Читать книгу Eine Katze namens Moon - Brigitte Riebe - Страница 6

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Fanny erwachte gewohnheitsmäßig am frühesten im Haus, und außerdem hatte sie Hunger. Ihr erster Blick galt dem Schrank, wie jeden Morgen, wenn sie die Augen aufschlug. Zum Glück war er fest geschlossen. Ein verheißungsvolles Zeichen! Klugerweise hatte sie sich die Anziehsachen für heute schon gestern abend herausgelegt, eine Vorsichtsmaßnahme, die allerdings nur bedingt tauglich war, und ihr bei plötzlichem Wetterwechsel schon mehr als einmal Probleme bereitet hatte. Aber heute schien alles unkompliziert. Sonnenlicht tanzte auf dem azurblauen Holzboden, der mit Nixen, Delphinen, Austern und bunten Fischen bemalt war; draußen war es ebenso warm und strahlend wie gestern, und sie konnte guten Gewissens das neue Kleid mit den gelben Entchen anziehen.

Inzwischen war sie wach und mutig genug, um einen zweiten, ausgiebigeren Blick zu riskieren. Keine Spur von dem seltsamen Völkchen, das sich seit dem letzten Winter klammheimlich in ihrem Kleiderschrank breit gemacht hatte! Manche von ihnen hatte sie schon mit eigenen Augen gesehen, andere kannte sie nur von dem Radau, den sie vorzugsweise mitten in der Nacht veranstalteten, wenn das ganze Haus still war. Es gab da den schielenden Riesen, der an seinen wuchernden Warzen litt, die böse Stiefmutter, die fliegen, zaubern und kilometerweit spucken konnte, das enttäuschte Gespenst, das immer alles durcheinander brachte, den traurigen, kahlen Ritter mit nur einem Bein und eine Reihe anderer kurioser Wesenheiten – genau genommen eigentlich alles keine schlechten Kerle, vorausgesetzt, man wußte, in welcher Stimmung man sie antraf. Gelang es Fanny, sich rechtzeitig auf ihre zuweilen ganz schön durchgeknallten Ideen einzustellen, konnte sie sogar richtig Spaß mit ihnen haben. Aber das war beileibe nicht immer so. Manchmal, wenn alles schief lief, machten sie einfach, was sie wollten, ohne sich um sie zu kümmern, und dann bekam Fanny große Angst. Wie hätte sie auch keine kriegen sollen, wenn plötzlich mitten in der Nacht die Schranktüren aufsprangen und eine grüne, glibberige Gestalt durch das Zimmer flog, ihren Kopf mit großen, rotglühenden Räderaugen unter dem Arm? Oder die böse Stiefmutter im Fliederbaum den Giftbecher mischte, die wilden, silbernen Haare schüttelte und dabei mit hoher Stimme lockende Sirenenlieder sang? Von einem viel zu dicken Ritter, der mit seinem eigenen Bein Eishockey spielen konnte und dabei fluchte wie achtzehn Seeräuber zusammen, ganz zu schweigen!

Papa hörte solche Abenteuer gern, Mami aber wurde ärgerlich, wenn sie zuviel davon erzählte und behauptete steif und fest, Fanny sei mit fast acht allmählich wirklich zu groß, um sich derartigen Schwachsinn einzubilden. Einbildung – pah! Wenn die wüßte, was hier manchmal nachts alles los war! Aber leider waren die Schrankleute raffiniert genug, sofort zu verschwinden, sobald die Zimmertür aufging, und nicht einmal einen Mucks zu machen.

Sie seufzte tief, und wußte auf einmal wieder ganz genau, weshalb dieser schöne Morgen sehr bald schon grau und häßlich werden würde. Diktat! Das war so ungefähr das Furchtbarste, was einem Kind zustoßen konnte. Nicht einmal Sterben war schrecklicher. Da war Fanny sich ganz sicher, egal, was die Erwachsenen auch immer behaupteten!

Der Kloß in ihrem Hals schwoll an, und sie betastete ihn vorsichtig. Wenn sie noch ein Weilchen wartete und vor dem Fenster mit offenem Mund so schnell wie möglich weiteratmete, würde sie vielleicht gerade noch rechtzeitig wieder diese schlimmen Halsschmerzen kriegen und den ganzen Tag gemütlich im Bett bleiben dürfen. Andererseits war jetzt Juni und nicht Dezember, und außerdem bekam Mami seit einiger Zeit immer diese strenge Falte auf der Stirn, wenn sie krank wurde. Fanny wußte genau, weshalb. Von der Luke im Dachspitz aus hatte sie nämlich prima Sicht. Und alles genau im Blick.

