Читать книгу Eine Katze namens Moon - Brigitte Riebe - Страница 7
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Christoph Hirsch fuhr Rad, und wie immer, wenn er sich ärgerte, viel zu schnell. Die Hand an der Klingel, trat er die ganze Leopoldstraße lang verbissen in die Pedale, als gelte es, Heerscharen imaginärer Feinde abzuhängen. Mit einem gefährlichen Schlenkmanöver bog er schließlich ohne Handzeichen rechts ab, so knapp vor einem schneidigen schwarzen Golf, daß dessen Fahrer lauthals hinter ihm herfluchte.
Groll im Herzen und Wut in den Beinen! Er haßte Morgen wie diese, wenn es Streit am Frühstückstisch gab, die ganze Welt auf einmal aus dem Ruder lief und er ohne jede Vorwarnung mit komplizierten innerhäuslichen Problemen konfrontiert war. Als ob er nicht schon genug eigene gehabt hätte! Für einen Moment sah er Fannys trauriges Gesicht vor sich, bevor sie in die Schule gegangen war, aber er vertrieb das Bild schnell wieder. Trotzdem hielt sich ein schales, unerfreuliches Gefühl. Ihre Tolpatschigkeit rührte ihn, aber im Gegensatz zu ihrem großen Bruder, der auf alles und jedes freche Widerworte parat hatte, war die Kleine einfach zu sensibel! Eine bedauerliche Tatsache, zweifelsfrei der Grund für ihre mangelhaften schulischen Leistungen: Fannys Leseschwäche und ihre fast schon notorische Unsicherheit im Rechnen. Dazu war sie hypernervös. Und leider auch ziemlich unkonzentriert, so jedenfalls seine persönliche Überzeugung. An mangelnder Intelligenz konnte es schließlich nicht liegen, nicht bei seiner Tochter Franziska Stella Leonie, die schon mit vierzehn Monaten die ersten Worte geplappert hatte!
Er war am Elisabethmarkt angekommen und überlegte kurz, ob er bei Silos, der dort den spanischen Imbißstand bewirtschaftete, auf einen Milchkaffee einkehren sollte. Der melancholische Galizier, der beim Zuhören seinen Tresen so sorgfältig wie ein Juwel polierte, einen riesigen schwarzen Schnauzer trug und phantastische Tapas zubereiten konnte, war in den letzten Jahren fast so etwas wie ein schweigsamer Freund für ihn geworden. Noch unentschlossen, hatte Christoph Hirsch sein Tempo merklich reduziert. Was eine dicke, weiße Katze mit schwarzen Ohren sofort ausnützte.
Sie lief über die Straße und kreuzte knapp seinen Weg. Christoph mußte so scharf bremsen, daß er beinahe mit dem sportlich vorgebeugten Oberkörper auf das Lenkrad geprallt wäre.
»Mistvieh, verdammtes!« rief er ihr hinterher und meinte ebenso sie wie die unerfreuliche Überraschung in seiner Speisekammer heute morgen. Die Katze blieb auf dem sicheren Gehsteig der anderen Seite sitzen und wusch ganz beiläufig ihr linkes Auge. Dann trabte sie elegant weiter und verschwand in Richtung der Fischstände.
Die Lust auf den Kaffee jedenfalls war ihm vergangen. Aber das hatte, wenn er ganz ehrlich war, bereits Evelyn mit ihrer morgendlichen Provokation besorgt. Ihm einfach so ein zugelaufenes Vieh unterzuschieben – entgegen aller Abmachungen! Wollte sie sich denn an gar nichts mehr halten und nur noch ihren eigenen Kopf durchsetzen? Mißmutig drehte er sich noch einmal um. Aber alles, was er sah, war ein weißer Schwanz, der sich anmutig zwischen zwei leeren Kisten schlängelte.
»Wahrscheinlich heißt diese häßliche Kreatur auch noch Star«, schimpfte er halblaut vor sich hin, »beziehungsweise Madame Pompadour, Prinzessin Rosalie oder Kleopatra! Je häßlicher, je doller!« Er fand Leute unerträglich, die glaubten, ihre simplen Haustiere derart hochstilisieren zu müssen. Hunde waren eben Hunde. Punktum. Kein bißchen mehr! Und gleiches galt erst recht für Katzen.
