Читать книгу Das Geheimnis der Anhalterin - Britta Bendixen - Страница 4

Kapitel 1 – Krise & Karriere

Оглавление

Es blitzt und don­nert. An ih­rem Rücken spürt Kris­ti­na den wei­chen Tep­pich.

»End­lich, Kris­si!«, keucht Jan und dringt tiefer in sie ein. »End­lich!«

Eng um­schlun­gen be­we­gen sie sich, fin­den ih­ren Rhyth­mus. Sein Stöh­nen in ih­ren Ohren, sei­ne glat­te Haut auf ih­rem er­hitz­ten Kör­per … Es ist so schön, doch sie kann es nicht ge­nie­ßen, weil sie spürt, dass ein Un­heil naht, ei­ne furcht­ba­re Ka­ta­stro­phe.

Wie­der don­nert es. Dann wird es mit ei­nem Mal so hell, dass sie glaubt, ein Blitz sei ein­ge­schla­gen. Das grel­le Licht blen­det sie und ihr Herz be­ginnt so hart ge­gen ih­ren Brust­korb zu häm­mern, als su­che es pa­nisch einen Weg hin­aus, raus aus ih­rem Kör­per.

Sie sieht zur Tür.

Dort steht Ste­phan, die Hand am Licht­schal­ter, und starrt sie an. Sei­ne Au­gen blit­zen vor Wut und sein Ge­sicht ver­zerrt sich zu ei­ner gräss­li­chen Frat­ze …

Kris­ti­na Wil­bert keuch­te und setz­te sich mit auf­ge­ris­se­nen Au­gen ruck­ar­tig im Bett auf. Ihr Puls ras­te.

Schon wie­der die­ser Traum! Wür­de er sie bis an ihr Le­bens­en­de ver­fol­gen?

Schwer at­mend ver­grub sie das Ge­sicht in den Hän­den, bis sich ihr Herz­schlag wie­der nor­ma­li­siert hat­te. Dann fuhr sie sich durch das kur­ze dunkle Haar. Im Na­cken war es feucht, ihr T-Shirt kleb­te am Rücken. Sie kniff die Au­gen zu­sam­men und drück­te ih­re Zei­ge­fin­ger ge­gen die Li­der, bis bun­te Punk­te und Mus­ter auf­tauch­ten wie sur­rea­le Licht­re­fle­xe.

Sie ließ die Hän­de sin­ken, blin­zel­te und war­te­te ab, bis sie im Däm­mer­licht die ver­trau­ten Kon­tu­ren er­ken­nen konn­te; das Fern­seh­ge­rät auf dem klei­nen Re­gal, die Grün­pflan­ze in der Ecke vor dem Fens­ter und die Um­ris­se des Klei­der­schranks.

Mü­de schau­te sie zum We­cker. Bis er klin­gel­te, dau­er­te es noch ei­ne hal­be Stun­de. Ob­wohl es noch so früh war, drang be­reits die Mor­gen­däm­me­rung an den Sei­ten des Ver­dun­ke­lungs­rol­los durch.

Es schi­en wie­der ein son­ni­ger Tag zu wer­den. Für Mai war das Wet­ter di­rekt som­mer­lich ge­we­sen in der letz­ten Wo­che und laut dem Wet­ter­be­richt soll­te es zu­min­dest noch bis zum nächs­ten Tag so blei­ben. Vi­el­leicht so­gar län­ger. Doch in die­sem Jahr ge­lang es dem schö­nen Früh­lings­wet­ter nicht wie sonst, Kris­tinas Lau­ne zu he­ben.

Sie hör­te ein lei­ses Schnar­chen ne­ben sich, ver­mischt mit kur­z­en Grunz­tö­nen, und wand­te den Kopf. Ste­phan lag auf dem Rücken, der nack­te Ober­kör­per war un­be­deckt, das Ge­sicht völ­lig ent­spannt. Er sah so fried­lich und un­schul­dig aus. Kris­ti­na muss­te bei dem An­blick lä­cheln. In Mo­men­ten wie die­sen war er ihr fast so nah wie frü­her.

Sie seufz­te lei­se, leg­te sich wie­der hin und starr­te an die De­cke. Ge­wiss wür­de sie nicht mehr ein­schla­fen kön­nen. Statt sich in den nächs­ten drei­ßig Mi­nu­ten un­ru­hig her­um­zu­wäl­zen, konn­te sie ge­nau­so gut auf­ste­hen.

Vor­sich­tig, um Ste­phan nicht zu we­cken, schlug sie die De­cke zur Sei­te, setz­te sich auf und ver­ließ lei­se den Raum.

Kurz dar­auf durch­zog an­re­gen­der Kaf­fee­ge­ruch die Kü­che. Kris­ti­na saß mit ei­nem damp­fen­den Be­cher am Ess­tisch und starr­te vor sich hin.

Die Mor­gen­son­ne tauch­te den Raum in war­mes Licht. Klit­ze­klei­ne Staub­par­ti­kel tanz­ten in den Son­nen­strah­len. Auf der Ei­che vor dem Fens­ter zwit­scher­ten ein paar Vö­gel ih­re mor­gend­li­che Ou­ver­tü­re, von Fer­ne war ein ver­gnüg­tes La­chen zu hö­ren und das über­mü­ti­ge Bel­len ei­nes Hun­des.

Auf dem Tisch lag der Brief, den Jan ihr im März ge­schickt hat­te. Sie er­in­ner­te sich, dass noch tiefer Schnee ge­le­gen hat­te. Ein har­ter und lan­ger Win­ter hat­te Nord­deutsch­land fest im Griff ge­habt. Sie über­flog das vor ihr lie­gen­de Schrei­ben noch ein­mal, ob­wohl sie es mitt­ler­wei­le fast aus­wen­dig konn­te.

Es sei ihm und Yvon­ne un­heim­lich wich­tig, dass sie und Ste­phan zu ih­rer Hoch­zeit kämen, schrieb Jan. Er wol­le sich un­be­dingt noch bei Ste­phan ent­schul­di­gen und hof­fe, dass sie wie­der zu­rück­fin­den wür­den zu der Freund­schaft, die sie einst ver­bun­den hat.

Das sagt sich al­les so ein­fach, dach­te Kris­ti­na be­drückt und nipp­te an ih­rem Kaf­fee, doch ge­nau das ist es lei­der nicht.

Zu dem Zeit­punkt, als Jans Brief an­ge­kom­men war, schi­en es noch ei­ne Chan­ce für Ste­phan und sie zu ge­ben. Ihr Ver­hält­nis zu­ein­an­der war bei­na­he wie­der nor­mal ge­we­sen.

Sie hat­te schon er­leich­tert auf­ge­at­met. Zu früh, wie sich her­aus­stell­te. Der Brief riss die fast ver­heil­te Wun­de wie­der auf und in­zwi­schen heg­te Kris­ti­na große Zwei­fel, dass es zwi­schen Ste­phan und ihr je wie­der so wer­den könn­te, wie es frü­her ge­we­sen war.

Ih­re Bit­te, Jans Ein­la­dung an­zu­neh­men und nach Ber­lin zu fah­ren, hat­te die Sa­che nicht ge­ra­de bes­ser ge­macht. Ste­phan ver­spür­te nicht das ge­rings­te Be­dürf­nis, zur Hoch­zeit zu fah­ren. Er war noch im­mer ver­letzt und woll­te Jan kei­nes­falls wie­der­se­hen.

Kurz­zei­tig hat­te Kris­ti­na dann auch dar­über nach­ge­dacht, ab­zu­sa­gen und die Rei­se nicht an­zu­tre­ten. Doch Ste­phans stän­di­ge vor­wurfs­vol­le Mie­ne und sei­ne schlech­te Lau­ne rie­fen ir­gend­wann Trotz in ihr her­vor.

Sie war es satt, zu Kreu­ze zu krie­chen.

Au­ßer­dem woll­te sie nach Ber­lin. Sie freu­te sich auf Jans un­be­küm­mer­tes Grin­sen, auf Yvon­nes Herz­lich­keit, auf Ma­ri­us‹ ru­hi­ge, freund­li­che Art, und vor al­lem auf Sven­ja, der sie mehr ver­trau­te als sonst je­man­dem.

Am ver­gan­ge­nen Abend hat­ten Ste­phan und sie er­neut dis­ku­tiert – nein, viel­mehr ge­strit­ten – und schließ­lich hat­te sie wü­tend zu ihm ge­sagt, wenn er nicht mit­wol­le, kön­ne er ja zu Hau­se blei­ben. Sie wür­de auf je­den Fall fah­ren. En­de der De­bat­te.

