Читать книгу Geschichten aus dem Schwemmsandland - Brigitte Schubert - Страница 10

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Die kleine Omi

Es kam, wie es kommen musste. Das Rädergeratter begann erneut, um geräuschvoll die Fahrgäste durch die Gegend zu befördern und an ihr Ziel zu bringen.

Finn erging es gerade nicht besonders gut. Er war recht blass um die Nasenspitze geworden. Flogen doch eben an seiner Fensterscheibe Bäume und übermannshohe Häuser vorbei. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er staunte Bauklötze. Wie konnte das alles geschehen? Die Fußwege entschwanden ins Nichts und tauchten an anderer Stelle wieder auf. Die Schnecke kroch unter dunklen Brücken hindurch, um Sekunden später wieder ins Tageslicht zu tauchen.

Luisa schaute Finn an. Finn schaute Luisa an. Ihm war schlecht, grottenschlecht. Eine Fahrt in der elektrischen Schlenkerrennschnecke hatte er wirklich noch nie erlebt oder von einem anderen Troll eine Geschichte darüber gehört. Erst recht verstand er es nicht, wie sich eine kleine Omi auf den Beinen halten konnte und dazu noch freundlich schaute. Luisa beäugte Finn immer noch. Sie war sich sicher, er würde die Fahrt gut überstehen.

Luisa schaute wieder zur kleinen Omi hinüber. Was für ein Ziel mochte sie haben? Sie trug eine voll bepackte Tasche bei sich. Luisa schaute noch einmal ganz genau hin. Die Tasche war sicher schwer. Ob sie im nahegelegenen Einkaufszentrum Geld ausgegeben hatte? Was mochte eine Omi alles einkaufen? Brot, Butter, Wurst? Davon würde die Tasche nicht annähernd so randvoll werden.

Luisa konnte das Geheimnis nicht lüften. Stattdessen stand sie auf und bot der kleinen Omi, die aus einem Bilderbuch entlaufen sein könnte, ihren Sitzplatz an. Die Omi lächelte wieder. „Dankeschön, mein Kind. Es ist nett von dir, aber ich kann stehen bleiben. Ich steige gleich wieder aus. Ich fahre nur noch 15 Haltestellen. Du kannst dich gerne wieder zu deinem Freund setzen.“

Rums, die Rennschnecke hielt wieder und beinahe wären alle durcheinander gefallen. Nur die Omi blieb standhaft.

„Setzen Sie sich doch. Ich bin extra für Sie aufgestanden.“

„Das ist schon in Ordnung, mein Kind. Ich bin zwar eine Omi, aber immer noch fit. Ich bin schon ganz aufgeregt. Mein Bekannter vom Seniorentanz wartet auf mich.“

Luisa verschlug es die Sprache. Eine Omi, die zum Seniorentanz ging, fand sie cool. In ihrer Tasche hatte sie bestimmt ein sehr schönes Tanzkleid.

Rums, die elektrische Rennschnecke hielt schon wieder. Die Türen sprangen auf und diesmal wurden mehr Leute ausgespuckt, als einsteigen wollten. Ein Sitzplatz neben Luisa und Finn war frei geworden. Nun platzierte sich die kleine Omi doch neben den beiden und sie kamen schnell ins Plaudern. Sie erzählte, dass sie schon 35 Jahre in Grünau wohnte und sich hier prima auskannte. „Macht ihr einen Ausflug und wollt zum Rodelberg?“

„Was sollen wir mitten im Sommer auf einen Rodelberg?“

„Nun, auf dem Rodelberg könnt ihr Pause machen. Da steht ein großes Holzbett. Macht es euch dort gemütlich und schaut über den Kulkwitzer See weit hinüber bis ans andere Ende der Welt. Einmal im Jahr gibt es dort auch ein Rodelbergpicknick, da sind immer viele Leute dabei. Lustig geht es zu und es wird getanzt.“

„Immer im Kreis?“, fragte Finn. Er fand die Dreherei blöd und mochte es nicht ausprobieren.

„Ganz von selbst lernt ihr auch, welche Pflanzen und Früchte vor unserer Haustüre wachsen und gegessen werden können. Und grüßt Frieda von mir!“, plauderte die Omi.

„Wir wollen aber zum See.“

Finn nickte Luisa eifrig zu und sprach noch schnell: „Das Kraut der Bescheidenheit suchen.“

Die Omi wunderte sich über den seltsamen Grund für den Ausflug, gab den beiden dennoch einen wichtigen Tipp. „Am Zschampert, dem größten Fluss durch Grünau, könntet ihr es finden. Meine ich jedenfalls. Also, wenn ich ihr wäre, dann würde ich dort suchen. Oder, nein – halt, in den Schönauer Lachen wäre es vielleicht noch besser. Wie soll es denn aussehen?“

„Das wissen wir selber nicht!“, gab Luisa der redseligen Omi zu verstehen.

