Читать книгу Johannes Wiedergänger - Brigitte Pyka-Behrends - Страница 7
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In Zukunft würde ich meine Mutter viermal im Jahr besuchen. Das hatte ich mir fest vorgenommen, nachdem sie nicht nur ein Bett in einem Doppelzimmer des Altenheims beziehen konnte, sondern einige Wochen später ein eigenes Zimmer. In jeder Jahreszeit einen Besuch über eine Woche jeweils, so lautete ein Versprechen, das ich mir selbst gab. Doch fünf, sechs Jahre, nachdem ich die Frau Mama der Fürsorge des Heims anvertraut hatte, brach ich mein Versprechen und nahm einen längeren Umweg zu ihr. Ich buchte eine Rheinschifffahrt von Köln nach Koblenz und lernte den Hirsch kennen. Den Herrn Doktor Hirsch, wie er sich vorstellte und dem in der Fortsetzung meiner Erzählung Platz eingeräumt werden muss. (Denn Ehre, wem Ehre gebührt, lieber Michael-Johannes. Ein größerer Geschichtenerzähler als ich bist du auf jeden Fall.) Das kleine Appartement in der Nähe des Altenheims, das ich über die Dauer der Jahre als mein drittes Zuhause betrachtete, hatte ich dieses Mal für nur drei Tage gebucht. Ich war müde geworden von den Routinen meines Lebens und brauchte ein bisschen Abwechslung. Neben meiner Wohnung in Berlin besaß ich ein Häuschen in der Uckermark und über Urlaubsziele brauchte ich mir keine Gedanken mehr zu machen. Meine Urlaubstage gingen weitgehend drauf für die Reisen an den Niederrhein und wann immer es möglich war, verbrachte ich ein verlängertes Wochenende in meinem Häuschen mit dem vierhundert Quadratmeter großen Garten, der doch auch gepflegt werden musste. Im Oktober 2017 knappste ich also ein paar Tage von der obligatorischen Besuchslänge bei meiner Mutter ab und gönnte mir einen kleinen Ausflug rheinaufwärts.
Es verhielt sich auch so, dass nicht immer meine Besuche meiner Mutter gelegen kamen. Sicher, meist freute sie sich, wenn ich kam und ich wurde allen in ihrer Abteilung aufs Neue vorgestellt als ihre Tochter, die in Berlin lebte. Darauf war sie stolz. Nicht stolz darauf, dass ich mich seit vielen Jahren allein so tapfer durchgeschlagen hatte und im vorgeschrittenen Alter noch das Abitur abgelegt und ein Studium absolviert hatte. Sondern stolz darauf, dass ihre Tochter in der Hauptstadt lebte, die sie selbst nur einziges Mal besucht hatte. Um nie mehr einen zweiten Besuch zu wagen. Sie fand alles nur schrecklich in der Großstadt, vor allem: Ihre Tochter hatte ihr ein Zimmer mit einer Gardine angeboten, in der im unteren Rand noch Nadeln steckten. (Ich hatte vor ihrem Besuch noch schnell einen provisorischen Fenstervorhang fabriziert, weil ich wusste, meine Mutter würde nie in einem Zimmer mit einem unverhüllten Fenster schlafen wollen. Nicht einmal dann, wenn ein Einblick von außen unmöglich war. Weil der Stoff zu lang war, steckte ich ihn ab und vergaß, den Saum abzunähen.)
Sie hatte einen Begleiter im Heim gefunden: einen Heimschatten. Begleiter ist vielleicht nicht das richtige Wort, da Herr Weiß kaum noch gehen konnte. Aber er war jemand, der dem Versorgungsbedürfnis meiner Mutter entgegenkam. Sie holte ihm zum Frühstück eine Tageszeitung bei einem nahe gelegenen Kiosk, und wenn Herr Weiß wieder einen schlechten Tag hatte und ein bisschen wehleidig war, saß sie neben ihm und hielt seine Hand. So traf ich die beiden auch manchmal an, den wehleidigen Herrn Weiß und meine fürsorgliche Mutter – und dann störte ich. Warum ich denn schon wieder käme, ich sei doch erst gestern da gewesen (nein, stimmte nicht, gestern war ich noch in Berlin), aber sie riss sich dann doch los von Herrn Weiß, um mich kopfschüttelnd in ihr Zimmer zu führen. Um dort fabulierend Beiträge zu einer Unterhaltung beizusteuern, die sie weitgehend allein bestritt, wenn sie mich nicht grad wieder vergaß, um in ihren Schränken zu wühlen. Dann nahm ich sie bei der Hand und ging mit ihr schön Kaffee trinken in der Cafeteria eines Pflanzencenters.