Und das Er­geb­nis? Wie­der ein­mal wa­ren sie schla­fen ge­gan­gen, oh­ne sich wie frü­her vor­her zu ver­söh­nen. Je­der fühl­te sich un­ver­stan­den. Sie la­gen zwar im sel­ben Bett, doch zwi­schen ih­nen war ei­ne Mau­er, so hoch und un­über­wind­lich wie ei­ne mit­tel­al­ter­li­che Fes­tung. Kein Wun­der, dass der Traum sie er­neut ge­quält hat­te.

Kris­ti­na leer­te ih­ren Be­cher und ver­tief­te sich in die Ein­la­dung zur Hoch­zeit. Noch war of­fen, ob sie al­lein fah­ren oder ob Ste­phan sie be­glei­ten wür­de.

In­zwi­schen war sie nicht ein­mal mehr si­cher, ob ihr über­haupt dar­an lag, dass er mit­kam.

»Mor­gen.« Ste­phan be­trat schlur­fend die Kü­che, in kur­z­en grau­en Shorts und dem aus­ge­wa­sche­nen gel­ben T-Shirt, das ihn im­mer so blass und krank aus­se­hen ließ.

Wäh­rend sie Jans Brief zu­sam­men­fal­te­te, mus­ter­te sie ihn. Dunkle Schat­ten la­gen un­ter sei­nen Au­gen. Er hat­te of­fen­bar nicht be­son­ders gut ge­schla­fen. Recht so. Sie hat­te schließ­lich auch kei­ne an­ge­neh­me Nacht ge­habt.

Ste­phan goss sich eben­falls einen Kaf­fee ein, dann setz­te er sich ihr ge­gen­über an den Tisch. Sein Blick fiel auf die Ein­la­dung und den Brief. Schwei­gend sa­hen sie sich an. Er nipp­te an sei­nem Kaf­fee und räus­per­te sich.

»Ich ha­be dar­über nach­ge­dacht. Wenn du un­be­dingt hin­fah­ren möch­test, dann kom­me ich eben mit.«

Sie wun­der­te sich über die Sin­nes­wand­lung, zuck­te aber nur mit den Ach­seln. »Wie du willst.«

Stil­le. Ei­ne ein­sa­me Flie­ge schwirr­te um­her, an­sons­ten war nur das Geräusch der Kü­chen­uhr zu hö­ren und das Zwit­schern der Vö­gel im Vor­gar­ten.

»Es ist dir egal, oder?«

Er be­müh­te sich sicht­lich, sei­ne Er­schüt­te­rung über die­se of­fen­sicht­li­che Tat­sa­che vor ihr zu ver­ber­gen, doch sie kann­te ihn zu gut, als dass es ihr ent­gan­gen wä­re. Sie hob das Kinn und sah ihn ge­ra­de­wegs an. »Ganz ehr­lich? Ja. Es ist mir gleich. Denn so, wie es im Mo­ment zwi­schen uns bei­den läuft, wä­re ei­ne Pau­se viel­leicht so­gar ganz gut.«

»Das könn­te dir so pas­sen!« Ste­phan stand so ab­rupt auf, dass die Stuhl­bei­ne auf dem Flie­sen­bo­den einen miss­tö­nen­den Laut er­zeug­ten. Er lehn­te sich an die Ar­beits­plat­te, fun­kel­te sie wü­tend an und ver­schränk­te die Ar­me. »Da­mit du dich un­ge­stört mit Jan auf ir­gend­ei­nem Tep­pich wäl­zen kannst. Oder mit ei­nem an­de­ren. Ver­giss es!«

Kris­tinas Hän­de, die sie um den lee­ren Kaf­fee­be­cher ge­legt hat­ten, ver­krampf­ten sich, so dass ih­re Fin­ger­knö­chel weiß her­vor­tra­ten.

»Zum ein­hun­derts­ten Mal: Ja, ich ha­be einen Feh­ler ge­macht. Und ich ha­be da­für be­zahlt, ver­dammt noch mal! Seit Mo­na­ten lässt du mich am aus­ge­streck­ten Arm ver­hun­gern, egal wie oft ich dich um Ver­zei­hung ge­be­ten ha­be.«

Er schwieg. Trau­rig schau­te sie ihn an. »Ich kann nicht mehr, Ste­phan. So geht es nicht wei­ter. Ent­we­der du kommst lang­sam dar­über hin­weg und gibst un­se­rer Ehe noch ei­ne ernst­haf­te Chan­ce, oder wir müs­sen den Tat­sa­chen ins Au­ge se­hen.«

Sei­ne Au­gen wur­den schmal. »Re­dest du von Schei­dung?«

Sie lehn­te sich auf dem Korb­stuhl zu­rück und nun war sie es, die die Ar­me ver­schränk­te. »Zu­min­dest von ei­ner räum­li­chen Tren­nung, ja. Denn wenn es so zwi­schen uns wei­ter­geht, macht es uns bei­de frü­her oder spä­ter ka­putt.«

Ste­phan schnaub­te und riss em­pört die Ar­me hoch. »Ent­schul­di­ge viel­mals, dass ich nicht gleich wie­der zur Ta­ges­ord­nung über­ge­hen kann, wenn du dich nackt mit dei­nem ›al­ten Freund‹ auf ei­nem Tep­pich her­um­wälzt wie ei­ne bil­li­ge -«

»Das reicht!« Kris­ti­na stand auf, so schnell, dass ihr Stuhl um ein Haar um­ge­fal­len wä­re. In schar­fem Ton fuhr sie fort. »Ich ha­be kei­ne Kraft mehr für die­se mü­ßi­gen Strei­te­rei­en. Und jetzt ent­schul­di­ge mich, ich muss die Kin­der we­cken. Wenn sie von dem Lärm noch nicht auf­ge­wacht sind.« Oh­ne ein wei­te­res Wort rausch­te sie an ihm vor­bei und ver­ließ den Raum.

Nach­dem Mar­co und Leo­nie ihr ver­schla­fen ver­si­chert hat­ten, sie wür­den gleich auf­ste­hen, ver­drück­te sich Kris­ti­na ins Bad. Dort starr­te sie in den Spie­gel.

Sie hat­te al­les ka­putt ge­macht. Hat­te sich von Jan ein­lul­len las­sen wie ei­ne fünf­zehn­jäh­ri­ge graue Maus, die um Auf­merk­sam­keit buhl­te. Woll­te ein­mal im Le­ben nicht ver­nünf­tig sein. Und was hat­te es ihr ge­bracht? Im­mer wie­der­keh­ren­de Alp­träu­me von dem furcht­ba­ren Mo­ment, in dem ihr Mann sie in fla­gran­ti er­wi­scht hat­te, und ei­ne Ehe, die auf der Kip­pe stand, so sehr, dass sie fast Bo­den­kon­takt hat­te.

Tief in ih­rem In­ne­ren ahn­te Kris­ti­na, dass das Wo­che­n­en­de bei Jan und Yvon­ne ei­ne Ent­schei­dung brin­gen wür­de. Ent­we­der wä­re da­nach al­les vor­bei, oder sie und Ste­phan wür­den wie­der zu­ein­an­der fin­den.

Im Au­gen­blick war sie ge­neigt, von Ers­te­rem aus­zu­ge­hen.

***

Wäh­rend Sven­ja Schil­ler Kar­tof­feln schäl­te, warf sie einen kur­z­en Blick auf die Wand­uhr. Es war vier­tel vor eins. Ju­li­an und Ja­na wür­den erst in ei­ner hal­b­en Stun­de hung­rig auf der Mat­te ste­hen.

Sven­ja sah aus dem Kü­chen­fens­ter hin­aus in den Vor­gar­ten. Vom Kirsch­baum wa­ren die schö­nen ro­sa Blü­ten ab­ge­fal­len und la­gen wie ei­ne flau­schi­ge De­cke um den di­cken Baum­stamm her­um.

Die hübsch ge­streif­te Nach­bars­kat­ze stapf­te vor­sich­tig dar­in her­um, und wenn der Wind die Blü­ten be­weg­te, jag­te sie wie ein Der­wisch hin­ter ih­nen her. Es war ein nied­li­cher, idyl­li­scher An­blick, der Sven­ja un­will­kür­lich lä­cheln ließ.

Als sie zwei Pa­ckun­gen mit Fisch­stäb­chen aus dem Ge­frier­schrank her­vor­kram­te, klin­gel­te das Te­le­fon. Die kal­ten Pa­ckun­gen in der Hand schlug sie die Schrank­tür zu und hetz­te ins Wohn­zim­mer.

Ein Blick auf das Dis­play zeig­te ihr, dass es Ma­ri­us war, der aus der Kli­nik an­rief.

»Hal­lo Lieb­ling,« mel­de­te sie sich er­freut.

»Hi!« Er klang ein we­nig ab­ge­hetzt. »Ich ha­be nicht viel Zeit, weil ich in den OP muss. Hol dir doch bit­te schnell einen Zet­tel und einen Stift.«

In der Kü­che leg­te sie die Fisch­stäb­chen zur Sei­te, öff­ne­te ei­ne Kü­chen­schub­la­de und zog einen Ku­li und einen No­tiz­block her­aus.