Eine Katze ist eine Katze ist eine Katze …
Wieso nur ging ihm selbst beim zügigen Weiterradeln diese blöde Analogie nicht mehr aus dem Sinn?
Eindeutig Evelyns Schuld, dachte er grimmig, als er vor seinem Antiquariat angekommen war und das Rad an das Verkehrsschild kettete. Evelyn mit ihrem Lyriktick, mit dem sie mich früher immer gequält hat, beinahe, als sei sie die Literaturspezialistin und nicht ich der Büchermann! Die schmalen Bände neben ihrem Bett, in der Küche, im Badezimmer. Sogar im Waschkeller. Überall im Haus war man über sie gestolpert. Ständig hatte sie aus einem von ihnen rezitiert, so gut wie immer ihr augenblickliches Lieblingsexemplar mit sich herumgetragen. Irgendwann einmal hatte sie plötzlich damit aufgehört. Wenn er sich recht erinnerte, mußte es nach Fannys Geburt gewesen sein. Oder kurz davor? Jedenfalls führten die Bücher seitdem ein ungeliebtes Schattendasein in den vielen Regalen, die überall bei ihnen im Haus herumstanden, und wurden höchstens bei ganz besonderen Gelegenheiten erlöst.
Im Laden roch es. Definitiv. Was sollte er dagegen machen? Früher hatten alte Bücher eine unstillbare Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Er hatte ihren schimmeligen Geruch eingesogen wie andere Leute Parfum, entzückt, wenn er Besonderheiten wie intakte Fadenheftung oder ein ausgefallenes Exlibris entdeckte. Aber seine Einstellung hatte sich grundlegend geändert. Was ihn einst angezogen und begeistert hatte – Frontispize, Ledereinbände, seidenmatte Dünndrucke, Stockflecken auf dem Vorsatzpapier, Schimmelreiter auf abgegriffenen Buchrücken –, widerte ihn heute beinahe an. Doch er war gefangen; es gab kein Entkommen. Jetzt weniger denn je.
Christoph Hirsch hatte das Geschäft von Rudolf Auerbach übernommen, den er Onkel nannte, ein früherer Geliebter seiner Mutter, wie er überzeugt war, auch wenn Ilona dies bis heute mit aller Vehemenz bestritt. Ein guter Freund, nichts weiter. Er haßte es, wenn sie diesen aufgeregten, puterroten Hals bekam. Geld jedenfalls war äußerst knapp gewesen in seiner Kindheit und Jugend; Bücher nicht. Rudolf Auerbach war eine zuverlässige, niemals versiegende Quelle, Ilona die perfekte Kupplerin und der kleine Christoph der ideale Konsument. Schon als Heranwachsender hatte er viele Stunden hier verbracht, schmökernd, in der Höhle, wie er das Antiquariat damals heimlich genannt hatte, zwischen leicht abgegriffenen Kunstbänden, labberigen Krimis und Jugendromanen, in denen er immer wieder Kinobillets, Liebesbriefe oder Einkaufslisten als zweckentfremdete Lesezeichen entdeckte. Später dann, als Student, war ihm der Laden eher vorgekommen wie ein Ort außerhalb der Welt, eine Zuflucht, in der die Zeit stehenzubleiben schien. Nicht einmal Onkel Rudolf wurde älter. Zumindest kam es ihm so vor.
In Wirklichkeit alterte Auerbach, der Mann, der Bücher noch mehr als Frauen liebte, sehr wohl, wurde weißer, kleiner, klappriger. Als er schließlich so gebückt war, daß er kaum noch an die oberen Regale reichen konnte, fragte er Christoph zum erstenmal vorsichtig, hüstelnd und blinzelnd, wie es seine Art war, wenn er sich nicht ganz sicher fühlte, ob er sich unter Umständen vorstellen könnte, sein Nachfolger zu werden. Da war Christophs einst so hoffnungsfroh aufgenommenes Germanistikstudium in Wahrheit bereits ohne Abschluß im Sand verlaufen, sein anfänglich vielversprechendes Volontariat im Rundfunk an ideologischen Meinungsverschiedenheiten gescheitert, und Tilman gerade geboren. Raten waren zu zahlen, Reparaturen für Pias Haus standen an. An Luxus wie neue Möbel oder gar Urlaub gar nicht zu denken!
Christoph lehnte trotzdem dankend ab und versuchte in der Folgezeit durch diverse, rasch aufeinander folgende Jobs seine neugegründete junge Familie über Wasser zu halten. Mit allerdings mäßigem Erfolg.