Ich habe mich mit der Krankheit meiner Mutter nie versöhnen können. Und ich fand auch nichts Lustiges daran, so wie einige Verwandte, wenn meine Frau Mama zum Beispiel die Etappen ihres Lebens so völlig durcheinanderbrachte. So behauptete sie zum Beispiel, von einem jungen Mann seit Tagen aufgelauert zu werden. Er würde hinter den Büschen stehen, direkt am Eingang zum Altenheim. Sie ginge dann immer streng an ihm vorbei. „Pöh“, machte sie, der kann mich doch ansprechen, wenn er etwas von mir will! In dem jungen Mann war unschwer mein Vater zu erkennen, im Alter von siebzehn, achtzehn Jahren, als er meine Mutter kennenlernte. Auch deshalb unschwer zu erkennen, weil meine Mutter nie zu einem anderen Mann eine Beziehung geführt hatte als zu ihm. Ihr erster Mann, ihr einziger. Das galt übrigens auch für meinen Vater, der jungmännlich in die Ehe ging und bis zu seinem Lebensende monogam lebte.
Bedauerlicherweise, wie er mir einmal nach ein paar Flaschen Bier verriet: Man hat vielleicht doch etwas versäumt.
Ich ging spazieren, wenn meine Mutter ihr Mittagsschläfchen im Altenheim hielt oder kurz nach dem Abendessen um neunzehn Uhr erschöpft auf ihr Bett fiel.
Ich hatte eine Lieblingsstelle in meiner Heimatstadt, an der ich mich schon als Kind gern aufhielt. Ein Stück weit entlang des kleinen Flusses bis dahin, wo es keinen Trampelpfad mehr gab, weil das Wasser über das Ufer floss. Wer trockenen Fußes den Rückweg antreten wollte, drehte hier um. Für mich begann erst hier der Spaß: durch das seichte Flussbett an dieser Stelle waten, um nach zwanzig, dreißig Metern wieder auf den trockenen Pfad zu gelangen. Natürlich ging ich barfuß. Das einzige elterliche Gebot, gegen das ich während meiner Kindheit verstieß, war dieses: niemals weiter als bis zu der Stelle, wo der Pfad nicht mehr erkennbar ist und niemals allein. Ertrinken konnte man an dieser Stelle selbstverständlich nicht, das Wasser umspülte gerade einmal die Füße. Aber die Phantasie meiner Eltern für mögliche Gefahren war grenzenlos. Ich hätte ausrutschen und durch den Treibsand des Ufers in die dunklen Tiefen des Flusses gezogen werden können. Es gab keinen Treibsand.
Wahrscheinlich führte mein allererster Spaziergang während meiner Besuche im Altenheim mich an das Ufer unseres Flusses, und hier tauchte auch die Erinnerung an Johannes wieder auf. Ich nehme an, sie wurde geweckt durch die kleinen Skulpturen seines Vaters, die hier und dort das Flussufer säumten. So sehr ich auch haderte mit dem Schicksal meiner Mutter (und damit mit meinem), völlig besetzt hielt es mich nicht. Ich konnte immer noch genießen. Und das etwas kitschige Szenario, das die Erinnerung hervorholen mochte, male ich mir so aus:
Die Sonne schien, ich ging summend am Flussufer entlang, entdeckte die Skulpturen – teilweise versteckt hinter herabhängenden Zweigen in dem Waldstreifen neben dem Fluss. Johannes, ach ja, mein Johannes. Zwischen der ersten und einzigen Begegnung, damals auf dem Schulweg, und meiner Erinnerung an ihn, als ich mit einem Kater auf meinem blauen Sofa lag in Kreuzberg, vergingen fast zwei Jahrzehnte. Und wieder waren viele Jahre vergangen, bis er mir zum zweiten Mal einfiel.
Zeiten großer seelischer Not also ließen Johannes wieder lebendig werden.
Wie mochte er heute aussehen? Was war aus ihm geworden – ein Künstler wie sein Vater? Wo lebte er? Ich beamte ihn nach New York. War fast schon sicher, er lebte dort. Viele jungen europäischen Künstler meiner Generation und auch einige Künstlerinnen verließen ihr Land, um in New York einen anderen Zeitgeist einzufangen, als wir ihn in Deutschland erlebten. Einige kamen zurück, andere nicht. War er verheiratet? Hatte er Kinder? Ich hielt beides für sehr gut möglich. Denn er war charmant, er war Menschen zugewandt auf eine sehr ehrliche, offene Art. Aber ich hielt ihn nicht für avantgardistisch genug, auch nicht als Künstler, die Ehe als einen Akt bürgerlicher Dekadenz abzulehnen, so wie es vor allem während und nach der 68er Bewegung geschah.