»Ok, ich bin be­reit. Worum geht es?«

»Mein Freund Rü­di­ger hat mich an­ge­ru­fen, du weißt schon, der An­walt. Er hat von ei­ner Kol­le­gin ge­hört, de­ren Part­ner aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den kurz­fris­tig auf­hö­ren muss­te. Sie sucht da­her drin­gend je­man­den, der bei ihr ein­steigt. Ich dach­te, das wä­re viel­leicht das Rich­ti­ge für dich.«

»Ja, das klingt groß­ar­tig«, rief Sven­ja. Sie hör­te selbst, wie eu­pho­risch ih­re Stim­me klang. Auf ei­ne sol­che Chan­ce war­te­te sie schon viel zu lan­ge.

»Ich ge­be dir mal ih­re Num­mer. Sie heißt Eva He­cken­burg und prak­ti­ziert in der In­nen­stadt. Ruf sie gleich an«, riet Ma­ri­us und dik­tier­te Sven­ja die Te­le­fon­num­mer. »Bis heu­te Abend, mein Schatz. Ich wün­sche dir viel Glück!«

Sie hat­te kaum das Ge­spräch be­en­det, als sie auch schon die Num­mer von Rechts­an­wäl­tin He­cken­burg wähl­te. Der An­ruf­be­ant­wor­ter teil­te ihr freund­lich mit, dass sie au­ßer­halb der Ge­schäfts­zei­ten an­rief. Das Bü­ro sei ab fünf­zehn Uhr wie­der be­setzt. Na, dann muss­te sie es eben in zwei Stun­den noch ein­mal ver­su­chen.

Die Zeit bis da­hin ver­ging rasch. Ja­na und Ju­li­an ka­men nach Hau­se, feu­er­ten Ja­cken und Ta­schen in die nächst­bes­te Ecke und ver­si­cher­ten, sie sei­en kurz vorm Ver­hun­gern.

Sven­ja ver­don­ner­te Ja­na zum Tisch­de­cken und Ju­li­an da­zu, sei­ne Sa­chen und die sei­ner Schwes­ter or­dent­lich weg­zuräu­men.

Die Kin­der ge­horch­ten, wenn auch oh­ne große Be­geis­te­rung Die­se Auf­ga­ben ge­hör­ten ein­fach zur täg­li­chen Rou­ti­ne.

Als sie zu dritt am Mit­tags­tisch sa­ßen, be­rich­te­te Ja­na vom Kin­der­gar­ten. Sie hat­te sich mit ih­rer bes­ten Freun­din ge­strit­ten, »ganz doll, Ma­mi!«, aber in­zwi­schen wie­der ver­tra­gen.

Ju­li­an hat­te ei­ne Drei in Ma­the be­kom­men und war to­tal sau­er dar­über.

»Dann musst du eben das nächs­te Mal gründ­li­cher ler­nen«, riet Sven­ja. »Nicht nur am letz­ten Tag vor der Ar­beit. Fang ein­fach et­was frü­her an.«

Ju­li­an schmoll­te und ver­ar­bei­te­te sei­ne Fisch­stäb­chen zu Ge­schnet­zel­tem.

Nach dem Es­sen ver­schwan­den die Kin­der in ih­ren Zim­mern und Sven­ja räum­te die Kü­che auf.

An­schlie­ßend setz­te sie sich mit ei­nem Buch auf die Ter­ras­se, um ein paar Son­nen­strah­len zu er­ha­schen. Al­ler­dings konn­te sie sich nicht so recht auf den Thril­ler kon­zen­trie­ren, weil sie im­mer wie­der zur Uhr sah.

Als die­se end­lich drei Uhr an­zeig­te, leg­te Sven­ja ihr Buch zur Sei­te, at­me­te tief durch und griff zum Te­le­fon. Vor Auf­re­gung ver­tipp­te sie sich zwei­mal.

Dann klin­gel­te es am an­de­ren En­de. Sven­ja räus­per­te sich ner­vös.

Die Se­kre­tä­rin stell­te sie zu Frau He­cken­burg durch, die sym­pa­thisch klang und Sven­ja ein­lud, noch an die­sem Nach­mit­tag vor­bei­zu­kom­men.

Als sie auf­leg­te, brei­te­te sich vor­sich­ti­ger Op­ti­mis­mus in Sven­ja aus. End­lich ih­ren Be­ruf als An­wäl­tin aus­üben zu kön­nen war das Ein­zi­ge, was sie sich noch wünsch­te.

Dann wä­re ihr Le­ben rund­um per­fekt.

Ma­ri­us, ihr al­ter Freund aus Stu­den­ten­ta­gen, hat­te ihr nach dem Tod ih­res Man­nes an­ge­bo­ten, sie zu un­ter­stüt­zen, wenn sie Ham­burg, ih­rem bis­he­ri­gen Wohn­ort, den Rücken keh­ren und mit Ja­na und Ju­li­an nach Flens­burg zie­hen wol­le. Er­leich­tert und vol­ler Dank­bar­keit war sie auf sei­nen Vor­schlag ein­ge­gan­gen.

Flens­burg ge­fiel ihr; die Nä­he zur Ost­see, die ge­müt­li­che In­nen­stadt und die freund­li­chen Men­schen hat­ten es ihr leicht­ge­macht, sich ein­zu­le­ben.

Der wich­tigs­te Grund, wes­halb der Um­zug nach Flens­burg ihr nicht schwer­ge­fal­len war, hieß je­doch Ma­ri­us.

Er war ih­re Ju­gend­lie­be ge­we­sen und das Wie­der­se­hen mit ihm im letz­ten Som­mer hat­te die Ge­füh­le, die sie vor vie­len Jah­ren für ihn emp­fun­den hat­te, vor­sich­tig wie­der­auf­le­ben las­sen. Ihm schi­en es eben­so zu ge­hen und in den letz­ten Mo­na­ten wa­ren sie sich ganz be­hut­sam nä­her­ge­kom­men und hat­ten noch ein­mal zu­ein­an­der ge­fun­den.

In­zwi­schen wohn­ten sie so­gar zu­sam­men. Sven­ja seufz­te und sah sich zu­frie­den um. Der Gar­ten war nicht groß, aber ru­hig und schön an­ge­legt. Das Haus hat­te hel­le, freund­li­che Räu­me, bot aus­rei­chend Platz und lag ver­kehrs­güns­tig. Ganz in der Nä­he be­fand sich der Twed­ter Plack, ein klei­nes, ge­müt­li­ches Stadt­teil­zen­trum mit vie­len Ein­kaufs­mög­lich­kei­ten.

Auch Sven­jas Kin­der fühl­ten sich mitt­ler­wei­le wohl in ih­rem neu­en Zu­hau­se. Es war für die bei­den nicht leicht ge­we­sen, zu rea­li­sie­ren, dass ihr Pa­pa nie mehr wie­der­kom­men wür­de. Be­son­ders für Ju­li­an war es sehr schwer ge­we­sen.

An­fangs war er dem neu­en Mann im Le­ben sei­ner Mut­ter mit Miss­trau­en be­geg­net, war frech und be­lei­di­gend ge­we­sen, doch in­zwi­schen ver­stan­den sich die zwei er­staun­lich gut – dank Ma­ri­us‹ Ge­duld und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen. Ju­li­an ver­stand sich so­gar mit Char­lot­te, der Toch­ter von Ma­ri­us, die je­des zwei­te Wo­che­n­en­de bei ih­rem Va­ter ver­brach­te. Ihr hat­te Ju­li­an das größ­te Kom­pli­ment ge­macht, das er ei­nem Mäd­chen ma­chen konn­te:

»Wenn sie nicht so lan­ge Haa­re hät­te, könn­te sie fast ein Jun­ge sein.«

Sven­ja stand auf. Es wur­de Zeit, sich auf das Be­wer­bungs­ge­spräch mit Rechts­an­wäl­tin He­cken­burg vor­zu­be­rei­ten.


»Ju­li­an, ich muss gleich weg. Ist es okay, wenn du mit Ja­na für ein oder zwei Stun­den al­lein bleibst?«

Sven­ja trat ne­ben ih­ren Sohn, der am Schreib­tisch in sei­nem Zim­mer saß und Haus­auf­ga­ben mach­te.

»Klar. Geht in Ord­nung«, ant­wor­te­te er hoch­bli­ckend. »Wo willst du denn hin?«

Sven­ja schob sich ei­ne blon­de Haar­sträh­ne hin­ters Ohr und lä­chel­te zag­haft. »Ich ha­be gleich ein Vor­stel­lungs­ge­spräch und bin et­was auf­ge­regt«, ge­stand sie.

