Читать книгу Johannes Wiedergänger - Brigitte Pyka-Behrends - Страница 8
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Als ich am Kölner Hauptbahnhof eintraf, regnete es in Strömen. In Berlin war ich am Vormittag bei freundlichem Sonnenschein in den Zug gestiegen und hatte mir während der Zugfahrt ausgemalt, auf den Rheinterrassen gemütlich eine Kleinigkeit zu essen, Kaffee zu trinken und den unvergleichlichen Blick auf Rhein und Dom zu genießen – so wie mein Reiseführer es mir vorgeschlagen hatte. Daran war gar nicht zu denken. Also suchte ich schnell mein Hotel auf, um meine Reisetasche unterzustellen und zog mit kleinem Rucksack und Regenschirm wieder los, um wenigstens einige der must see sights mitzunehmen: den Dom, die Altstadt, den Bayenturm. Auf diese kleine Auswahl beschränkte ich mich am späten Nachmittag, um meiner Jeans Zeit zu geben, bis morgen früh um sechs Uhr zu trocknen. Ich ließ mir einen Imbiss aufs Zimmer bringen. Nachdem ich geduscht und meine Haare geföhnt hatte, schaltete ich den Fernseher ein und setzte mich aufs Bett. Das war auch gemütlich, wenn es auch nicht die Rheinterrassen waren.
Am nächsten Morgen regnete es noch immer. Es war auch ziemlich kalt für Oktober und ich fragte mich, ob ich mir für eine Schifffahrt die richtige Jahreszeit ausgesucht hatte. Als ich dann meinen Blick über die wartende Menge der Passagiere an der Anlegestelle schweifen ließ und feststellen musste, wohl die einzige Alleinreisende zu sein, kam ich leicht panisch drauf. Auf all meinen Reisen hatte ich fast immer und sehr schnell eine Gleichgesinnte gefunden, die auch Ausschau hielt nach einer Solo-Reisenden, mit der sie sich ein wenig unterhalten und den Tisch teilen konnte beim Frühstück und beim Abendessen. Doch hier: außer mir nur Gruppen und Grüppchen und Paare. Kinder sah ich nicht. Die Gruppen dominierten die Stimmung, sobald es über die Gangway an Bord ging. Fläschchen wurden ausgepackt und reihum verteilt und man ließ es so richtig knallen, als käme man nach langer Kerkerhaft endlich wieder an die frische Luft. Yippiiie, und selbst fahren musste man auch nicht, man wurde geschippert.
Ich versuchte freundlich-interessiert auszusehen, um nicht von Anfang an als die alleinreisende arrogante Zicke zu gelten. Ich hatte meine Erfahrungen gemacht, und es konnte höchst unangenehm werden für mich, wenn angetrunkene Menschen sich durch meinen Gesichtsausdruck kritisiert fühlten. Dann konnte die Stimmung sehr schnell umschlagen von bodenloser Heiterkeit in bodenlose Angriffslust: Was ist denn mit der los? Spaßbremse, was? He, du, lach doch mal! Schon lange nicht mehr flachgelegt worden, was? Komm mal her, ich zeig dir was Schönes!
Alles schon erlebt, also freundlich-interessiert hin- oder ganz neutral wegsehen.
Vor mir stritten sich Mutter und Tochter um den Sinn dieser kleinen Reise. Das heißt, die Tochter stritt, die Mutter stieß hin und wieder ein gequältes ach, Ulla, sei doch bitte nicht so, hervor. Die Tochter war um die fünfzig Jahre alt, die Mutter würde morgen achtzig werden, hörte ich, und die Schifffahrt über den Rhein war das Geburtstagsgeschenk für die Frau Mama. Was sich jetzt als viel zu großzügig von der Tochter gedacht herausstellte. Denn die hatte schon auf Yachten das Mittelmeer durchkreuzt, mehrmals, und auf Segelschiffen sich einen frischen Wind um die Nase blasen lassen auf den Ozeanen dieser Welt. Und jetzt das hier: anstehen in einer langen Schlange, um sich von einem tranigen Stewart Tisch und Stuhl im Bordrestaurant für die nächsten Tage zuteilen zu lassen. Wäre sie doch bloß nicht so gutmütig und großherzig, dann könnte sie jetzt zu Hause auf der Terrasse sitzen und relaxen. Ach, Ulla, seufzte die Mutter, sei doch nicht so.
War ich selbst auch so? Wie Ulla?, fragte ich mich, während das Zetern der Gewitterhexe auch auf mich niederprasselte. Reagierte ich in der länger zurückliegenden Vergangenheit auch so ungeduldig, wenn meine Mutter einen Wunsch äußerte oder mir auch nur den Inhalt einer aktuellen Sendung von Kommissar Rex erzählen wollte? Ja, auf den Hund Kommissar Rex konnte ich tatsächlich sehr unwirsch reagieren. Aber auf die Wünsche meiner Mutter war ich doch immer und immer eingegangen. (Konditorn mit ihr im Restaurant des Kaufhofes unserer kleinen Stadt. Arm in Arm dahin. Einmal in der Woche wünschte sich meine Mutter meine Begleitung, wenn ich aus der Handelsschule nach Hause kam. Für sie war das ein Ausflug in den reinen Luxus, während wir Arm in Arm uns aufmachten und sie glücklich ihre Handtasche schlenkerte.)
