nicht auch kommen? Wir machen Fete. Kurze Zeit vorher hatte mich dieser Wohngemeinschaftsgenosse angerufen, um mich zu fragen, ob ich in der Wohnung, in der ich seit einigen Wochen lebte und in der ich mein Nest gefunden hatte, wirklich weiterhin unbedingt leben wollte. Die Wohnung sei doch eigentlich viel zu groß für nur eine Person und die Mutter seiner kleinen Tochter bräuchte unbedingt ein neues Domizil in seiner Nähe, damit sie sich mit der Betreuung der Tochter abwechseln könnten.

Eines der ungeheuerlichsten Telefonanrufe meines Lebens. Wenn auch nicht das einzige dieser Art. Es folgten weitere während der Dauer meines Kreuzberger Lebens: Ich habe drei Kinder, drei! und mich gerade von meinem Partner getrennt. Kannste dir nicht `ne kleinere Bleibe suchen? (Alternativ: Können wir nicht unsere Wohnungen tauschen?)

Dabei waren es keine Sozialhilfeempfänger, die auf einen Einzug in meine Wohnung drängten. Sie hätten sich durchaus eine größere Wohnung leisten können und sie auch ziemlich schnell bekommen. Es gab noch keinen Wohnungsnotstand. Aber das Haus, in dem ich lebte, lag schön eingebettet in viel Natur und bot einen für Kreuzberg überraschend weiten, freien Blick. Was also wollte ich, die Single-Frau, mit so viel Wohnqualität? Jahre später, als die Wohnungen zum Kauf angeboten wurden, meldeten sich alle noch einmal (und ein paar andere dazu). Ob ich mir den Kauf meiner Wohnung überhaupt leisten könne? Es würde ja heißen, ich ginge wieder zur Schule, um das Abitur zu machen. Respekt übrigens für diese Veränderung, denn die Jüngste für einen Schulbesuch sei ich schließlich nicht mehr.

Wiederum einige Jahre später fiel die Mauer und der gesellschaftliche Umgangston auf der Duz-Ebene mit hastemal, kannstemal, sei mal ein bisschen solidarisch!, wurde zurückgedrängt durch Gruppen, die sich einfach nahmen, wovon sie sich einen Profit versprachen. Und sie fanden ein Klientel, das finanzkräftig genug war, aufwändig sanierte und restaurierte Wohnungen in unserem Kiez zu kaufen oder zu mieten. Und nebenbei ein bisschen Kreuzberger Lokalkolorit am Abend zu genießen, als Kompensation ihres kräftezehrenden Lebens in der Wirtschaftswelt.

Haste eigentlich einen Vogel?, hätte ich den Anrufer aus der Wohngemeinschaft fragen sollen und den Telefonhörer sofort auf seine Station knallen müssen, als der Kreuzberger Kiez, in dem ich lebte, vor dem Mauerfall noch eine Nische war für diejenigen, die sich künstlerisch ausleben wollten. Wie auch ein Teil der Wohngemeinschaftsleute im Nebenhaus. Oder einfach nur nächtelang durchmachen wollten, was für diesen Teil im Nachbarhaus nicht unbedingt galt. Oder beides wollten wie viele andere in unserem Kiez. Ich habe dem künstlerischen Genossen im Nebenhaus zwar einen negativen Bescheid gegeben, aber mit so viel überflüssigem Drumherumgerede, dass ich wie schuldbewusst geklungen haben muss. Und dann ruft mich der Typ ein paar Tage später an, um mich zu einer Fete einzuladen: Es gibt Bier und Wein, Salate und Würstchen, teilte er mit.

Wie schön. Als könnte ich mir selbst Bier und Wein, Salate und Würstchen nicht leisten. Es lag doch auf der Hand, dass er sich mit mir in eine ruhige Ecke der Wohngemeinschaft verdrücken und weichklopfen wollte, damit die Frau, die er geschwängert hatte mit dem Ergebnis dieser Schwängerung immerhin in seiner Nähe leben konnte.