„Na, dann lauft doch lieber zu einem von den schönen Spielplätzen hinüber und tobt euch dort aus.“

Nein, gerade das wollten sie nicht. Finn wollte immer noch in den Kreis der erwachsenen Trolle aufgenommen werden und nur das war wichtig für ihn. Er brauchte unbedingt dieses mysteriöse Kraut, das keiner kannte. Unterdessen war die Rennschnecke in ihrem Gleisbett weiter gerutscht und wieder an einer Haltestelle angekommen. Die Omi entwischte zur Tür hinaus und winkte von draußen den beiden nochmals zu. Beim Aufstehen vom Sitzplatz war ihr ein kleines Faltblatt aus der Tasche gefallen. Grünauer Kultursommer. Ob wir da die kleine, nette Omi beim Sommertanzfest wiedertreffen?

Und abermals kam eine Haltestelle. Rums, die Tür ging auf. Erneut gab es Stau beim Ein- und Aussteigen. Die Leute von draußen drängelten. Sie hatten es eilig und einige wollten einen begehrten Sitzplatz ergattern. In der Bahn gab es gleich ein Durcheinander. Ein Rucksack drückte sich in die Vorderfront eines dicken Mannes. Handtaschen piksten mit ihren Ecken in die Waden einer Frau. Die Leute drinnen schoben zum Ausgang. Es war wie so oft, wenn die Rennschneckenstraßenbahn voller Fahrgäste ist. Die elektrische Rennschnecke ruckte wieder an.

Ein schwergewichtiger, gut gelaunter Mann setzte sich auf den Platz, genau dort, wo die Omi vorher gesessen hatte. Mit seinen breiten Schultern schob er Finn unabsichtlich fast an die Fensterscheibe. Der Troll, der auch sehr neugierig war, schaute nun lieber hinaus und entdeckte die Parkallee. Er freute sich und dachte an seine Parthe. Luisa beobachtete alles sehr aufmerksam und um Finn vor dem Fensterscheibenanklebetod zu retten, machte sie schnell eine nickende Kopfbewegung in Richtung Tür. Das hieß so viel wie: An der nächsten Haltestelle steigen wir aus. „Ja, sind wir denn schon da?“ Finn holte so tief Luft, als ob er gleich einen Turbo betreiben wollte.

„Am See sind wir noch nicht, aber an einem Meer. Frische Luft wird dir gut tun!“

„An einem Meer?“, staunte Finn.

„Ja, am Häusermeer!“, antwortete Luisa. Sie stiegen aus. Finn wusste nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. Die hohen Häuser, die freundlichen Menschen, die bunten Blumen und dort drüben, über der Straße, war der Eiswagen. Rums, die Türen gingen hinter ihnen zu und die elektrische Rennschnecke sauste in ihrer Spur ohne sie weiter. Finn schnupperte die frische Luft, aber nach vermodertem Laub, wie das Wasser der Parthe, roch es nicht. Eher nach, er wusste nicht genau, wie er es beschreiben sollte. Ja, wie war es in einer Stadt?

Die alten Trolle erzählten nichts von bunten Blumen, frechen Spatzen und tollen Spielplätzen. Sie konnten auch nichts davon erzählen, denn sie waren noch nie in Grünau und wollten diese Gegend auch nicht erkunden. Finn bekam Wut. „Die quasseln nur dummes Zeug, denen werde ich ausführlich berichten, wie es hier wirklich ist! Vielleicht schicke ich auch eine bunte Ansichtskarte, mal sehen ...“

Es war anders, ganz anders. Ehrlich, es war richtig schön. Es roch nach Kindern, die ihr Frühstücksbrot im Schulranzen trugen, nach dem Kletterfelsen zwischen den noch höheren Wohntürmen, und nach Geld, das in vielen Geschäften an der Ladenkasse ausgegeben wurde. Es duftete nach Lavendel, Rosen und wilden Malven. Ein Windhauch trug ein würziges Lüftchen von den Lindenblüten herbei. Gemähtes Gras kitzelte Finns Geruchssinn und eine Duftwolke von frischen Brötchen schwebte vom Bäcker herüber. Aber da war auch noch etwas, das er nicht kannte. Finn grübelte und grübelte ...