Es lag an dem Lockenmann, der heimlich zu Besuch kam, wenn Til und sie in der Schule festsaßen und Papa im Laden arbeitete. Er erschien nur, wenn sicher feststand, daß niemand außer Mami im Haus war. Fanny mochte nicht, wie er sie ansah. Wie er mit ihr redete. Und am allerwenigsten, wie er sie anfaßte.

Seitdem machte sie einen Bogen um kräftige Männer mit dunklen, welligen Haaren und blauen Augen, und verkündete, sie seien schlechte, unehrliche Menschen. Manchmal tat es ihr leid, wenn Mami dabei diesen gehetzten Blick und den traurigen Zug um den Mund bekam, aber aus irgendeinem Grund mußte sie es dann erst recht gleich noch ein paarmal hintereinander wiederholen, auch wenn sie sich immer mieser fühlte. Das einzige, was dagegen half, war essen. Kaum hatte sie etwas Weiches, Süßes im Mund, löste sich der schmerzhafte Knoten in ihrer Brust auf, und alles wurde friedlich, tröstlich, still. War ihr Bauch erst einmal voll, schien auch das Leben erträglich.

Wie auf ein Stichwort hin schlüpfte Fanny aus dem Bett und schlich nach unten. Kein Laut war im ganzen Haus zu hören. Gut, daß noch alle schliefen und es früh genug war, um sich zu holen, wonach es sie verlangte – falls sie es einigermaßen geschickt anstellte! Sie war nicht faul gewesen, hatte seit Tagen unauffällig spioniert, und jetzt saß jeder Griff. Inzwischen wußte sie genau, wo Mami den Schlüssel für die Speisekammer versteckte, ganz oben im Küchenschrank nämlich, in der Dose, die noch vor kurzem erfreulicherweise immer mit Lakritzstangen gefüllt gewesen war.

Sie kletterte auf einen Küchenstuhl, streckte sich, tastete und stutzte. Kein Schlüssel! Eher verdutzt als enttäuscht stieg sie wieder herunter und wunderte sich abermals.

Der Schlüssel steckte – und zwar im Schloß!

Langsam drehte sie ihn herum, schaute hinein, und erschrak so sehr, daß sie die Tür beinahe krachend wieder zugeschlagen hätte. Jetzt sah sie Wesen wie die Schrankleute schon am hellichten Tag! Eine strubbelige, halb verhungerte Katze allerdings war noch nie darunter gewesen. Ob sie der bösen Stiefmutter gehörte und sie nächtens bei ihrem wilden Ritt über die Baumkronen begleitete?

Ihr Herz schlug wie wild, und selbst der gerade eben noch nagende Hunger war schlagartig verschwunden. Sie zählte ganz langsam bis zehn, so wie Til es ihr erst neulich für schwierige Situationen geraten hatte, dann öffnete sie die Tür zum zweiten Mal.

Die Katze war noch immer da. Sie lag in Mamis ausrangiertem Einkaufskorb, der nun mit einem Handtuch ausgeschlagen war, und blinzelte ein bißchen. Sie hatte keine Angst, aber etwas schien ihr zu fehlen. Um ihr ungepflegtes Fell und die dünnen Knochen herum war alles grau. Beinahe tot. Nirgendwo konnte Fanny etwas von den leuchtenden Fäden sehen, die, wie sie aus Erfahrung wußte, von Menschen, Tieren und Pflanzen ausstrahlten, die glücklich, gesund und zufrieden waren.

Immerhin war die alte Sägespänekiste in ihrer Nähe, die früher Sponti, das Meerschweinchen, benutzt hatte. Zwei feuchte Vertiefungen zeigten, daß sie genau kapiert hatte, wozu sie gedacht war. Und ein Schälchen mit Wasser und ein Teller standen vor ihr, auf dem kleingeschnittenes, kaltes Hühnchen lag. Unberührt. Jedenfalls soweit man sehen konnte. Und Fanny liebte kaltes Hühnchen!

Aufmerksam sah sie die Katze an. »Ich denke, du bist viel zu krank, um das hier zu fressen«, sagte sie und stopfte sich alles schnell in den Mund. Jetzt war sie erst recht gierig geworden. Am liebsten hätte sie das Gelee darunter auch noch aufgeschleckt. »Außerdem muß ich nachher gleich ein blödes Diktat schreiben. Glaubst du vielleicht, das geht mit knurrendem Magen? Wenn man nur ein bißchen Obstbrei und zwei dünne Scheiben Knäcke mit saurer Gemüsepaste zum Frühstück bekommt? Aber was weißt du schon davon!«

Die Katze gab einen komischen Laut von sich. »Wok-wok«, so ähnlich klang es. Sie begann zu würgen, aber aus ihrem Maul floß nur ein bißchen grünliches Zeug.