Also schlug ich die Einladung in den Wind und lag in dem Bemühen, wieder nüchtern zu werden, auf meinem gemütlichen Sofa, mit einer großen Wasserflasche auf dem Beistelltisch und machte mir Gedanken: Über die Liebe und die Sehnsucht nach ihr. Denn meine Frustration hatte nicht nur mit den Anrufen des Genossen aus der Wohngemeinschaft zu tun. Auch nicht mit dem PC, den ich vor ein paar Tagen angeschafft hatte und nicht bedienen konnte. Das erste PC-Modell, dem noch viele weitere folgen würden und das eigentlich so einfach zu bedienen war wie eine ratternde Schreibmaschine in den Jahren meiner Ausbildung in einem Büro. Aber ich wollte diesen PC nicht; er stieß mich ab, weil er mir seine Persönlichkeit aufdrängte. Ich sollte ihn und sein Glotzauge bedienen, anstatt er mir diente. Doch als Buchhalterin, die ich damals war, hatte ich gefälligst zu lernen, mit diesem Ding, das die Welt verändern würde, klarzukommen. Und das tat ich am besten zu Hause ohne dass mir jemand über die Schulter guckte. Bisher war ich noch nicht weit gekommen mit der Notwendigkeit, mich von einer Schreibmaschine auf einen PC umzustellen.

Meine Frustration, die mich drei bis vier Flaschen teuren Chablis gekostet hatte und als Nebenkosten körperlicher Art mir an zwei Morgen hintereinander einen Kater eingebracht hatte, hatte natürlich ursächlich wieder mit dem Mann zu tun.

Ursächlich ist der Mann schuld, das glaubte ich damals tatsächlich. Ich empfand ihn als fremd, so ganz anders, als ich mich selbst fühlte. Dennoch suchte ich ihn.

Welcher es damals war, als ich sinnierend auf meinem kleinen blauen Sofa lag – ich erinnere ihn nicht. Sicher nicht der Makler oder der Tänzer oder der Taxifahrer. Kurze Zeit vor meiner dreitägigen Station auf dem Sofa hatte ich eine kleine Erzählung mit eben diesem Titel: Der Makler, der Tänzer oder der Taxifahrer? geschrieben.

Mein Frauenverlag hatte nachgefragt, ob ich nicht wieder einmal einen Beitrag zu einer Anthologie einreichen möchte. Thema: Verliebt sein. Also setzte ich mich an die Schreibmaschine, die neben meinen neuen PC stand, und haute eine wilde Geschichte in die Tasten, in der eine Frau sich nicht zwischen drei Männern entscheiden kann. Pausenlos machen die drei ihr Avancen und drohen gar mit Suizid, falls sie sich nicht endlich zur Liebe bekennt. Vielleicht überflüssig zu erwähnen, dass der Beitrag abgelehnt wurde. Die Verlegerin faxte: Nee, liebe Klara, so war das nicht gemeint. Gemeint war das Verliebt sein, das romantische, und nicht ein Katalog von Männern, die sich zum Affen machen.

Es stimmt zwar, dass ich auf der Suche nach einem liebevollen Mann, der nur mich meinen konnte und dies auf eine ganz und gar schüchterne Kleinjungenart mir offenbarte (wenn es die Stunde der Werbung gebot), auch einen Makler, einen Tänzer und einen Taxifahrer kennenlernte, an Sylvester, ein Abend, an dem es sich beschwipst gut kennenlernen lässt. Mit dem Tänzer hatte ich ausgelassen in einer Disco getanzt; der Makler hatte währenddessen allein am Tresen der Bar gestanden und trübsinnig in sein Bierglas geguckt, bis ich auch ihn zu einem kleinen Tanz animierte. Der Taxifahrer hatte mich in den frühen Morgenstunden nach Hause gefahren. Und weil ich eine gelungene Sylvesternacht verbracht hatte und ganz obenauf war, lud ich auch den Taxifahrer sowie vorher die beiden anderen Jungs zu einem Frühstück ein. An drei aufeinander folgenden Wochenendtagen versteht sich, denn an Werktagen hatte ich zu arbeiten. So gegen vierzehn Uhr an einem Samstag oder Sonntag in einem Lokal am Landwehrkanal schön frühstücken. Wie es eben damals eben so war mit der Frühstückszeit in Kreuzberg und heute, wenn die Pandemie oder die kalte Jahreszeit den Menschen nicht wieder einen Strich durch die Rechnung macht, wohl auch noch.

Es gab diese drei Frühstücke zu zweit – und das war es auch schon. Kein weiteres Interesse aneinander bei dem jeweiligen Frühstückspaar.