Klingeling und wusch, sauste ein eilig strampelnder Radfahrer an Finn vorbei. Wäre er nicht im letzten Moment zur Seite gesprungen, wäre er glatt auf dem Gepäckträger mitgefahren. Auf Grünaus Straßen musste er aufpassen. „Ich rieche etwas!“, plapperte Finn munter darauflos.

Luisa versuchte, auch diesen Geruch zu erschnuppern. „Frau Meier wird sicher wieder grüne Heringe braten.“

„Nee, nee, du, das stinkt nicht nach totem Fisch. Ich rieche ... ich weiß nicht was ... Ahhh, ich hab es! Ich rieche ein Abenteuer!“

„Bist du dir sicher?“, zweifelte Luisa Finns Geruchssinn an.

„Nee, nee, glaub mir, es riecht nach einem spannenden Abenteuer!“, antwortete Finn trotzig.

„Wer weiß, was er sich einbildet“, flitzten die Gedanken durch Luisas Gehirnwindungen. Der kleine Trolljunge konnte sich gar nicht an dem Zuhause der Grünauer sattsehen. Er hatte den Eindruck, dass sich die großen und kleinen Bewohner sichtlich wohlfühlten und zufrieden waren.

Früher gab es viele Häuser mit 16 Etagen, manche davon stehen nicht mehr. Dafür wurden Bäume angepflanzt und wachsen nun in den Himmel. Kleine Gärten mit Lavendel und Klatschmohn vor den Häusern bringen Lebendigkeit zwischen betonierte Wege. Kleine Parks mit Rosenbüschen und Bänken laden zum Verweilen ein. Grünau ist nicht grau. Grünau ist grün, so wie es der Name sagt, und lebendig wie die Fische im See.

„Wir gehen weiter“, spornte Luisa an. „Und was gibt es da zu sehen?“ Finns Neugier wurde erneut geweckt. Mit großen Wagenräderaugen erspähte Finn Sekunden später eine Schlange. Sie schob sich mitten durch die Gänge des großen Einkaufszentrums. Gefräßig war sie und schnappt sich alles, was sie bekommen konnte.

Luisa bekam einen Lachanfall und prustete heraus: „Das sind doch nur Menschen, die einkaufen wollen. Die einen möchten ihr Geld ausgeben und irgendwelche Dinge dafür bekommen. Die anderen wollen das Geld haben und dafür die Ware aus ihrem Laden loswerden. Oder einfach nur bummeln gehen, hier und da ein wenig schauen und vielleicht noch schöne Dinge kaufen. Manchmal geht es dabei nicht gerade bescheiden zu.“

Finn wurde es augenblicklich wieder döselig im Kopf. „Wenn diese Schlange die Bescheidenheit frisst, warum muss ich dann das Kraut finden, um groß zu werden? Dann bleibe ich lieber klein!“ Die Welt der Erwachsenen war kompliziert. Ihm wurde alles zu viel. Er hielt es nicht lange im Einkaufszentrum aus, Geld hatte er sowieso keines und richtig gut zaubern konnten nur erwachsene Trolle.

„Wo ist denn nun der See? Können wir nicht wieder mit der Straßenbahn fahren?“, stand in Finns Gesicht geschrieben. Luisa hatte es gelesen. Ein schneller Blick fiel auf ein Plakat. Es kündigte das nächste Grünauer Sommertanzfest an. Auf dem Plakat entdeckten sie auch ein Foto von der redseligen Omi aus der Rennschnecke. Sie trug ein schönes rotes, langes Kleid mit vielen Falten und einem bunten Tuch um die Hüften. Sie sah aus wie eine Spanierin, die einen Flamenco tanzte. Luisa kam gleich ins Schwärmen und konnte sich an dem Foto nicht sattsehen.

Finn kam alles sehr spanisch vor und er drängelte. Er wollte endlich mit der Rennschnecke weiterfahren. Sie liefen hinüber zur nächsten Haltestelle, vorbei am großen Schnürsenkel, einem tollen Kunstwerk und der Grünauer Welle. „Die Welle kann reden?“

„Das sind die Kinder, die in ihrer Freizeit gern schwimmen gehen. Hier kannst du auch schwitzen und dich durchs Wasser treiben lassen. Ein echter Badespaß für die ganze Familie. Ich rutsche immer gern durch die lange Röhre“, erklärte Luisa. Ein paar Schritte noch, und die Haltestelle war erreicht. Schon saßen sie wieder in der elektrischen Rennschnecke und bis zum Kulkwitzer See und den neuen Abenteuern war es nicht mehr weit.

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