Ju­li­an grins­te. »Das ist die Un­ter­trei­bung des Jah­res. Oder ist es Ab­sicht, dass du zwei ver­schie­de­ne Ohr­rin­ge trägst?«

Sven­jas Hän­de fuh­ren an ih­re Ohren. »Ach herr­je! Dan­ke, mein Schatz.« Sie zog bei­de Ste­cker her­aus und drück­te ih­rem Äl­tes­ten einen Kuss auf die Stirn. »Wünsch mir Glück!«

»Viel Glück, Ma­ma. Darf ich fern­se­hen, wenn ich fer­tig bin?«

»Es wä­re mir lie­ber, wenn du noch ein biss­chen an die fri­sche Luft gehst«, sag­te Sven­ja. »Es ist so schö­nes Wet­ter. Du kannst mit Ja­na auf den Spiel­platz ge­hen. Aber ver­giss nicht dei­nen Haus­schlüs­sel.«

Ju­li­an seufz­te. »Na gut. Bis spä­ter.«


We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter mach­te Sven­ja sich in ih­rem klei­nen Nissan auf den Weg in die In­nen­stadt, am Kraft­fahrt­bun­des­amt vor­bei, die Mür­wi­ker Stra­ße hin­un­ter.

Bald er­reicht sie Son­wik. Von hier hat­te man einen groß­ar­ti­gen Blick auf die Alt­stadt und den Ha­fen mit dem ru­hi­gen, glit­zern­den Was­ser. Die Aus­sicht ent­zück­te Sven­ja be­son­ders bei so schö­nem Wet­ter je­des Mal aufs Neue.

Das Bü­ro der Kanz­lei He­cken­burg & Schä­fer lag in der zwei­ten Eta­ge ei­nes ele­gan­ten Alt­baus in der Rat­haus­stra­ße, dicht an der Fuß­gän­ger­zo­ne. Vom Park­haus in der Holm­pas­sa­ge brauch­te Sven­ja nur we­ni­ge Mi­nu­ten.

Mit hef­ti­gem Herz­klop­fen be­trat sie die Kanz­lei.

Ei­ne Se­kre­tä­rin mit kur­z­en ro­ten Haa­ren und blas­sen Som­mer­spros­sen be­grüß­te Sven­ja freund­lich und bat sie, im War­te­raum Platz zu neh­men.

Sie setz­te sich und sah sich ner­vös um.

Das War­te­zim­mer war in be­ru­hi­gen­den Grün­tö­nen ge­hal­ten und hübsch ein­ge­rich­tet: An den bei­den Längs­sei­ten stan­den je­weils drei Korb­stüh­le, da­zwi­schen be­fand sich ein pas­sen­der Tisch mit Zeit­schrif­ten.

In ei­ner Ecke gab es einen Spiel­tisch mit zwei Kin­der­stüh­len und dar­un­ter ei­ne Kis­te mit Le­go­stei­nen und ei­ne mit Mal­sa­chen. Der An­blick ließ Sven­ja an Ju­li­an den­ken, der mit sei­ner Schwes­ter ganz al­lein zu Hau­se war. Mit elf Jah­ren war er zwar alt ge­nug, um mal für ein oder zwei Stun­den un­be­auf­sich­tigt zu sein und auf Ja­na auf­zu­pas­sen, den­noch hat­te Sven­ja im­mer ein un­gu­tes Ge­fühl da­bei.

Um sich ab­zu­len­ken, stand sie auf und trat ans Fens­ter. Von hier aus konn­te sie auf die leicht ab­schüs­si­ge Rat­haus­stra­ße hin­ab­se­hen. Au­tos, Bus­se und Mo­tor­rä­der rum­pel­ten laut­stark über das Kopf­stein­pflas­ter, auf den Geh­we­gen schlen­der­ten oder eil­ten Passan­ten.

Sven­ja ging zu­rück zu ih­rem Stuhl und sah noch ein­mal ih­re Un­ter­la­gen durch. Ein mut­lo­ses Seuf­zen ent­rang sich ih­rer Brust. Viel war es nicht, was sie zu vor­zu­wei­sen hat­te. Sie mach­te sich nichts vor; dass Eva He­cken­burg sie ein­stel­len wür­de, war ziem­lich un­wahr­schein­lich.

Es dau­er­te knapp zehn Mi­nu­ten, bis die Se­kre­tä­rin in der Tür zum War­te­zim­mer auf­tauch­te und Sven­ja bat, ihr zu fol­gen. Als sie in Frau He­cken­burgs Bü­ro tra­ten, stand die An­wäl­tin von ih­rem Platz hin­ter dem mit Ak­ten­ber­gen be­la­de­nen Schreib­tisch auf und kam Sven­ja ent­ge­gen.

»Frau Schil­ler, wie schön, dass Sie gleich Zeit hat­ten«, sag­te sie lie­bens­wür­dig und reich­te ihr ei­ne mit meh­re­ren großen, gol­de­nen Rin­gen ge­schmück­te Hand. »Set­zen Sie sich. Möch­ten Sie einen Kaf­fee?«

Sven­ja nahm auf ei­nem der bei­den Stüh­le vor dem Schreib­tisch Platz. »Ja, sehr gern. Dan­ke.«

Frau He­cken­burg nick­te ih­rer Mit­ar­bei­te­rin zu.

Nach­dem die­se die Tür wie­der ge­schlos­sen hat­te, warf die An­wäl­tin einen Blick auf die Be­wer­bungs­map­pe in Sven­jas Hand: »Darf ich?«

»Na­tür­lich.«

Die Map­pe wan­der­te über den Schreib­tisch und Eva He­cken­burg blät­ter­te durch die we­ni­gen Sei­ten.

Sven­ja mus­ter­te sie wäh­rend­des­sen. Die An­wäl­tin war ver­mut­lich Mit­te Vier­zig, al­so et­wa zehn Jah­re äl­ter als sie selbst. Sie hat­te kur­z­es, stu­fig ge­schnit­te­nes hell­blon­des Haar und trug da­zu große, run­de Schild­platt-Ohr­rin­ge.

Ih­re ro­te, eckig ge­form­te Bril­le kon­tras­tier­te her­vor­ra­gend mit dem leicht run­den Ge­sicht. Sven­ja hat­te den Ein­druck, dass die An­wäl­tin ei­ne Per­son war, die ge­nau wuss­te, was sie woll­te. Und wie sie es be­kam.

Eva He­cken­burg sah auf und un­ter­brach da­mit Sven­jas Über­le­gun­gen.

»Sie ha­ben nie prak­ti­ziert?«, ver­ge­wis­ser­te sie sich.

Sven­ja schüt­tel­te ver­le­gen den Kopf. »Lei­der nein. Di­rekt nach dem Stu­di­um wur­de ich schwan­ger und ha­be ge­hei­ra­tet. In den letz­ten Jah­ren ha­be ich mich voll auf mei­ne Fa­mi­lie kon­zen­triert. Doch jetzt sind die Kin­der aus dem Gröbs­ten her­aus und ich wür­de wirk­lich gern end­lich als An­wäl­tin ar­bei­ten.«

Eva He­cken­burg nick­te lang­sam, den Blick nach wie vor auf die Un­ter­la­gen in ih­ren Hän­den ge­rich­tet. »Es hat sich ei­ni­ges ver­än­dert in den letz­ten Jah­ren«, sag­te sie ernst. »Wir be­ar­bei­ten sehr vie­le Fa­mi­li­en­rechtssa­chen und ge­ra­de im Hin­blick auf den Un­ter­halt gibt es ei­ne Men­ge Neue­run­gen. Das gilt auch für das Kos­ten­recht. Die BRAGO wur­de vom RVG ab­ge­löst. Sind Sie ei­ni­ger­ma­ßen auf dem Lau­fen­den?«

Na­tür­lich kann­te Sven­ja die Kurz­for­men für die Bun­des­rechts­an­walts­ge­büh­ren­ord­nung und das Rechts­an­walts­ver­gü­tungs­ge­setz, doch mit den ent­spre­chen­den neu­en Pa­ra­gra­phen hat­te sie noch nie ge­ar­bei­tet. Wie auch?

»Ich ha­be dar­über ge­le­sen und mich in­for­miert, ja. Prak­tisch an­wen­den konn­te ich die­se Kennt­nis­se lei­der noch nicht. Doch ich bin gern be­reit, mich ein­zu­ar­bei­ten und das Ver­säum­te mög­lichst rasch nach­zu­ho­len. Ich könn­te Se­mi­na­re und Fort­bil­dun­gen be­su­chen oder -«

Die Tür öff­ne­te sich und die Se­kre­tä­rin stell­te ein Ta­blett mit zwei Tas­sen Kaf­fee, ei­nem Sah­ne­känn­chen und ei­nem Zu­cker­topf auf den Schreib­tisch. Dann lä­chel­te sie Sven­ja kurz zu und ging wie­der hin­aus.