Zwei weitere Jahre vergingen, bis er sich anders besann und notgedrungen doch akzeptierte. Diesmal gab es kein langes Überlegen. Rudolf war von der Leiter gefallen und lag monatelang mit einem komplizierten Oberschenkelhalsbruch in der Klinik, von dem er sich niemals auch nur annähernd wieder erholte. Einmal nur ließ er sich von zwei Zivildienstleistenden zurück in sein früheres Reich tragen, saß dort eine halbe Stunde ein wenig schief in seinem alten, dunkelgrünen Ledersessel und beriet so heiter und geduldig wie eh und je eine unschlüssige Ehefrau bei der passenden Geburtstagslektüre für ihren Gatten. Der besaß ein Faible für seltene Unterwasseraufnahmen, Kakteen und die Fauna Mittelamerikas. Schließlich zog sie von dannen mit einem Stapel Romane, zwei alten, kostbaren Atlanten und ein paar aufwendig illustrierten Tierbüchern, erschöpft, aber tief befriedigt, und versprach, bald wieder reinzuschauen. Außerdem hatte sie ordentlich Geld dagelassen. Christoph, der wie ein Lehrbub daneben stand und die Szene beobachtete, fühlte sich unfähiger als jemals zuvor in seinem Leben.
Wieso fielen ihm diese alten Geschichten ausgerechnet heute ein? Vermutlich, weil der Tag so schief begonnen hatte! Diese komische schwarzrote Katze mit dem überkandidelten Namen hatte nicht nur seine Familie gründlich durcheinandergebracht, sondern auch seine Seele.
Brummend ging Christoph nach hinten, in die winzige Teeküche, und setzte Wasser auf. Vielleicht würde ein Rosenblättertee helfen, die Gespenster der Vergangenheit zu vertreiben. Anschließend könnte er Regale abstauben. Oder sich der dringend anstehenden Neugestaltung der Schaufenster widmen. An regen Publikumsverkehr war zu dieser frühen Stunde ohnehin nicht zu denken. Falls überhaupt jemand kam. letzt, wo es seit einigen Wochen so sonnig und warm geworden war, zog es die Leute an andere Orte als in schummrige Läden, in denen Bücher aus zweiter Hand verkauft wurden. Zumindest sagte er sich das vor, wenn er abends Kasse machte, und gerade mal zweihundert Mark eingenommen hatte.
Der Kessel pfiff, er schwenkte Rudolfs alte Silberkanne sorgfältig mit heißem Wasser aus, goß es ab und ließ den frischen Strahl jetzt über die braunen Teeblätter rinnen. Dann stellte er die abgegriffene Eieruhr auf drei Minuten.
Der Tee war so, wie er ihn am liebsten hatte: kräftig, aromatisch, aber nicht zu stark. Früher hatte er dazu sehr gem ein Stück von Evelyns saftigem Nußzopf gegessen. Oder ihre sagenhaften Windbeutel, dick gefüllt mit Erdbeersahne. Aber seitdem sie mit Maxie ihre Partyküche betrieb und in ständiger Hektik war, blieb scheinbar keine Zeit mehr, auch noch für die Familie zu backen.
Ob er sie schnell mal anrufen sollte? Ein paar nette Worte sagen und diesen lächerlichen Streit einfach beenden?
Christoph ging nach vom in den Laden und hatte schon die Hand am Hörer. Plötzlich überfiel ihn Mutlosigkeit. Manchmal fühlte er sich in seiner eigenen Buchhandlung wie in einem Gefängnis, verdammt, hier auszuharren bis zum Ende seines Lebens. Bis er selbst von Spinnweben bedeckt sein und langsam, aber unaufhaltsam zu feinem grauen Staub zerfallen würde.
Er legte wieder auf, ohne gewählt zu haben. Sein unschlüssiges Lächeln war erloschen. Sicherlich war Evelyn noch immer beim Tierarzt, um dieses räudige Vieh kurieren zu lassen, das ihr auf einmal das Wichtigste auf der Welt zu sein schien. Oder sie gondelte schon wieder auf einer ihrer unzähligen Besorgungsfahrten umher, die sie kreuz und quer durch die ganze Stadt führten – und immer weiter weg von ihm. Etwas war geschehen, das fühlte er, aber er grübelte seit längerem vergeblich darüber nach, was es sein konnte. Lag es daran, daß sie jetzt mit ihrem Partyservice die Familie unterhielt, während seine Einnahmen immer drastischer sanken? Stand das Geld zwischen ihnen? Oder war es die mangelnde Sicherheit, unter der sie litt?