»Gefällt mir aber gar nicht!« sagte Fanny streng. Miene und Ton hatte sie von Mami abgeschaut. So klang sie immer, wenn es wieder mehr als zwanzig Fehler in einer einzigen Seite Rechtschreiben waren. Oder sie beim Haltungsturnen am Seil trotz aller Anstrengung nicht mehr als ein paar lächerliche Zentimeter hinaufkam, obwohl Papa der Meinung war, das spiele überhaupt keine Rolle.

Die Katze warf ihr einen müden Blick zu. Schien sie nicht besonders zu interessieren.

»Bist du eines von Mamis Geheimnissen, so wie der Lockenmann?« fragte Fanny weiter. »Aber wieso sperrt sie dich dann in die Speisekammer? Weil du frech geworden bist? Damit dich keiner sieht? Oder weil sie ganz genau weiß, daß du zu krank bist, um etwas hiervon zu stehlen?«

Die Katze fiepte leise und sah aus wie ein Häuflein Elend. Mitgefühl wallte in Fanny auf. Sollte sie sie streicheln? Sie streckte schon die Hand aus, um sie zu berühren, zog sie aber wieder zurück. Die Katze wollte allein sein. Das war es! Fanny wußte es auf einmal ganz genau, als ob sie es ihr gerade gesagt hätte.

Prüfend musterte sie die vollgestellten Regale. Seitdem Mami und Maxie zusammen kochten, wimmelte es hier geradezu von den unterschiedlichsten Köstlichkeiten. Die meisten allerdings waren für fremde Leute bestimmt und wurden, raffiniert weiterverarbeitet, Tag für Tag in Reinen, Töpfen und großen Schüsseln aus dem Haus geschleppt. Sehr zu Fannys Mißbilligung. Normalerweise war alles bestens bewacht. Jetzt aber schien die Gelegenheit ungewohnt günstig. Ganz leicht hätte sie noch von der italienischen Salami abbeißen können. Oder ein paarmal mit einem Suppenlöffel in das große Glas Rhabarbermus fahren. Seltsamerweise tat sie es nicht. Nicht einmal die leckeren Vollkornplätzchen mit den Schokomandeln reizten sie noch.

Sie nickte der Katze kurz zu. »Verstehe! Manchmal kann man einfach niemand um sich haben. Aber in deinem Zustand solltest du trotzdem nicht zu lange allein sein. Deshalb komme ich wieder. Versprochen! Gleich nach dem Frühstück sehe ich noch einmal nach dir!«

Sie war schon halb auf dem Rückzug, da lief sie Til in die Arme. Sie war sich ziemlich sicher, daß sie die Dusche im Kinderbad nicht gehört hatte. Gewaschen oder nicht, er roch gut wie immer, nach einer eigenwilligen Mischung aus heller Haut, Zimt und grünen, ein wenig bitteren Gräsern. Seine langen Haare hatte er heute ausnahmsweise in einem modischen Pferdeschwanz zurückgebunden. Und er trug ein weißes Hemd mit bauschigen Ärmeln, über dem sich eine von Großpapas alten Westen besonders gut machte. Fanny bewunderte ihren großen Bruder. Auch wenn er sie ständig aufzog und seinen Freunden gegenüber so gut wie immer tat, als sei sie lästig, nichts als dicke Luft – für sie war Tilman der Held ihrer Märchen. Ein stolzer, mutiger Prinz, stets bereit, gegen Drachen, Geister und Piraten zu kämpfen. Sie mußte nur höllisch aufpassen, daß er möglichst nichts davon mitbekam. Denn das hätte bestimmt Frotzeleien ohne Ende bedeutet!

Unwillkürlich wischte sie sich mit der Hand über den Mund. Verstohlen, aber er hatte es natürlich bemerkt. Til entging so gut wie nichts.

»Ah, unser Fräulein Fanny, die Naschkatze! Und trotz der frühen Stunde schon wieder heimlich auf Beutezug?« Er lachte, und Tausende von Sommersprossen tanzten in seinem schmalen Gesicht. »Wenigstens erfolgreich, wie ich hoffe!«

»Gar nicht!« protestierte sie. »Und außerdem bist du ganz schön eklig!«

»Bin ich nicht. Das sind nur Babys unter acht. Vor allem, wenn es auch noch Mädchen sind. Was kriege ich, damit ich dicht halte?«

Es war nichts als Spaß, und sie wußte es. Trotzdem machte sie für alle Fälle ein ängstliches Gesicht.