Ich ging mit Johannes spazieren, jetzt, hier entlang des Flusses. Hand in Hand. Ich war sechzehn, Johannes achtzehn Jahre alt. Es hatte solche Spaziergänge wenn auch nicht am Fluss entlang, während meiner Teenagerzeit gegeben. Hand in Hand. Mit dem einen jungen Mann über ein paar Wochen jeden Sonntag, mit dem anderen alle paar Wochen mal sonntags. Meine Scheu vor einer körperlichen Begegnung, die über das Händchenhalten hinausging, war unüberwindbar. Wäre es mit Johannes anders gewesen? Ein vorstellbarer Dialog zwischen uns:
Klara, ich möchte dir gern einen Kuss geben. (Er lächelt mich an, nicht verschmitzt, sondern hingebungsvoll.)
Ich: warum? (Den Blick gesenkt, meine Hand in seiner schwitzt.)
Er: Weil ich wissen möchte, wie du schmeckst. (Er wendet seinen Oberkörper mir zu, leicht gebeugt, denn er ist etwas größer als ich, und vielleicht nimmt er meinen Kopf , der wie meist in Richtung Boden gesenkt ist, in seine Hände …)
Und bevor ich in diesem Augenblick die Liste all meiner eventuellen körperlichen Unzulänglichkeiten abgearbeitet habe (vielleicht habe ich Mundgeruch; vielleicht habe ich einen Popel am Nasenausgang, vielleicht sieht er jetzt, dass ich zwei Zahnlücken habe), tut er es einfach und setzt einen zärtlichen Kuss auf meine Lippen.
Nicht, dass er dafür einen wie auch immer gearteten Blick (verwundert? erschrocken? beglückt gar?) von mir geerntet hätte – oh, davon war ich noch Lichtjahre entfernt, einem Mann in die Augen blicken zu können. Aber vielleicht … Vielleicht hätten wir daran arbeiten können und noch zu unseren frühen Lebzeiten einen Erfolg gehabt. Doch Johannes war nicht mein Psychotherapeut und der Spaziergang mit ihm am Flussufer fand auch nicht statt. Eine tieftraurige, aber schöne Sehnsucht hatte mich begleitet. Das war ja auch etwas. Ich kehrte zurück ins Altenheim zu meiner Mutter oder in mein kleines Appartement.
Wiederholte ich bei späteren Besuchen in meiner Heimatstadt den Spaziergang am Fluss? Ich kann mich nicht daran erinnern. Obwohl die Besuche bei meiner Mutter mit den Jahren immer langweiliger und frustrierender wurden, blieb ich bei meinem Vorsatz, sie viermal im Jahr zu besuchen über jeweils eine Woche. Bei einem dieser Besuche bat sie mich, wieder zu gehen, weil im TV gerade eine so schöne Volksmusik lief. Ich war von Berlin aus sechs Stunden mit der Bahn gefahren, zwanzig Minuten mit der Straßenbahn, eine halbe Stunde mit dem Bus, dann noch einen Fußweg von einer halben Stunde bis zu ihr ins Heim mit einer schweren Reisetasche zurückgelegt, die auch Geschenke für sie enthielt. Und sie schickte mich wieder weg. Natürlich wusste ich um ihr kopfloses Handeln, aber auch ein in die Jahre gekommenes, verständnisvolles Kind bringt seiner Mutter immer noch Gefühle entgegen, die eine Erwiderung erwarten oder zumindest einen höflichen Empfang. Mir wurde klar, ich musste meinen Aufenthalt bei ihr modifizieren, um nicht bei einem nächsten Mal verbal auszurasten.
Der nächste Besuch stand für den Herbst an. Ich wollte einen größeren Umweg machen, bevor ich, wieder einmal außer Puste, aber doch freudig erregt, meiner Mutter gegenüberstand und dann eventuell wieder weggeschickt wurde, weil sie es vorzog, schöne Volkslieder zu hören. Ich buchte also eine kleine Reise auf dem Rhein. Ich liebte Wasser, ich liebte Schiffsreisen, ich war noch nie in Köln gewesen. Höchstens auf der Durchreise irgendwohin. Für eine Nacht ließ ich mir ein Hotelzimmer mit Blick auf den Kölner Dom reservieren. Das war ein Reisen zu meiner Mutter ganz anderer Art als alle Reisen vorher. Ich empfand mich geradezu als abenteuerlustig, obwohl es nur um eine kleine Schifffahrt ging. Aber auch die dauerte ein paar Tage. Und bevor ich meiner Mutter wieder begegnete, hätte ich sicher neue Eindrücke gesammelt, die mich ihre Schrullen besser ertragen ließen.