Eva He­cken­burg goss et­was Sah­ne in ih­re Tas­se.

»Was das The­ma Se­mi­na­re an­geht … Ich bräuch­te recht bald einen Er­satz für mei­nen Part­ner«, gab sie zu be­den­ken und lehn­te sich mit der Tas­se in bei­den Hän­den zu­rück.

»Spä­tes­tens zum ers­ten Ju­li. Für einen An­walt al­lein ha­ben wir ein­fach zu vie­le lau­fen­de Fäl­le. Das ist auf Dau­er nicht zu schaf­fen. Glau­ben Sie, bis da­hin könn­ten Sie -«

»Ganz si­cher.« Sven­ja nick­te der An­wäl­tin über­zeugt zu. »Ich hat­te in der letz­ten Zeit so we­nig zu tun, dass ich froh wä­re, end­lich wie­der et­was Nütz­li­ches ma­chen zu kön­nen, das mir dar­über hin­aus auch Freu­de bringt.« Sie nipp­te an ih­rem Kaf­fee. Mit ei­nem Lä­cheln stell­te sie die Tas­se wie­der zu­rück. »Es gibt noch einen wei­te­ren Grund, wes­halb ich gern hier ar­bei­ten wür­de.«

»Und der wä­re?«

Sven­ja schlug die Bei­ne über­ein­an­der und schmun­zel­te. »Der Kaf­fee ist ein­fach köst­lich.«

Eva He­cken­burg muss­te la­chen. »Ja, ich weiß, er schmeckt toll.« Dann wur­de sie wie­der ernst. »Sie ge­fal­len mir, Frau Schil­ler. Ich glau­be, wir kämen gut mit­ein­an­der zu­recht.«

»Das Ge­fühl ha­be ich auch«, stimm­te Sven­ja er­leich­tert zu.

»Vi­el­leicht könn­ten Sie sich in den nächs­ten Ta­gen dar­über in­for­mie­ren, ob in Kür­ze ent­spre­chen­de Se­mi­na­re an­ge­bo­ten wer­den«, schlug die An­wäl­tin vor.

»Das wer­de ich ganz ge­wiss tun.«

Eva He­cken­burg zeig­te Sven­ja noch die Räum­lich­kei­ten und das Zim­mer, das even­tu­ell ihr Bü­ro wer­den wür­de, dann ver­ab­schie­de­ten sie sich von­ein­an­der.

»Na­tür­lich kann ich jetzt noch kei­ne end­gül­ti­ge Ent­schei­dung fäl­len, das ver­ste­hen Sie si­cher.«

Frau He­cken­burg schüt­tel­te Sven­ja lä­chelnd die Hand. »Aber hal­ten Sie mich auf dem Lau­fen­den. Je mehr Ein­satz ich fest­stel­le, de­sto bes­ser ste­hen Ih­re Chan­cen.«

***

Kris­ti­na brü­te­te über Klas­sen­ar­bei­ten zum The­ma ›Wei­ma­rer Re­pu­blik‹, als sie hör­te, dass die Haus­tür ins Schloss fiel. Sie press­te die Lip­pen auf­ein­an­der. Ste­phan hat­te al­so wie­der ein­mal das Haus ver­las­sen, oh­ne sich zu ver­ab­schie­den.

Er nahm sich in­zwi­schen recht oft abends et­was vor. Ge­mein­sa­men Aben­den mit ihr ging er so häu­fig wie mög­lich aus dem Weg.

Ver­wun­der­lich war das nicht. Wenn sie bei­de zu Hau­se wa­ren, war die At­mo­sphä­re so fros­tig, als sä­ßen sie in ei­nem Iglu am Nord­pol.

Er war­te­te im­mer noch dar­auf, dass sie ein­lenk­te und die ge­plan­te Fahrt nach Ber­lin ab­sag­te. Das je­doch kam für Kris­ti­na über­haupt nicht in Fra­ge.

Sie war der Mei­nung, sich wahr­haf­tig oft ge­nug ent­schul­digt zu ha­ben. Au­ßer­dem freu­te sie sich auf das Wie­der­se­hen mit ih­ren Freun­den. Auf kei­nen Fall wür­de sie sich das von Ste­phan ver­mie­sen las­sen.

Na­tür­lich hat­ten auch die Kin­der längst mit­be­kom­men, dass ir­gen­det­was ganz und gar nicht stimm­te. Mar­co wirk­te be­drückt und ver­brach­te viel Zeit in sei­nem Zim­mer. Und Leo­nie hat­te sie vor ein paar Ta­gen ge­fragt, warum Pa­pa im­mer so schlech­te Lau­ne hat­te.

»Ist er bö­se auf mich?«, hat­te sie ängst­lich ge­fragt.

In die­ser Hin­sicht konn­te Kris­ti­na sie be­ru­hi­gen.

»Nein, Schätz­chen, er ist nicht bö­se auf dich, über­haupt nicht.«

»Aber was hat er denn dann?«

Kris­ti­na mur­mel­te dar­auf­hin et­was von Är­ger bei der Ar­beit, der dem Pa­pa zu schaf­fen mach­te.

Ih­rer Toch­ter zu er­zäh­len, dass Ste­phan wü­tend auf sei­ne Frau war, hat­te sie ein­fach nicht fer­tig­ge­bracht.

Leo­nie hät­te wis­sen wol­len, warum das so war. Und wie, bit­te schön, soll­te sie ei­ner Sie­ben­jäh­ri­gen er­klä­ren, dass der Pa­pa ver­letzt war, weil die Ma­ma ihn be­tro­gen hat­te?

Dem Rat­ten­schwanz an Fra­gen, der die­ser Aus­sa­ge fol­gen wür­de, war sie schlicht nicht ge­wach­sen. Ab­ge­se­hen da­von konn­te und woll­te sie ih­re Kin­der nicht da­mit be­las­ten. Sie könn­ten oh­ne­hin nicht nach­voll­zie­hen, warum das hat­te ge­sche­hen kön­nen.

Sie ver­stand es ja selbst nicht mehr, wie soll­ten Mar­co und Leo­nie es dann be­grei­fen?

Sie seufz­te und wid­me­te sich wie­der den ein­falls­rei­chen Ant­wor­ten ih­rer Schü­ler.

Nach­dem be­reits ei­ner den da­ma­li­gen Reich­s­prä­si­den­ten in Pe­ter von Hin­den­berg um­ge­tauft hat­te, be­haup­te­te ein an­de­rer, der vor­letz­te Reichs­kanz­ler vor Hit­ler sei »von Pap­pe« ge­we­sen.

Soll­te tat­säch­lich Herr von Pa­pen ge­meint sein, oder war das nur ei­ne mo­der­ne Cha­rak­ter­be­zeich­nung?

Wäh­rend sie mit ih­rem Rot­stift Be­mer­kun­gen schrieb und No­ten gab, schweif­ten ih­re Ge­dan­ken wie­der zu Ste­phan ab. Wo war er wohl hin­ge­gan­gen? Sie ver­mu­te­te, dass er sich mit ei­nem Freund oder Kol­le­gen traf, doch ge­nau wuss­te sie es nicht. Oder räch­te er sich an ihr, in­dem er die Aben­de mit ei­ner an­de­ren Frau ver­brach­te?

Nein, das war un­mög­lich.

Nach­denk­lich sah Kris­ti­na aus dem Fens­ter in die Däm­me­rung. War es wirk­lich so un­denk­bar, dass ihr Mann sich von ei­ner an­de­ren Frau trös­ten ließ?

Ste­phan war zwar kein Wo­ma­ni­zer-Typ mit sei­nem schüt­teren Haar und dem klei­nen Bauch­an­satz, doch er konn­te sehr char­mant sein und hat­te Hu­mor. Es gab be­stimmt ei­ni­ge Frau­en, die ihn an­zie­hend fan­den.

Mit­ten in die­se be­un­ru­hi­gen­den Über­le­gun­gen hin­ein klin­gel­te das Te­le­fon, das di­rekt ne­ben Kris­ti­na lag.

Sie fuhr er­schro­cken zu­sam­men, war­te­te ein paar Herz­schlä­ge ab und griff dann nach dem Ap­pa­rat.

Wer konn­te das sein? War Ste­phan et­was zu­ge­sto­ßen? Vi­el­leicht hat­te er einen Un­fall ge­habt.

Geh ran, dann weißt du es, for­der­te sie sich stumm auf und drück­te auf die ent­spre­chen­de Tas­te. »Wil­bert.«

»Hal­lo Kris­si, ich bin es, Sven­ja.«

Er­leich­tert lehn­te Kris­ti­na sich zu­rück. »Sven­ja! Wie geht es dir?«

»Sehr gut, dan­ke. Stell dir vor, ich hat­te heu­te ein Vor­stel­lungs­ge­spräch. Ich hof­fe so sehr, dass ich den Job be­kom­me.«

»Das wä­re ja su­per«, sag­te Kris­ti­na an­ge­nehm über­rascht.