Später ging es um Spaziergänge oder kleine Wanderungen. Ich schlug sie auch selbst vor, wenn ich auf Besuch bei ihr war und merkte, sie fiel wieder in ein tiefes Loch, wie so oft nach dem Tod meines Vaters. Ich zog sie aus ihrem Sessel und bevor wir die Wohnung verließen, legte ich ihr eine Strickjacke um die Schultern und bot ihr vor dem Haus meinen Arm an. Nein, so wie Ulla hatte ich meine Mutter nie behandelt, und ich war mir fast sicher, zu Hause, in den eigenen vier Wänden, würde auch sie ihre Mutter nicht so angehen wie jetzt hier auf dem Schiff. Ulla bot ein Schauspiel, und das Schauspiel galt mir. Sie stellte sich einfach nur vor: Hallo, ich bin Ulla, glaub bitte nicht, meine Ausflüge wären alle so öd wie dieser hier. Ich bin eine Frau, die die Welt kennt und die Möglichkeiten, die diese Welt bietet, auszuschöpfen und zu genießen weiß. Und wer bist du?
Zum Abendessen wurde ich von einem Kellner an einen Vierertisch geführt, an dem Ulla und ihre Mutter saßen. Ein Zufall? Natürlich nicht. Eine alleinreisende Frau wird einem Tisch zugeteilt, an dem zwei alleinreisende Frau ihren Platz gefunden haben. Denn auch zwei Frauen, die zusammen verreisen, sind irgendwie alleinreisend, weil es an einer männlichen Begleitung mangelt. Ich stellte mich vor, bat um Entschuldigung für die Störung ihrer Zweisamkeit und nahm Platz. Wir drei lächelten uns an. Es passte irgendwie gut zusammen mit uns.
Tja, und dann tauchte eine vierte Person an unserem Tisch auf für gemeinsame Frühstücke und Abendessen in den kommenden Tagen.
Aufgefallen war er mir bisher nicht. Wie auch? Etwa achtzig Gäste, schätzte ich, beherbergte unser Schiff, und ich hatte nicht jeden männlichen Gast unter die Lupe nehmen können, um ihn auf seinen Personenstand hin zu überprüfen. Hatte eh nur nach einem weiblichen Single Ausschau gehalten. Nach einer Gefährtin. Vielleicht, wenn er sich während des Check-ins so in Schale geworfen hätte wie jetzt, als er zum Dinner erschien, wäre er mir ins Auge gesprungen und ich hätte ihn gleich abgestempelt als Depp.
Er tauchte in einem schwarzen Anzug, einem weißen Hemd und einer knallroten Fliege auf und machte eine tiefe Verbeugung. Darf ich mich den Damen vorstellen? Mein Name ist Hirsch. Doktor Hirsch.
Ich war perplex. Wen haben wir denn da?, dachte ich. Den kenne ich doch. Er kleidet sich zwar wie ein Depp, hat aber gute Manieren. So wie es sich gehört. Aber seine Berührungsängste werden deutlich durch das Weglassen des Vornamens und natürlich durch die Wahl seiner Kleidung. Ich kenne dich, du Hirsch. Das fühlte ich in dem Moment sofort. Denn ich hatte auch seine Zahnlücke gesehen, als er Hirsch und ich aussprach. Er zog die Oberlippe etwas hoch beim Buchstaben i.
Er wirft einen kurzen Blick in unsere Frauenrunde, und von mir bekommt er eine aufmunternde Reaktion: Ich lächele ihn an. Fast mütterlich. Was mir bisher noch nie gelungen ist: einen Mann mütterlich anzulächeln.
Ich blicke zu Ulla hinüber und sehe, sie amüsiert sich. Sie hat Mühe, ihr Grinsen zu verbergen. Ihre Mutter aber war völlig aus dem Häuschen vor Freude. Beinahe wäre sie aufgestanden, um dem Herrn Doktor den Stuhl zurechtzuschieben. Ulla hinderte sie daran mit einer entschlossenen Handbewegung. Herr Doktor schaffte es auch selbst, und kaum saß er, informierte ihn Ullas Mutter darüber, eine hohe Meinung von Doktoren zu haben. Ihr Schwiegersohn sei auch einer, allerdings kein Mediziner. Ob er denn einer sei. Er nickte nur kurz und zog aus der Brusttasche seines Jacketts ein Handy heraus, mit dem er sich während unseres Abendessens beschäftigte. Seine Höflichkeit hatte mit seiner Vorstellung ein Ende gefunden. Kein einziges Wort mehr, keinen Blick zu einer von uns drei Damen während der gesamten Mahlzeit. Er spielte mit seinem Handy, hörte vielleicht Musik, tippte ein paar Nummern ein, drückte sie wieder weg – auch während er eine Suppe löffelte oder mit der Gabel in seinem Fisch stocherte, hielt er sein Handy in der Hand oder ans Ohr. Seine Ignoranz machte auch eine Unterhaltung unter uns Frauen ein bisschen zäh. Allzu Persönliches wollten wir vor diesem Phantom an unserem Tisch nicht austauschen. Also sprachen wir vielleicht ein bisschen über die Stationen dieser Reise und sahen zu, unsere Teller zügig zu leeren, um in der Bar ein Glas Wein zu trinken. Wir erhoben uns und wünschten ihm noch einen schönen Abend. Er nickte nur.