»Ein Geheimnis«, sagte sie vielsagend. »Ich weiß etwas Tolles!«

»Laß hören!«

»Sehen«, verbesserte sie, ging zurück und stieß die Tür der Speisekammer auf. »Da! Was sagst du nun?«

»Hast du die etwa angeschleppt?« Er schien ehrlich beeindruckt. »Mensch, Kleine, du weißt genau, daß du jede Menge Ärger kriegst, wenn Evelyn oder Christoph das hier zu Gesicht bekommen.« Seitdem er letzten Winter fünfzehn geworden war, fand er es cool, die Eltern bei ihren Vornamen zu nennen. Vor allem, wenn sie nicht dabei waren. »Sieht ja eher wie ’ne getaufte Ratte aus! Wo hast du denn bloß dieses erbärmliche Vieh aufgetan? Ich wette, direkt aus der Mülltonne!«

Die Katze ließ ein schwaches, empörtes Maunzen hören, als ob sie ihn genau verstanden hätte. Fanny zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Der meint es nicht so, sollte das bedeuten.

Die Treppe knarzte. Fanny und Til zuckten zusammen. Im letzten Moment versetzte Til der Tür den entscheidenden Schubs. Und zu war sie!

»Eine kleine Familienversammlung direkt vor der Speisekammer?« Papa war noch im Schlafanzug und sah blaß und müde aus. Obwohl er immer lange vor Mami ins Bett ging. »Etwa verursacht durch nagende Hungerattacken? Ein zarter Hinweis, daß ich mich beeilen soll? Oder darf ich es so interpretieren, daß ihr heute morgen im Stehen essen wollt?« In letzter Zeit hatte er es übernommen, für das Frühstück zu sorgen. Aber er tat es muffig und sichtlich unwillig. Und die anderen bemerkten es natürlich. Manchmal bekam nicht einmal Fanny einen Bissen herunter, wenn sie so verkrampft nebeneinander am Tisch saßen.

»Ich deck schon mal den Tisch«, sagte Til schnell. Es mußte einiges passieren, daß der um die passende Antwort verlegen war!

»Der Herr Sohn, sieh mal einer an! Heute im topmodischen Mozartlook. Wirklich extravagant, keine Frage!« Papa ging zum Herd und begann umständlich, Wasser aufzusetzen und den Toaster zu beladen. Dann griff er nach Obstkorb und Schälmesser. Jetzt kamen die doofen Äpfel und Bananen für Fannys Müsli an die Reihe! »Und welchem Umstand verdanken wir diesen ungewöhnlichen Eifer? Doch nicht etwa einem diskret verschwiegenen Mathe-Fünfer?«

Fanny zog die dunklen Brauen zusammen. Papa wußte genau, daß Til so gut wie niemals Schulprobleme hatte. Ganz im Gegensatz zu ihr! Das Heft mit der verpatzten Rechenprobe steckte noch immer in ihrem Ranzen. Natürlich ohne Unterschrift. Sie würde sich heute in der Schule schon wieder eine neue Ausrede einfallen lassen müssen. Überrascht drehte sie sich um.

Aus der Kammer kam schwaches, aber unüberhörbares Miauen. Die Katze würde sich doch nicht ausgerechnet jetzt bemerkbar machen! Ob sie hungrig war? Vielleicht hätte sie ihr lieber nicht das ganze Hühnchen wegessen sollen?

»Meine letzte Mathenote war eine Bomben-Zwei«, sagte Til beherrscht, obwohl seine Kinnmuskeln angespannt waren, »falls du dich freundlicherweise noch daran erinnern magst. Die drittbeste Arbeit der Klasse.« Auf einmal war seine helle Haut fast so rot geworden wie sein Haar. »Ich kann nämlich zufällig rechnen!«

Jetzt ging das schon wieder los! Sie würden versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen, bis einer so gekränkt war, daß er seine Fassung verlor. Meistens Papa. Tilman hatte in letzter Zeit große Fortschritte gemacht und wurde in diesem komischen Wettbewerb fast immer Sieger.

»Und was ist mit dir?« raunzte Papa jetzt sie an. »Willst du heute im Nachthemd in die Schule gehen?«

»Bin schon verschwunden!« Sie lächelte probeweise, was oft half und ihn ebenfalls heiter stimmte, heute aber blieb seine Miene streng. Noch ein letzter, prüfender Blick in Richtung Speisekammer. Alles schien ruhig. Fanny rannte nach oben, benetzte sich mit dem feuchten Waschlappen das Gesicht und putzte im Schnellverfahren die Zähne. Dann fuhr sie sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. Mehr als ausreichend, wie sie fand. Sie war gerade dabei, sich das Entchenkleid über den Kopf zu ziehen, als die Tür aufging.