»Es wä­re per­fekt«, schwärm­te Sven­ja. »Ei­ne klei­ne Kanz­lei, nur ei­ne An­wäl­tin und ich. Ihr Part­ner kann nicht mehr prak­ti­zie­ren, al­so sucht sie einen Er­satz.«

Sie seufz­te. »Das Ein­zi­ge, das für mich spricht, ist, dass ich zeit­nah ein­stei­gen könn­te und sehr früh da­von er­fah­ren ha­be, durch Ma­ri­us, weißt du? Aber wenn es noch mehr Be­wer­ber gibt, bin ich ver­mut­lich schnell wie­der aus dem Ren­nen.«

»Nun sieh mal nicht so schwarz. Es kommt doch auf mehr als nur Be­rufs­er­fah­rung an. Stimm­te die Che­mie zwi­schen euch?«

»Ja, ich den­ke schon. Ich fand sie sehr sym­pa­thisch, und ich glau­be, sie moch­te mich auch.«

»Na, siehst du. Dann ste­hen dei­ne Chan­cen ver­mut­lich bes­ser, als du denkst.«

Sven­ja lach­te. »Ich glau­be, des­halb ha­be ich dich an­ge­ru­fen. Du hast so ei­ne herr­lich op­ti­mis­ti­sche Art. Ir­gend­wie muss ich ge­wusst ha­ben, dass du mich auf­baust. Dan­ke, Kris­si.«

»Gern ge­sche­hen. Wie geht’s Ma­ri­us?«

»Oh, ei­gent­lich sehr gut, aber er ar­bei­tet zu viel. Wenn er so wei­ter macht, sieht er bald so krank aus wie sei­ne Pa­ti­en­ten.«

»Dann wird ihm das Wo­che­n­en­de in Ber­lin be­stimmt gut­tun.« Kris­ti­na klemm­te das Te­le­fon zwi­schen Ohr und Schul­ter und sta­pel­te die Ar­bei­ten ih­rer Schü­ler auf­ein­an­der. Für heu­te hat­te sie ge­nü­gend ha­ne­bü­che­ne Ant­wor­ten ge­le­sen.

»Rich­tig! Gut, dass du Ber­lin er­wähnst«, sag­te Sven­ja. »Ei­gent­lich ru­fe ich ja ge­nau des­we­gen an. Ich dach­te mir, es ist doch idio­tisch, wenn wir mit zwei Au­tos fah­ren. Wir könn­ten euch ab­ho­len und fah­ren dann ge­mein­sam die rest­li­che Stre­cke.«

»Ist das nicht ein Um­weg für euch?«

»Über­haupt nicht. Ich muss die Kin­der vor­her oh­ne­hin zu mei­ner Schwie­ger­mut­ter brin­gen – du weißt schon, Ni­ko­lais Mut­ter. Sie wohnt in Quick­born, das ist doch ganz dicht bei Ham­burg. So­bald wir Ju­li­us und Ja­na bei ihr ab­ge­lie­fert ha­ben, fah­ren wir bei euch vor­bei. Kein Pro­blem.«

»Das klingt wirk­lich ver­nünf­tig«, stimm­te Kris­ti­na er­leich­tert zu.

Die Fahrt nach Ber­lin wür­de zu viert si­cher­lich ent­spann­ter ver­lau­fen. Sie hat­te we­nig Lust, vier Stun­den lang ab­wech­selnd mit Ste­phan zu strei­ten oder sei­nem ei­si­gen Schwei­gen zu lau­schen.

»Dann ma­chen wir es so«, be­stimm­te Sven­ja zu­frie­den. »Sag mal, was schen­ken wir Jan und Yvon­ne ei­gent­lich zur Hoch­zeit? Hast du schon ei­ne Idee?«

»Die ha­be ich tat­säch­lich«, er­wi­der­te Kris­ti­na. »Aber ob sie gut ist, weiß ich nicht.«

Mit we­ni­gen Wor­ten un­ter­brei­te­te sie der Freun­din ih­ren Vor­schlag.

Sven­ja stimm­te be­geis­tert zu. »Das klingt su­per. Ich freue mich ja so auf euch al­le. Das letz­te Mal ha­ben wir uns bei der Ge­richts­ver­hand­lung ge­se­hen.«

Kris­ti­na schluck­te, lehn­te sich zu­rück und zupf­te an ih­rem Pony. Am Tag der Ur­teils­ver­kün­dung hat­ten Yvon­ne und Sven­ja er­fah­ren, was zwi­schen Jan und ihr vor­ge­fal­len war.

»Wie läuft es denn zwi­schen dir und Ste­phan?«, woll­te Sven­ja wis­sen, als hät­te sie den glei­chen Ge­dan­ken ge­habt.

»Na ja, es geht so«, ant­wor­te­te Kris­ti­na un­be­stimmt. »Mal bes­ser, mal schlech­ter.«

»Ist er im­mer noch nicht dar­über hin­weg?«

»Ehr­lich ge­sagt, er sä­he es am liebs­ten, wenn ich Jan und Yvon­ne ab­sa­ge«, be­rich­te­te Kris­ti­na wahr­heits­ge­mäß. »Ihm graut da­vor, Jan wie­der­zu­se­hen. Ich ha­be ihm al­ler­dings klar­ge­macht, dass ich auf je­den Fall fah­ren wer­de. Al­so hat er be­schlos­sen, mit­zu­kom­men. Da­mit er auf­pas­sen kann, dass ich nicht wie­der ir­gend­ei­nen Un­sinn ma­che.«

Sven­ja schnalz­te mit der Zun­ge. »Na, das kann ja hei­ter wer­den.«

»Ja«, seufz­te Kris­ti­na. »Das be­fürch­te ich auch.«

»Hast du im­mer noch die­se Alb­träu­me?«

»Im­mer mal wie­der, ja.«

»Mach dir kei­ne Sor­gen, hörst du? Ir­gend­wann hö­ren die von al­lein auf. Da bin ich si­cher.«

»Mag sein«, stimm­te Kris­ti­na mit lei­sem Zwei­fel zu.

»Aber wohl erst dann, wenn Ste­phan mir mei­nen Fehl­tritt ver­zeiht. Und bis da­hin wird noch sehr viel Was­ser die El­be her­un­ter­flie­ßen, fürch­te ich.«

***

Jan Schro­eder drück­te den Knopf der Sen­seo-Kaf­fee­ma­schi­ne und lausch­te dem mo­no­to­nen Brum­men, wäh­rend ein dün­ner Strahl Kaf­fee in den Be­cher lief. Er rieb sich den Schlaf aus den Au­gen und gähn­te herz­haft.

Sein Blick fiel nach drau­ßen. Der Bal­kon vor der Kü­che ging nach Os­ten und sah son­nig und ein­la­dend aus.

Jan nahm sei­nen Kaf­fee­be­cher, öff­ne­te die Bal­kon­tür und trat hin­aus. Es war noch nicht ein­mal Mit­te Mai, doch selbst um die­se frü­he Uhr­zeit wärm­ten die Son­nen­strah­len schon recht stark.

Die­se Wo­che soll­te das Wet­ter noch so schön blei­ben. Die letz­te Wo­che sei­nes Jung­ge­sel­len­da­seins.

In fünf Ta­gen wür­de Yvon­ne ihm einen schma­len, gol­de­nen Ring über den Fin­ger strei­fen – das Sym­bol schlecht­hin für Spie­ßig­keit, Ab­hän­gig­keit und Ver­pflich­tung ei­nem an­de­ren Men­schen ge­gen­über.

Zu­min­dest hat­te er es frü­her so emp­fun­den.

Jan horch­te tief in sich hin­ein und ver­such­te her­aus­zu­fin­den, was die­ser Ge­dan­ke bei ihm aus­lös­te.

Fühl­te er Trau­er oder Angst vor die­sem großen Schritt? Be­dau­ern, dass die wil­de Zeit end­gül­tig vor­bei war?

Be­ru­higt stell­te er fest, dass die Freu­de über­wog. Er schi­en wirk­lich lang­sam er­wach­sen zu wer­den.

Im Ge­fäng­nis war ihm klar ge­wor­den, dass es Zeit wur­de, et­was zu ver­än­dern. In den knapp drei Mo­na­ten bis zur Ver­hand­lung hat­te er sehr viel Ge­le­gen­heit zum Nach­den­ken ge­habt.

Seit­dem wuss­te er, dass Yvon­ne und er zu­sam­men ge­hör­ten und er sich glück­lich schät­zen konn­te, dass sie ihn noch nicht zum Teu­fel ge­jagt hat­te.