Johannes, du Kind, dachte ich, während ich mich hinter seinem Stuhl zur Tür hinausschlängelte. Was hast du bloß aus dir gemacht? Wo ist deine Unbefangenheit geblieben? (Wenn du es denn bist.)
Was war das denn eben?, fragte Ullas Mutter, nachdem der Barkeeper drei Gläser Weißwein und eine Flasche Mineralwasser auf unseren kleinen Tisch gestellt hatte. Die Mutter ist sehr verunsichert und fordert eine Antwort.
Erst einmal Prost, antwortete Ulla, und auf ein DU, wenn´s recht ist? Sie blickte mich fragend an. Aber gern. Also Ulla, Klara und Almuth. Wir hoben unsere Gläser und stießen auf unsere junge Bekanntschaft an.
Also, was war das eben mit dem Herrn Doktor, bohrte Almuth nach: Der war doch so nett, als er an unseren Tisch kam. So gut erzogen. So ein richtig feiner Herr, mit dem ich mich gern ein bisschen unterhalten hätte. Und kaum stelle ich ihm eine Frage, verschließt er sich wie eine Auster und spielt an seinem Ding herum, diesem Handy. So etwas habe ich noch nie erlebt!
Vielleicht hast du die falsche Frage gestellt, Mutti, schlägt Ulla vor. Könnte ja sein, er fühlte sich bedroht. Fürchtete eine längere Sprechstunde mit der Auflistung all der Wehwehchen, die eine ältere Dame so haben kann. Vielleicht hatte er einfach keinen Bock, bei dir Visite zu machen.
Blödsinn! Die Mutti schnaubt: Als würde ich einem Arzt nicht seinen Urlaub gönnen. Und dass der ihn nötig hat, das sah ich doch sofort, so dünn wie er ist!
Was mich nur wundert, ist seine Anspruchslosigkeit.
Almuth hebt ihren Daumen: Erstens, er ist Arzt. Zweitens (hebt den Zeigerfinger), Ärzte verdienen gut. Drittens (Mittelfinger), warum gibt der sich dann mit einer popeligen Flussfahrt zufrieden?
Ulla lacht böse auf: Aha, jetzt machen wir also eine popelige Flussfahrt. Bis vor ein paar Tagen hieß die noch romantische Rheinschifffahrt vorbei an Burgen und Weinbergen und war das schönste Geburtstagsgeschenk, das du dir denken konntest. Interessant, Mutter.
So meine ich das doch gar nicht, Ulla, wendet die Mutti müde ein. Ich meine doch nur, als Mediziner kann der sich doch etwas anderes leisten als auf einem solchen Kahn herumzugondeln und auf lauter uninteressante Menschen zu treffen.
Aua. Meint Almuth auch mich? Dann wird es Zeit, mich zu verabschieden und meine Außenkabine mit Balkon aufzusuchen. Vorher lass ich aber noch zu, dass Ulla der Kragen platzt. Sie hat mein Verständnis.
Mediziner, Mediziner, schnaubt sie. Vielleicht ist der schon längst kein Mediziner mehr. Vielleicht hat er seine Approbation verloren, weil er mit Drogen gehandelt hat. Was auch seine popeligen Reiseansprüche erklären könnte und die langweilige Gesellschaft, die er in Kauf nehmen muss. Übrigens auch seine groteske Kleidung. Ein Anzug, der schon längst aus der Mode ist und in dessen Taschen mit Sicherheit Mottenkugeln steckten – ich habe es doch gerochen! Und dann diese alberne knallrote Fliege! Ich hab gedacht, ich werd nicht mehr, als ich ihn in der Tür stehen sah. Und dann kommt er auch noch an unseren Tisch und knallt bei seiner Verbeugung fast mit dem Kopf darauf!
Nun muss ich einfach lachen! Zu schön, Ullas Schilderung meines eigenen Eindrucks. Und meine beiden Begleiterinnen lachen auch. Die Stimmung zwischen uns ist wieder in Ordnung. Morgen früh legt das Schiff in Mainz an und wir werden uns zusammen die Sehenswürdigkeiten der Stadt ansehen: den Dom (noch einer), vielleicht das Gutenbergmuseum oder das Römisch-Germanische Zentralmuseum. Vielleicht trinken wir aber auch einfach nur Kaffee auf dem Marktplatz, abhängig vom Wetter, denn auch heute ließ sich die Sonne nicht blicken. Ich will aufstehen, um mich zu verabschieden, da hält Ulla meinen Arm fest und flüstert mir zu: Kennst du ihn, den Herrn Hirsch? Ich hatte den Eindruck.
Was antworten? Ich hebe meine Schultern und gebe zu, mir nicht sicher zu sein. Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich werde es herausfinden, sage ich.