»Und das soll schon alles gewesen sein? Heute abend stecke ich dich in die Wanne und schrubbe dich eigenhändig ab, das verspreche ich dir!« Natürlich hatte Mami sie doch wieder erwischt! Sie trug ihr rotes, weit ausgeschnittenes Kleid mit dem breiten Lackgürtel, in dem sie beinahe wie ein junges Mädchen aussah. Fanny starrte sie hingerissen an. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz …

Sie war hübscher, als die Mütter der meisten anderen Kinder, auch wenn sie kaum Make-up aufgelegt hatte, und ihre Haare glatt herunterfielen. Was Fanny heute morgen sofort ins Auge stach, war der tiefe, rote Kratzer auf Mamis blasser Haut. Sah aus wie geschwollen. Ob der auch vom Lockenmann stammte? Sonst waren es immer nur diese rötlichen Male gewesen, die Mami manchmal unter Ketten und Tüchern versteckte. Knutschflecken, so nannte man das, sagte Sera, das Mädchen aus ihrer Klasse, mit dem sie am allerliebsten befreundet gewesen wäre. Sie kannte so was von ihrer großen Schwester. Fanny haßte dieses Wort. Gesehen jedoch hatte sie diese Dinger schon überall. Am Hals. Auf Mamis Busen. Einmal sogar am linken Po, beim Umziehen, in der Kabine, als sie zusammen beim Schwimmen waren. Papa schien sie seltsamerweise nicht zu bemerken. Oder er tat bloß so. Aber ihm war ja nicht einmal aufgefallen, daß Mami nur noch Haut und Knochen war. Und daß sie kaum noch schlief.

»Machst du mir den schönen Flechtzopf?« bettelte Fanny. »Bitte!« Sie liebte es, wenn Mamis geschickte Finger durch ihre Haare glitten.

»Dafür ist es doch schon viel zu spät!« Sie bekam statt dessen zwei kunstlose Rattenschwänze verpaßt. Und einen kleinen, ungeduldigen Kuß. »Und was ist heute bei dir in der Schule los? Eine Probe vielleicht? Hast du wenigstens alle Hausaufgaben fertig? Ich sollte mir endlich wieder einmal deine Hefte ansehen. Am Wochenende, ja? Wenn ich ein bißchen mehr Luft habe.«

Fannys Herz krampfte sich zusammen, und ihr wurde leicht übel. Sie haßte es, Mami ins Gesicht zu lügen. Direkte Lügen, das wußte sie genau, fielen auf einen zurück: Plötzlich hatte man den Kopf in der Schlinge und verfing sich rettungslos. Wenn sie Mami jedoch andererseits jetzt etwas über das anstehende Diktat verriet, würde sie spätestens heute mittag bekennen müssen, wie es ihr dabei ergangen war. Und sie hatte ja noch nicht einmal das Problem mit der Rechenprobe gelöst. Unwillkürlich fiel ihr die Katze in der Speisekammer ein. Und natürlich der Lockenmann.

Mami sagte auch nicht alles! Das half nicht viel, aber ein bißchen doch.

»Och, nichts besonderes«, brachte sie erstaunlich fröhlich hervor. »Sachkunde. Turnen. Religion. Und die Aufgaben sind alle gemacht. Wahrscheinlich sehen wir sogar noch einen Film. Aber nur, wenn wir keinen Unsinn anstellen, hat Frau Hofmann gesagt. Sonst wird nichts daraus.«

»So schön wie du möchte ich es auch noch einmal haben.« Mami seufzte. »Sei bloß froh, daß du noch ein Kind bist und gar nicht weißt, was Sorgen sind! Ich dagegen habe nicht die geringste Ahnung, wie ich das heute alles auf die Reihe kriegen soll!« Sie strich ihr den Pony aus der Stirn. Fanny hätte stundenlang so stehenbleiben können, ganz nah bei ihr. »Und jetzt runter mit dir, aber schnell! Nimm vor allem deine Schulsachen gleich mit, damit es hinterher nicht wieder so eine Hetze gibt. Ich will, daß du wenigstens halbwegs in Ruhe frühstückst.«

Frühstück! Das war in Fannys Vorstellung heiße Schokolade mit Sahne, wachsweich gekochte Eier, knusprige Croissants, gefüllt mit Marzipan oder Schinken, Saft, soviel man wollte, und Nutellabrote, dick beschmiert, daß man sie fast schon mit Messer und Gabel essen mußte – kein dünner, grünlicher Bananen-Kiwi-Apfelbrei, zu dem sie auch noch Kräutertee trinken sollte!