Grün­de da­für hat­te er ihr wirk­lich reich­lich ge­lie­fert.

Wäh­rend er vor­sich­tig an dem hei­ßen Kaf­fee nipp­te und in die Son­ne blin­zel­te, be­schloss er, auf dem Bal­kon den Früh­stücks­tisch zu de­cken.

Es war herr­lich warm und sie konn­ten über die Ora­ni­en­bur­ger Stra­ße se­hen, bis hin zu der Neu­en Sy­n­ago­ge, de­ren gol­de­ne Kup­pel in der Son­ne glänz­te und fun­kel­te wie ei­ne gi­gan­ti­sche Kro­ne.

Der Ge­dan­ke, Yvon­ne ei­ne Freu­de zu ma­chen, be­flü­gel­te sei­ne Ener­gie und so­gleich be­gann er, sein Vor­ha­ben in die Tat um­zu­set­zen.

Bald dar­auf schlurf­te Yvon­ne gäh­nend in die Kü­che, in wei­ße Baum­wolls­horts und ein li­la­far­be­nes T-Shirt gehüllt, auf dem in oran­ge­far­be­nen Buch­sta­ben das Lo­go ›Wor­k­out & Well­ness‹ prang­te. Ih­re lan­gen blon­den Lo­cken fie­len un­ge­kämmt über Schul­tern und Rücken.

Jan kam gut ge­launt durch die Bal­kon­tür auf sie zu. »Gu­ten Mor­gen, En­gel!«, rief er mun­ter. »Hast du gut ge­schla­fen?«

Sie brumm­te zu­stim­mend.

Er gab ihr einen Kuss und strich zärt­lich über ih­ren leicht ge­wölb­ten Bauch. »Das Früh­stück ist gleich fer­tig. Setz dich.«

Ver­wun­dert und ein we­nig miss­trau­isch sah sie ih­ren Ver­lob­ten an. »Was is’n mit dir los? Has­te was an­ge­stellt?«

»Bis­her nicht«, lä­chel­te er zu­frie­den. »Aber mit die­ser Über­ra­schung ha­be ich einen gut, oder?«

Sie ging nicht dar­auf ein, son­dern trat auf den Bal­kon hin­aus. »Man­noh­mann, du hast dir ja echt Mü­he ge­ge­ben.«

Er lä­chel­te stolz. Auf der mit Mohn­blu­men be­druck­ten Tisch­de­cke be­fan­den sich ein Brot­korb mit fri­schen Weiß­brot­schei­ben so­wie But­ter, Kä­se und Mar­me­la­de. Für Yvon­ne stan­den Corn­fla­kes und ei­ne klei­ne Kar­af­fe mit Milch be­reit, au­ßer­dem zwei Bana­nen. Da­zu gab es Kaf­fee und Oran­gen­saft.

Sie dreh­te sich um und gab ihm einen Kuss. »Dan­ke, Schnucki, das ist echt lieb von dir.«

»Ich dach­te nur, es wä­re ganz nett, in der Son­ne zu früh­stücken.« Er schob ihr einen Stuhl hin, setz­te sich auf sei­nen Platz und nahm sich ei­ne Schei­be Brot. Yvon­ne füll­te Fla­kes und Milch in die Schüs­sel und schnitt ei­ne Bana­ne hin­ein.

»Wann kom­men dei­ne El­tern?«, woll­te sie wis­sen und schob sich einen vol­len Löf­fel in den Mund. Die Fla­kes knirsch­ten, als sie sie zer­malm­te.

»Ir­gend­wann mor­gen Abend. Sie wol­len dann mit uns es­sen ge­hen.« Er schlug sich mit der fla­chen Hand ge­gen die Stirn. »Stimmt ja, ich muss noch einen Tisch re­ser­vie­ren.«

»Bei Lu­i­gi?«

Jan nick­te und be­leg­te sein Brot mit ei­ner Schei­be Kä­se, auf der er Mar­me­la­de ver­teil­te.

»Ist ja na­he lie­gend, im wört­li­chen Sin­ne. Im­mer­hin liegt sein Re­stau­rant ziem­lich ge­nau zwi­schen hier und dem Ho­tel, das mei­ne El­tern ge­bucht ha­ben.«

»Ich freu mich drauf, sie end­lich ken­nen­zu­ler­nen.«

»War­te es ab«, unk­te Jan. »Mei­ne Mut­ter wird dich durch­leuch­ten wie ein Rönt­gen­ap­pa­rat und mein Va­ter wird nichts un­ver­sucht las­sen, um dich da­von zu über­zeu­gen, dass du auf der gan­zen Welt kei­nen grö­ße­ren Ver­sa­ger hät­test fin­den kön­nen.«

»Ach, Schnucki …«

»Doch wirk­lich! Das Net­tes­te, was die bei­den je ge­tan ha­ben, war, nach Mal­lor­ca um­zu­sie­deln, da­mit wir uns mög­lichst sel­ten se­hen müs­sen.«

»Sie sind doch wohl kaum we­gen dir da­hin ge­zo­gen.«

Jan zuck­te mit den Schul­tern. »Sie wa­ren so höf­lich, an­de­re Grün­de vor­zu­schie­ben.«

Yvon­ne hob ei­ne Au­gen­braue und wech­sel­te das The­ma. »Wann kom­men die an­de­ren?«

»Am Frei­tag«, ant­wor­te­te Jan, biss in sein Brot und warf einen ver­stoh­le­nen Blick auf sei­ne Ver­lob­te.

Sie aß schwei­gend. Er wuss­te, sie moch­te sei­ne Freun­de, doch es war noch kein Jahr ver­gan­gen, seit er sie mit Kris­ti­na be­tro­gen hat­te. Und das, ob­wohl er hoch und hei­lig ge­schwo­ren hat­te, nie wie­der fremd­zu­ge­hen. Die­ser Ver­trau­ens­bruch tat ihr si­cher noch im­mer weh, und der Ge­dan­ke, Kris­ti­na wie­der­zu­se­hen, er­füll­te Yvon­ne ge­wiss mit Un­be­ha­gen, was er gut ver­ste­hen konn­te.

Er rech­ne­te es ihr hoch an, dass sie trotz al­lem zu­ge­stimmt hat­te, Kris­si und Ste­phan zur Hoch­zeit ein­zu­la­den.

Sie trank ihr Glas mit Oran­gen­saft leer und stand auf. »Ich geh du­schen. Räums­te auf, be­vor du gehst?«

»Okay.« Jan er­hob sich eben­falls, nahm ih­re Hand und zog sie in sei­ne Ar­me. »Du bist im­mer noch sau­er we­gen da­mals, oder?«

Yvon­ne schüt­tel­te den Kopf. »Nee, bin ich nicht.«

»Hör zu, ich weiß, dass ich Mist ge­baut und dir weh­ge­tan ha­be, En­gel. Es tut mir leid, mehr, als ich sa­gen kann. Ich war ein rie­sen­großer Voll­trot­tel.«

»Ist schon gut, lass den Da­ckelblick«, sag­te sie ernst. »Du weißt, ich mag Kris­si. Und ich freu mich ja auch auf sie und die an­de­ren. Es ist halt nur im­mer noch et­was … merk­wür­dig.«

Jan nick­te. »Na klar. So geht es mir, wenn ich Sven­ja se­he. Im­mer­hin bin ich da­für ver­ant­wort­lich, dass sie jetzt Wit­we ist.«

»Das war ’n däm­li­ches Un­glück, Schnucki! Und er hat­te es ver­dient, die­ser er­bärm­li­che Mist­kä­fer.«

Jan woll­te das The­ma nicht ver­tie­fen. Er lös­te sich von Yvon­ne und sah auf sei­ne Arm­band­uhr. »En­gel, ich glau­be, du musst dich be­ei­len. In ei­ner hal­b­en Stun­de be­ginnt der Step-Kurs.«

Sie folg­te sei­nem Blick. »Ver­damm­ter Mist, du hast recht.«

Auf dem Weg ins Bad schimpf­te sie: »Wie­so has­te mich nicht frü­her ge­weckt, ver­flucht?«

Er schmun­zel­te. »Ach, En­gel?«

Sie hat­te die Ba­de­zim­mer­tür er­reicht und dreh­te sich ge­reizt zu ihm um. »Was ist?«

»Spä­tes­tens, wenn der klei­ne Ho­sen­matz da ist, soll­test du un­be­dingt an dei­ner nicht ganz ju­gend­frei­en Aus­drucks­wei­se ar­bei­ten.«

La­chend ver­schwand sie im Bad.


Lu­i­gi kam eil­fer­tig und mit ei­nem brei­ten Grin­sen, das einen blin­ken­den Gold­zahn ent­hüll­te, auf sei­ne Gäs­te zu, die Ar­me weit aus­ge­brei­tet.