Früher jedenfalls war Evelyn weich gewesen, meistens gutgelaunt, und trotz aller Sorgen mitreißend optimistisch. Das jedoch war lange vorbei. Schön war sie noch immer, ja vielleicht gerade in letzter Zeit auf merkwürdig beunruhigende Weise attraktiver denn je. Aber sie kam ihm hart und abweisend vor, wie eine zu straff gespannte Sehne, ständig unter innerem Druck. Manchmal hatte er das sichere Gefühl, daß sie auf der Flucht war. Vor ihm. Sogar vor den Kindern. Vor allem aber vor einem Leben, das sie früher geliebt hatte, jetzt aber auf einmal nur noch mit zusammengebissenen Zähnen zu ertragen schien.
Dabei ging es ihm ganz ähnlich. Wenngleich auch aus sicherlich unterschiedlichen Gründen. Sein Herz wurde schwer, wenn er an die Lügenlast dachte, unter der er seit Monaten ächzte. Die Schlinge zog sich langsam zu, wurde unbarmherzig enger und enger. Aus Langeweile, Dummheit, Gier und schon fast unverzeihlicher Naivität war er in eine Falle getappt. Die Frage war nur, wann sie endgültig zuschnappte.
Lange jedenfalls, das wußte Christoph genau, würde es nicht mehr dauern.
Was hätte er darum gegeben, Evelyn sein Mißgeschick zu erzählen, ihre vernünftige, warme Stimme zu hören, die ihn mehr als alles andere beruhigte. Oder ihr ansteckendes Lachen, das auch die schwierigsten Probleme lösbar erscheinen ließ! Hatten sie nicht in der Vergangenheit auch immer alles gemeinsam bewältigt? Wieso nur besaß er jetzt nicht den Mut, reinen Tisch zu machen?
Seine Miene verdüsterte sich. Fakt war, er konnte es nicht. Nicht nach allem, was schon passiert war. Dabei stand ihm das Wasser bis zum Hals. Ein unvorsichtiger Schritt, eine einzige falsche Bewegung, und er würde rettungslos ertrinken.
Er wußte keine Lösung. Er mußte versuchen, sich auf winzig kleine Teilziele zu konzentrieren. Einen Tag überleben. Den nächsten. Und den darauf.
Seufzend stellte er seine Tasse zur Seite und machte sich an die Arbeit.
Als eine halbe Stunde später die Tür aufging, und die alte Glocke leicht rostig anschlug, schielte er von seiner Leiter nach unten. Ein mittelgroßer Mann stand im Laden, schmal, so mager, daß er auf den ersten Blick fast unterernährt wirkte. Seine Haltung war tadellos. Er trug eine blaue Leinenjacke, eine elegante weiße Hose.
Ein auffallender, nicht unbedingt sympathischer Typ. Hellblonde, beinahe weißliche Haare. Adlernase. Breites Lächeln. Und ein Gletscherblick, der es Lügen strafte.
»Hallo, Hirsch«, sagte er gedehnt. »Man hört ja gar nichts mehr von dir in letzter Zeit.« Christophs Kehle wurde eng. Er hielt sich am Regal fest. »Da dachte ich, schau doch mal wieder bei ihm vorbei. Der Berg und der Prophet – aber wem sag’ ich das, einem gebildeten Menschen wie dir!« Seine Augen verengten sich. »Weitergekommen mit deinem Problem?«
Christoph schüttelte den Kopf. »Ich brauche noch ein bißchen Zeit«, sagte er leise.
»Dachte ich mir schon! Deshalb hab ich ganz zufällig eine tolle Idee mitgebracht. Wirst sehen, du bist aus dem Schneider, Hirsch – eins, zwei, drei!«
Christophs Schwindelgefühl verstärkte sich. Er versuchte, so stur wie möglich geradeaus zu schauen. Sich nur nichts anmerken lassen!
Aber in seinem Inneren purzelte alles in wildem Aufruhr durcheinander. Denn Gregor von Hatting, der üblere seiner beiden Peiniger, rüstete sich soeben grinsend zur nächsten Attacke.