Aber sie kannte diesen entschlossenen Ausdruck um Mamis Mund, wenn die Grübchen zu strengen Falten wurden. Deshalb hütete sie sich wohlweislich, ihre Meinung ausgerechnet jetzt kund zu tun, packte ihren Ranzen und den Turnbeutel und tat ausnahmsweise ganz gehorsam, was ihr soeben aufgetragen worden war.

Sie waren schon beinahe mit dem Essen fertig, als es zweimal kurz hintereinander klingelte. Til ging aufmachen. Als erstes stürmte Maxie in die Küche, wie immer beladen mit Einkaufstüten, aus denen Geflügel, Käse und Gemüse quollen. Unter ihre molligen Arme hatte sie stangenweise Baguette geklemmt. Ofenwarm! Der frische Brotgeruch erfüllte den Raum, und Fanny mußte mehrmals voller Begierde schlucken. Sie schob ihr Schüsselchen mit dem Rest Obstbrei so unauffällig wie möglich beiseite.

Maxie war dick und eigentlich immer gut gelaunt. Sie hatte zerzauste, dunkelblonde Haare, einen Kußmund, grüne Augen und eine Vorliebe für knallbunte Blumenkleider. Außerdem waren da die strahlenden Leuchtfäden, die von ihrem voluminösen Körper wie Antennen in alle Richtungen ausgingen, bei weitem die stabilsten, die Fanny jemals gesehen hatte! Mamis waren zart und schimmerten silbrig wie bei einer Mondfee; Maxies dagegen von einem so intensiven Gold, daß man fast auf die Idee verfallen konnte, ihr ganz nah zu kommen, nur, um sich ein bißchen an ihnen zu wärmen.

»Was für ein Morgen!« prustete sie lachend und wie meistens außer Atem. Sie schwitzte ein bißchen, aber zusammen mit ihrem Rosenparfum roch sie frisch und saftig. »Ich bin auf gut Glück schon mal bei dem neuen französischen Bäcker vorbeigefahren. Und was soll ich euch sagen? Sein Blätterteig ist zum Verlieben, die Apfeltarte eine Offenbarung und das Weißbrot … na ja, ihr riecht ja selbst! Der Kerl versteht offenbar etwas von seinem Handwerk. Einfach for-mi-dab-le!«

»Wir waren doch erst gegen elf verabredet«, sagte Mami etwas säuerlich. »Paßt mir gar nicht so früh. Ich hab zuvor noch eine Menge zu erledigen!«

»Kann ich dir nicht etwas abnehmen, Kind?« Das kam von Großmama Ilona, die unauffällig in Maxies Windschatten hereingestöckelt war. Sie schwankte ein wenig in ihren zu hohen, schiefgelaufenen Riemchensandalen. »Ich war ohnehin gerade in der Gegend, und da dachte ich, ich könnte gleich mal …«

Mit den graumelierten Haaren, dem kantigen Profil und der Bronzehaut erinnerte sie Fanny an eine Indianerin. Eigentlich hätte sie in einem Zelt leben sollen, Mokassins tragen, Lederkleider mit Federn und bunten Perlenketten und nicht diese komischen, engen Kostüme, die alle schon ein bißchen oll und verblichen aussahen.

»Und du auch noch! Ist hier vielleicht irgendwo ein Nest oder so?« Mami sprang wie elektrisiert auf. »Habt ihr euch verabredet, um mich noch vor neun gemeinschaftlich zu schaffen?«

»Einen Moment Ruhe mal!« Das war Papa. Wie ein Dirigent sein Orchester, brachte er mit einer ungeduldigen Handbewegung alle im Zimmer zum Schweigen. »Was hat dieses merkwürdige Quäken zu bedeuten? Ich höre es schon die ganze Zeit. Ihr etwa nicht? Und jetzt weiß ich auch, wo es herkommt.« Er stand auf, und war, bevor es noch jemand verhindern konnte, schon an der Speisekammer. Er schaute hinein. Wich zurück. Sein Blick bekam etwas Starres. »Kann mir bitte mal jemand verraten, was das hier drin sein soll?«

»Eine Katze«, sagte Fanny bescheiden, froh, daß ausgerechnet einmal sie am besten Bescheid wußte. Keine einfache Leistung bei einem Papa, der sich halb unter Büchern begrub, einer Mami, die vergeblich von einer Tochter mit graziler Haltung und Spitzennoten träumte, und einem superschlauen Bruder, der jedes noch so schwierige Wort buchstabieren konnte! »Und ich glaube, sie ist ziemlich krank.«

Papa öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Er bekam keinen Ton heraus, wirklich eine Seltenheit bei ihm.

»Das ist Moon«, sagte Mami sehr ruhig. »Und sie gehört mir.« Die Schramme auf ihrer Haut war dunkelrot geworden und schien beinahe zu glühen.