»Aah, Yvon­ne, la mia bel­lez­za, du se­hen heu­te wie­der fan­ta­sti­co aus!« Er er­griff ih­re Hand, drück­te einen zar­ten Kuss dar­auf und be­trach­te­te un­ge­niert ih­ren kaum sicht­ba­ren Ba­by­bauch. »Wie es ge­hen die Bam­bi­no?«

»Be­ne«, lä­chel­te Yvon­ne huld­voll. »Gra­zie, Lu­i­gi.«

Jan grins­te. In der Ge­sell­schaft des char­man­ten Lu­i­gi äh­nel­te sei­ne Ver­lob­te mehr ei­ner ita­lie­ni­schen Prin­zes­sin als ei­ner Ber­li­ner Fit­ness-Trai­ne­rin.

Der Re­stau­rant­be­sit­zer mit dem ge­gel­ten, grau­me­lier­ten Haar und dem dün­nen Schnurr­bart wand­te sich nun an ihn. »Jan, il mio ami­co, wie du has­te ge­schafft, dass die­se Traum­frau aus­ge­rech­net hei­ra­tet dich, he?«

Jan zuck­te fei­xend mit den Schul­tern. »Das musst du sie schon selbst fra­gen, Kum­pel.«

Lu­i­gi rea­gier­te nicht, statt­des­sen warf er einen neu­gie­ri­gen Blick auf die bei­den an­de­ren Gäs­te.

»Mei­ne El­tern«, er­läu­ter­te Jan un­ge­fragt. »Si­gno­ria e Si­gno­re Schro­eder.«

»Ben­ve­nu­ti al­la ›Trat­to­ria Ro­ma‹!« Lu­i­gi deu­te­te ei­ne Ver­beu­gung an. »Ihr mir fol­gen, bit­te. Ich brin­gen euch an eu­re Tisch.«

Nach­dem sie die Ge­trän­ke be­stellt hat­ten, sah sich Jans Mut­ter in­ter­es­siert um. Ihr neu­er­dings kup­fer­far­be­nes kur­z­es Haar glänz­te wie ein frisch ge­präg­tes Fünf-Cent-Stück und ih­re braun­ge­brann­te Haut har­mo­nier­te gut mit dem cre­me­far­be­nen Ko­stüm, das sie trug.

Ja, dach­te Jan, Pa­me­la Schro­eder ist noch im­mer ei­ne at­trak­ti­ve Frau.

Auch sein Va­ter Mar­tin sah für sein Al­ter noch re­la­tiv gut aus, wenn die mal­lor­qui­ni­sche Son­ne ihm auch ei­ni­ge Run­zeln ein­ge­bracht hat­te, sei­ne Haut wirk­te et­was le­dern. Aber sein blon­des, mit ver­ein­zel­ten grau­en Sträh­nen durch­zo­ge­nes Haar war noch im­mer voll.

Das ließ Jan hof­fen, dass es ihm spä­ter ähn­lich ge­hen wür­de. Den Ge­dan­ken, wo­mög­lich ir­gend­wann einen Kahl­kopf zu ha­ben, fand er furcht­bar.

Jan folg­te dem Blick sei­ner Mut­ter. Lu­i­gis Re­stau­rant war urig und rus­ti­kal ein­ge­rich­tet, vie­le Ker­zen und klei­ne Ni­schen sorg­ten für ei­ne ge­müt­li­che At­mo­sphä­re. Wie an fast je­dem Abend wa­ren an­nä­hernd al­le Ti­sche be­legt.

Sei­ne Mut­ter beug­te sich vor und sah ab­wech­selnd von ihm zu Yvon­ne. »So, nun er­zählt mal. Wie weit seid ihr mit den Vor­be­rei­tun­gen? Kön­nen wir euch noch bei ir­gen­det­was hel­fen? Oder euch fi­nan­zi­ell un­ter­stüt­zen?«

Jan wink­te ab und Yvon­ne schüt­tel­te den Kopf.

»Dan­ke, dass ist lieb, aber echt nicht nö­tig. Wir kom­men klar.«

»Seid ihr schon sehr auf­ge­regt?«, frag­te Pa­me­la wei­ter, ein neu­gie­ri­ges Blit­zen in den Au­gen.

»Ja, schon.« Yvon­ne nahm Jans Hand und lä­chel­te ihm zu. »Und du, Schnucki?«

»Klar. Ich kann es gar nicht mehr ab­war­ten.« Dass mei­ne lie­ben El­tern wie­der ab­rei­sen, dach­te er.

Pa­me­la lä­chel­te ge­rührt, doch Jans Va­ter wech­sel­te das The­ma.

»Mal et­was an­de­res, mein Sohn: Was hat es mit die­ser Vor­stra­fe auf sich? Das, was du bis­her er­zählt hast, war nicht sehr auf­schluss­reich. Im Ge­gen­teil, es wa­ren nur ein paar va­ge An­deu­tun­gen. Jörg und Ani­ta wuss­ten auch nicht ge­nau, was da los war.«

Jan seufz­te ver­nehm­lich und lehn­te sich zu­rück.

Als sei­ne El­tern von Be­kann­ten, die sie auf Mal­lor­ca be­sucht hat­ten, er­fah­ren muss­te, dass ihr Sohn ver­ur­teilt und vor­be­straft war, hat­ten sie ihn vor ein paar Ta­gen völ­lig auf­ge­löst an­ge­ru­fen.

Er hat­te ih­nen nur mit­tei­len kön­nen, dass er Be­wäh­rung be­kom­men hat­te, da­nach war die Ver­bin­dung ab­ge­bro­chen, weil sein Te­le­fon ka­putt ge­gan­gen war. Er hat­te die­se Fra­ge da­her er­war­tet, den­noch nerv­te sie ihn.

»Jan hat nichts Fal­sches ge­tan«, nahm Yvon­ne ihn in Schutz. »Oder, na ja, fast nichts.«

Sein Va­ter sah Jan mit vor der Brust ver­schränk­ten Ar­men ab­war­tend an.

Er kann­te die­se Ges­te noch aus sei­ner Kind­heit.

Im­mer, wenn er et­was an­ge­stellt hat­te, war die­ser Blick sei­nes Va­ters ihm durch und durch ge­gan­gen, und er hat­te ge­wusst, dass ei­ne Stand­pau­ke fol­gen wür­de, die sich ge­wa­schen hat­te.

Er hol­te tief Luft.

»Al­so gut, die Kurz­form«, be­gann er. »Der Mann mei­ner Freun­din Sven­ja hat Yvon­ne … be­läs­tigt. Mas­siv be­läs­tigt. Als ich ihn zur Re­de stell­te, saß er ge­ra­de in der Sau­na im Haus mei­nes Freun­des Ma­ri­us. Ich war wü­tend und be­trun­ken und ha­be ihn dar­in ein­ge­sperrt. Be­dau­er­li­cher­wei­se schlief ich ein, be­vor ich ihn wie­der her­aus­las­sen konn­te, und am nächs­ten Mor­gen war er …«

Jan ver­stumm­te und sah ver­le­gen vor sich auf den Tisch.

»Oh mein Gott«, hauch­te sei­ne Mut­ter und schlug sich ei­ne per­fekt ma­ni­kür­te Hand vor den Mund.

Ih­re grü­nen Au­gen starr­ten un­gläu­big auf ih­ren Sohn.

»Du meinst, du hast ihn … um­ge­bracht?«, ver­ge­wis­ser­te sich sein Va­ter ent­setzt, aber glück­li­cher­wei­se so lei­se, dass es nie­mand von den an­de­ren Gäs­ten hö­ren konn­te. Jan spür­te, dass Yvon­ne un­ter dem Tisch nach sei­ner Hand griff.

»Es war Kör­per­ver­let­zung mit To­des­fol­ge«, be­rich­tig­te Jan trot­zig. »Ich ha­be ihm doch nichts tun wol­len. Er soll­te nur einen ge­wal­ti­gen Schre­cken be­kom­men.«

Er­schüt­tert ließ sein Va­ter sich im Stuhl zu­rück­sin­ken. »Ich bin si­cher, das ist dir ge­lun­gen«, sag­te er spöt­tisch.

Dann wand­te er sich an Yvon­ne. »Hast du dir die Sa­che mit der Hoch­zeit wirk­lich gut über­legt?«

Die Ge­trän­ke ka­men und Jan warf Yvon­ne einen ›Was-hab-ich-dir-ge­sagt?‹-Blick zu. Sie roll­te kurz mit den Au­gen und lä­chel­te ihm be­ru­hi­gend zu, doch er wuss­te, dass sei­ne El­tern ihr Pul­ver noch längst nicht ver­schos­sen hat­ten.

Das Geheimnis der Anhalterin

Подняться наверх