Diese drei Begegnungen fanden also im Winter statt und während ich auf meinem kleinen blauen Sofa lag und grübelte, hatten wir Sommer. Ich weiß das noch, weil viele Fenster offen standen und es um mich herum sehr laut war.

Also könnte es ein Kollege gewesen sein, in den ich mich verguckt hatte. Es gab da so eine unschöne Geschichte, in der ich überengagiert war, an diesen Mann heranzukommen. Dem ich allerdings suspekt war, weil ich als Finanzbuchhalterin seine Vorgesetzte war in der Kultureinrichtung, in der wir beide an Zahlen arbeiteten. Den Film Enthüllung mit Michael Douglas und Demi Moore kann er allerdings noch nicht gesehen haben. Der lief erst Jahre später an. Aber die Angst des Mannes vor Abhängigkeit und Erpressbarkeit durch die Frau dürfte sehr alt sein. Aus der Zeit des Gartens Eden vielleicht.

Ja, es könnte dieser Mitarbeiter gewesen sein, der mich über Wochen gegen die Wand laufen ließ. Bis ich mir irgendwann ein paar Flaschen Wein kaufte, für einen Freitag im Kulturzentrum mich krankmeldete und ein verlängertes Wochenende auf dem Sofa verbrachte.

Wann hatte es jemals in meinem Leben eine Begegnung mit einem Mann gegeben, die durch reine Liebe geprägt war, muss meine erste Frage gewesen sein, die meinen Kopf Schritt für Schritt zu der Begegnung mit Johannes führte. Damals, als wir Kinder waren. Eine Begegnung, in der kaum mehr als vierzehn Wörter gewechselt wurden. Ich heiße Johannes. Und wie heißt du? Klara. (Vielleicht ja, vielleicht nein, gab ich ihm die Antwort.) Darf ich deine Tasche tragen, Klara? Und es war ein Blick (seiner), der nur Freude darüber ausdrückte, mich begleiten zu dürfen. Während ich, schüchtern wie ich war, nach diesem Augen-Blick wahrscheinlich schnell meinen Kopf wieder abwandte.

(Reine Liebe, frage ich mich heute, ein paar Jahrzehnte nach dem dreitätigen Aufenthalt auf meinem Sofa in der Kreuzberger Wohnung. Was verstand ich eigentlich darunter? Wohl einfach nur Freude an einer Begegnung. Ich finde dich nett, Klara, gehen wir zusammen den Weg in die Schule? Eine Begegnung ganz ohne Kalkül, so wie sie später oft stattfanden. Nur war ich damals einer solchen Begegnung nicht gewachsen. Nicht frei genug dafür.)

Was hatten meine Eltern sich eigentlich dabei gedacht, grübelte ich weiter auf meinem Sofa, als der eine Teil so überaus belustigt auflachend meinem Vater, dem anderen Teil dieser ehelichen Verbindung, die zarte Romanze zwischen Johannes und mir verriet. Und der andere Teil flugs das Haus verließ, mit geballten Fäusten und im Laufschritt, in Richtung einer Künstlerwerkstatt, um seine Eigentumsrechte an mir deutlich zu machen. Denn so muss es gewesen sein, so war mein Vater, kombinierte ich. Johannes hätte sich doch sonst am nächsten Tag wieder blicken lassen. Was hatte mein Vater sich bloß dabei gedacht? Dass eine Sechs- , Siebenjährige sich mit einem etwa achtjährigen Jungen in die Büsche schlägt?

Also war doch der Mann schuld an all meinen kaputten oder erst gar nicht zustande gekommenen Liebesverhältnissen, den sogenannten. Also mein Vater war schuldig. Aber den konnte ich nicht mehr zur Rede stellen, weil er schon lange tot war. Meine Mutter, die Helfershelferin, wollte ich verschonen. Oder richtiger: Die Ausreden, die sie parat haben würde, wollte ich nicht hören. Es war damals eben so, würde sie sagen: eine andere Zeit. Gott, mach doch nicht immer aus einer Mücke einen Elefanten oder sie hätte gesagt: Das passte doch gar nicht zusammen, du und der Sohn eines Künstlers. Mach dich nicht lächerlich, du bist jetzt eine erwachsene Frau!