»Und seit wann, wenn ich fragen darf?« Papa schien mit einiger Mühe seine Sprache wiedergefunden zu haben. »Das ist doch nicht dein Ernst, Evelyn! Hast du schon vergessen, was wir erst neulich vereinbart hatten?« Er lächelte zynisch. »Es sei denn, du willst hier auch noch eine Art Tierasyl aufmachen?«

»Seit heute nacht. Und ich habe nicht vor, mich daran zu halten.« Evelyns Stimme klang scharf. »Falls das deine Frage beantwortet.«

»Sie sieht ziemlich fertig aus«, sagte Maxie vorsichtig. »Wahrscheinlich ist sie schon vor längerem weggelaufen und findet nicht mehr nach Hause. Meinst du nicht, sie wird vermißt? Die meisten Menschen hängen doch ungeheuer an ihren Haustieren!«

»Aber doch nicht an derartigen Vogelscheuchen!« schimpfte Papa. »Und dann auch noch ausgerechnet ›Moon‹ – überspannter wäre es wohl nicht mehr gegangen. Ist ja beinahe schon wieder zum Totlachen!«

Til schüttelte den Kopf und hielt sich klugerweise raus, wie meistens, wenn die anderen in der Familie stritten.

»Niemand möchte in einem Haus aus- und eingehen, das nach Katze stinkt«, lautete Großmama Ilonas Kommentar. »Das weiß ich genau. Und irgendwie riechen sie doch immer. Egal, was du anstellst. Wo du doch außerdem jetzt ständig mit Lebensmitteln zu tun hast, Evelyn! Du darfst auch den hygienischen Gesichtspunkt nicht ganz außer acht lassen. Sonst gefährdest du noch ganz unnötigerweise deine Existenzgrundlage.«

»Das laßt mal alles meine Sorge sein, ja?« Zornig drehte sich Mami um. »Bislang ging es doch immer nur um euch: Ilona, du hattest jahrelang deinen rachitischen Dackel Ferdinand, den du ständig bei uns abgeladen hast, Christoph mußte sich irgendwann unbedingt eine Schildkröte einbilden, dann Til einen ganzen Stall voller süßer, kleiner Kaninchen, die sich wie verrückt vermehrt haben, und schließlich Fanny ein Meerschweinchen, an dem sie allerdings schon in der zweiten Woche jegliches Interesse verloren hatte. Das sind die Fakten. Und an wem ist letztendlich alles hängengeblieben?«

»Eben«, sagte Papa, und sein Mund wurde ganz schmal dabei. »Darum geht es mir ja. Du hast wahrlich schon genug am Hals mit dem ganzen Haus. Und deiner aufwendigen Kocherei.«

»Partyservice«, korrigierte Maxie leicht süffisant. Aber sie bekam diesen seltsamen, ganz speziellen Blick dabei, wie meistens, wenn sie mit Papa redete. »Und das inzwischen ziemlich professionell, lieber Christoph, wenn man unseren zufriedenen Kunden glauben darf. Der Umsatz jedenfalls steigt konstant.«

»Ach, auf einmal?« Mami schien gar nicht zu hören, was ihre Freundin gesagt hatte, sondern nur auf das passende Stichwort gewartet zu haben, um Papa anzufahren. »Und wenn schon! Wie ich das hinkriege, ist immer noch ganz und gar meine Angelegenheit«, sagte sie bissig. »Keine Bange, du brauchst auch künftig nicht für mich die Häppchen zu arrangieren. Kümmere du dich lieber darum, daß dein Laden anständig läuft!«

»Ich mag deinen Ton nicht.«

Papas Miene hatte sich verhärtet, aber Fanny sah genau, daß er sich eigentlich nur elend fühlte. Jetzt fand er wieder einmal nicht das richtige Wort, um die Stimmung zu seinen Gunsten umschlagen zu lassen. Sie litt mit ihm, aber sie konnte ihm trotzdem nicht helfen.

»Und ich habe deine ständigen Bevormundungen satt. Satt, Christoph, stell dir vor, bis hier!« Mami lachte. Aber es klang schrill und häßlich. »Kein Wort mehr über Moon, ja? Denn jetzt bin ich einmal dran! Und dieses Mal wird ganz ausnahmsweise in dieser Familie gemacht, was ich möchte. Die Katze bleibt. Mein letztes Wort.« Sie bückte sich, berührte sanft Moons stumpfes Fell. »Außerdem weiß ich selbst, daß es ihr nicht gut geht. Ich bin ja schließlich nicht blind. Aber dagegen gibt es glücklicherweise Medikamente. Und ausgebildete Fachleute.« Ihre Stimme wurde ganz sanft. »Wir gehen gleich zum Tierarzt, meine Kleine! Und der hilft dir, wirst schon sehen.«

Die Katze hob wie zur Zustimmung millimeterweise ihren Kopf. Helle, schmierige Flüssigkeit floß ihr aus dem Mäulchen. Kraftlos sackte er auf das Handtuch zurück. Ihr Atem schien schwächer zu werden.

»Gib dich bloß keinen Illusionen hin!« warnte Großmama Ilona. »Die stirbt dir doch unter den Händen weg. Noch bevor du dich richtig versiehst.«

»Das wird sie nicht!« zischte Mami zurück. »Moon stirbt mir keineswegs weg.« Sie richtete sich auf. Sie war keine große Frau, konnte aber sehr groß wirken, wenn sie es darauf anlegte. Und genau das tat sie jetzt. Ihre Augen glühten. Großmama wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück und zog den Kopf ein.

»Du wolltest mir etwas abnehmen, Ilona? Aber herzlich gerne! Dann mach doch bitte du mal ausnahmsweise das Pausebrot für Fanny. Zwei Scheiben Pumpernickel mit fettarmem Käse. Keine Butter, sondern frische Gurkenscheibchen drauf. Und zwei Birnen. Ach ja, Til braucht auch noch zwanzig Mark für die Theatergruppe. Kriegst du später von mir wieder. Anschließend kannst du den Tisch abräumen, die Spülmaschine beladen – halt! Muß zuvor leider auch noch geleert werden.« Ein kurzer, boshafter Blick zu Papa. »Falls dein Sohn das nicht bereits erledigt hat. Aber ich fürchte, dem ist leider nicht so. Und dann kannst du eigentlich gleich Maxie beim Dressingrühren zur Hand gehen. Oder die Salate waschen? Es sei denn, du magst lieber fünf Dutzend verschiedener Kanapees herrichten? Vielleicht aber fangt ihr beide auf alle Fälle schon mal mit der Vorbereitung für die Desserts an? Crème Brulée, Cassissorbet, Obstsalat, Crêpes mit Schoko-Nuß-Füllung – war sonst noch was?« Sie klang beinahe zufrieden. »Nein, ich denke, das ist alles. Fürs erste zumindest.«

»Und du?« fragte Großmama schwächlich. »Was ist mir dir?«

»Oh, ich denke, ich bin spätestens gegen elf wieder da!« Mami drehte sich um und nickte Fanny energisch zu. »Falls mir nichts dazwischenkommt.«

So wollte sie auch werden, wenn sie erst einmal groß war – stolz, mutig und schön! Mamis Wangen waren gerötet, und sie sah mehr denn je wie Schneewittchen aus, das der bösen Stiefmutter ordentlich Bescheid sagt. Was hätte sie jetzt darum gegeben, so schnell wie möglich ihre Lügenlast loszuwerden! Fanny schluckte. Tapfer öffnete sie schon den Mund, aber es war ihr doch zu peinlich.

Sollte sie wirklich? Jetzt? Hier? Vor allen anderen?

Sie hatte zu lange gewartet! Mami kniete schon wieder neben der Katze, als ob sie das Wichtigste auf der Welt sei, und schaute Fanny nicht einmal an.

»Ich geh dann. Tschüs«, sagte Fanny leise.

Keinen schien es zu kümmern. Til kramte in seiner Tasche, Papa starrte aus dem Fenster, und Großmama Ilona betupfte sich gekränkt mit ihrem süßlichen Duftwasser.

Fanny lud sich ihren roten Ranzen auf, nahm Turnbeutel und Pausensäckchen und stapfte zur Tür. So traurig hatte sie sich noch nie gefühlt. Das war sogar noch schlimmer als Diktat! Früher hatte Mami sie manchmal Sternchen genannt. Weil sie nämlich nicht nur Franziska hieß und Leonie. Sondern auch noch Stella. Aber ganz offensichtlich hatte es sich ausgesternchet – ein für alle Mal! Es war ja nicht allein beim Lockenmann geblieben, der sich so hinterlistig in Mamis Herz eingeschlichen hatte. Nun gab es zu allem Unglück auch noch diese verflixte Moon-Katze! Und sie war Mami eindeutig wichtig, viel wichtiger jedenfalls, als ihre kleine Tochter mit all ihren Sorgen und Nöten, an denen sie beinahe erstickte.

Nur nicht heulen, sagte sie sich auf dem ganzen Schulweg immer wieder vor, bloß nicht heulen, sonst ist alles aus und vorbei! Keiner kann eine Heulsuse leiden. Tilman nicht. Papa nicht. Und Mami erst recht nicht.

Aber natürlich flennte sie längst.

Eine Katze namens Moon

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