Was war aus Johannes geworden? Wo lebte er heute? Meine Wiederentdeckung des Johannes hatte mich neugierig gemacht. Doch meine Recherchen über seinen Verbleib blieben ergebnislos. Das Internet gab es noch nicht. Ich rief eine ehemalige Schulfreundin in meiner Heimatstadt an. Sie konnte mir nicht weiterhelfen, obwohl sie alles und jeden kannte in der Kleinstadt, in der wir groß geworden waren, und auch immer bestens informiert war über Klatsch und Tratsch.

Nee, sagte Monika am Telefon. Den Nachnamen kenne ich überhaupt nicht. Bist du dir sicher?

Ja, ich war mir absolut sicher, da meine Mutter mir damals den Familiennamen von Johannes genannt hatte. Ihr tat es wohl leid, mich an meinen Vater verraten zu haben: Klara hat einen Kavalier! Also suchte sie am nächsten Tag das Gespräch mit mir. Der Vater von Johannes ist Künstler, sagte sie. Und wie sie das Wort Künstler betonte, lag zugleich eine gewisse Achtung vor einem künstlerischen Dasein darin wie auch ihre Abgrenzung dazu. Ein Künstler ist jemand, der nicht arbeitet, aber holla, wenn er mit Basteln sein Geld verdienen kann, Respekt. So klang damals Mutti für mich.

Du kennst doch die kleinen Skulpturen, die längs des Flusses und im Stadtgarten aufgestellt sind, Monika, versuchte ich meiner Schulfreundin während unseres Telefonats auf einen Sprung in die Erinnerung zu helfen.

Skulpturen?!, fragte sie. Ich kenne keine Skulpturen an unserem Fluss oder im Stadtgarten. Monika lachte: Ich würde auch nie darauf achten und wenn sie mir ins Auge fielen, empfände ich sie wahrscheinlich als störend in der Natur. Sie lachte wieder. Was ist eigentlich los mit dir, Klara?

Ach nix, antwortete ich. War bloß eine Frage, eine Erinnerung, die mir durch den Kopf schoss, weil ich ein paar Tage allein zu Hause war. Tat mir wahrscheinlich nicht gut.

Im Telefonbuch fand ich Johannes nicht. Aber natürlich hätte ich ihm auch niemals einen Brief geschrieben oder ihn angerufen. Oder doch? Aber was wäre das für ein Dialog gewesen?

Hallo, hier ist Klara.

Ja bitte?

Ja, ich rufe an, weil du mir damals im Jahre Schnee angeboten hast, meine Schultasche zu tragen. Erinnerst du dich?

Ähm … nein … ja, doch! Klara. Die mit dem Pferdeschwanz, oder? Und warum rufst du mich nach zwei Jahrzehnten an? Um dich zu bedanken, oder brauchst du meine Unterstützung noch einmal? Er lacht.

Ich drücke ihn weg und schäme mich für diesen Anruf. Noch Jahre später hätte ich diesen Anruf bereut. Gut, dass er mangels Telefonnummer nicht stattfinden konnte.

Aber die Schultasche, die zu tragen er sich ritterlich angeboten hatte, brachte mich auf eine Idee, oder richtiger: Ein lange gehegter Wunsch meldete sich mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor. Ich würde ihn so schnell wie möglich in die Tat umsetzen. Ich würde das Abitur machen. Genau. Eine Abendschule besuchen, besser noch eine Tagesschule. Sprechen hatte ich in den Jahren meiner Berufstätigkeit auch vor einer breiteren Öffentlichkeit gelernt – und wie! Ich konnte so spitz formulieren, dass andere die Flucht vor mir ergriffen. Ich hätte viel zu tun, um das Abitur nachzuholen, viel zu lernen und Geld hatte ich genug, um damit zwei, drei Jahre über die Runden zu kommen. Vielleicht bekäme ich sogar BAföG. Ich wäre eine fleißige Schülerin (wenn auch eine im vorgeschrittenen Alter) und hätte keine Zeit mehr, mich in Sehnsüchten nach reiner Liebe zu suhlen. Eigentlich hätte ich dann so gut wie gar keine freie Zeit mehr. Aber wofür eine freie Zeit, wenn ich sie so verplemperte wie an diesem Wochenende. Obwohl: hatte ich die letzten beiden Tage wirklich verplempert, oder hatte ich nicht eigentlich ein Baby zur Welt gebracht, das sogar seinen eigenen Namen schon mitbrachte: Es hieß Zweiter Bildungsweg.

Johannes Wiedergänger

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