Читать книгу Das Geheimnis der Anhalterin - Britta Bendixen - Страница 4
Kapitel 1 – Krise & Karriere
ОглавлениеEs blitzt und donnert. An ihrem Rücken spürt Kristina den weichen Teppich.
»Endlich, Krissi!«, keucht Jan und dringt tiefer in sie ein. »Endlich!«
Eng umschlungen bewegen sie sich, finden ihren Rhythmus. Sein Stöhnen in ihren Ohren, seine glatte Haut auf ihrem erhitzten Körper … Es ist so schön, doch sie kann es nicht genießen, weil sie spürt, dass ein Unheil naht, eine furchtbare Katastrophe.
Wieder donnert es. Dann wird es mit einem Mal so hell, dass sie glaubt, ein Blitz sei eingeschlagen. Das grelle Licht blendet sie und ihr Herz beginnt so hart gegen ihren Brustkorb zu hämmern, als suche es panisch einen Weg hinaus, raus aus ihrem Körper.
Sie sieht zur Tür.
Dort steht Stephan, die Hand am Lichtschalter, und starrt sie an. Seine Augen blitzen vor Wut und sein Gesicht verzerrt sich zu einer grässlichen Fratze …
Kristina Wilbert keuchte und setzte sich mit aufgerissenen Augen ruckartig im Bett auf. Ihr Puls raste.
Schon wieder dieser Traum! Würde er sie bis an ihr Lebensende verfolgen?
Schwer atmend vergrub sie das Gesicht in den Händen, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisiert hatte. Dann fuhr sie sich durch das kurze dunkle Haar. Im Nacken war es feucht, ihr T-Shirt klebte am Rücken. Sie kniff die Augen zusammen und drückte ihre Zeigefinger gegen die Lider, bis bunte Punkte und Muster auftauchten wie surreale Lichtreflexe.
Sie ließ die Hände sinken, blinzelte und wartete ab, bis sie im Dämmerlicht die vertrauten Konturen erkennen konnte; das Fernsehgerät auf dem kleinen Regal, die Grünpflanze in der Ecke vor dem Fenster und die Umrisse des Kleiderschranks.
Müde schaute sie zum Wecker. Bis er klingelte, dauerte es noch eine halbe Stunde. Obwohl es noch so früh war, drang bereits die Morgendämmerung an den Seiten des Verdunkelungsrollos durch.
Es schien wieder ein sonniger Tag zu werden. Für Mai war das Wetter direkt sommerlich gewesen in der letzten Woche und laut dem Wetterbericht sollte es zumindest noch bis zum nächsten Tag so bleiben. Vielleicht sogar länger. Doch in diesem Jahr gelang es dem schönen Frühlingswetter nicht wie sonst, Kristinas Laune zu heben.
Sie hörte ein leises Schnarchen neben sich, vermischt mit kurzen Grunztönen, und wandte den Kopf. Stephan lag auf dem Rücken, der nackte Oberkörper war unbedeckt, das Gesicht völlig entspannt. Er sah so friedlich und unschuldig aus. Kristina musste bei dem Anblick lächeln. In Momenten wie diesen war er ihr fast so nah wie früher.
Sie seufzte leise, legte sich wieder hin und starrte an die Decke. Gewiss würde sie nicht mehr einschlafen können. Statt sich in den nächsten dreißig Minuten unruhig herumzuwälzen, konnte sie genauso gut aufstehen.
Vorsichtig, um Stephan nicht zu wecken, schlug sie die Decke zur Seite, setzte sich auf und verließ leise den Raum.
Kurz darauf durchzog anregender Kaffeegeruch die Küche. Kristina saß mit einem dampfenden Becher am Esstisch und starrte vor sich hin.
Die Morgensonne tauchte den Raum in warmes Licht. Klitzekleine Staubpartikel tanzten in den Sonnenstrahlen. Auf der Eiche vor dem Fenster zwitscherten ein paar Vögel ihre morgendliche Ouvertüre, von Ferne war ein vergnügtes Lachen zu hören und das übermütige Bellen eines Hundes.
Auf dem Tisch lag der Brief, den Jan ihr im März geschickt hatte. Sie erinnerte sich, dass noch tiefer Schnee gelegen hatte. Ein harter und langer Winter hatte Norddeutschland fest im Griff gehabt. Sie überflog das vor ihr liegende Schreiben noch einmal, obwohl sie es mittlerweile fast auswendig konnte.
Es sei ihm und Yvonne unheimlich wichtig, dass sie und Stephan zu ihrer Hochzeit kämen, schrieb Jan. Er wolle sich unbedingt noch bei Stephan entschuldigen und hoffe, dass sie wieder zurückfinden würden zu der Freundschaft, die sie einst verbunden hat.
Das sagt sich alles so einfach, dachte Kristina bedrückt und nippte an ihrem Kaffee, doch genau das ist es leider nicht.
Zu dem Zeitpunkt, als Jans Brief angekommen war, schien es noch eine Chance für Stephan und sie zu geben. Ihr Verhältnis zueinander war beinahe wieder normal gewesen.
Sie hatte schon erleichtert aufgeatmet. Zu früh, wie sich herausstellte. Der Brief riss die fast verheilte Wunde wieder auf und inzwischen hegte Kristina große Zweifel, dass es zwischen Stephan und ihr je wieder so werden könnte, wie es früher gewesen war.
Ihre Bitte, Jans Einladung anzunehmen und nach Berlin zu fahren, hatte die Sache nicht gerade besser gemacht. Stephan verspürte nicht das geringste Bedürfnis, zur Hochzeit zu fahren. Er war noch immer verletzt und wollte Jan keinesfalls wiedersehen.
Kurzzeitig hatte Kristina dann auch darüber nachgedacht, abzusagen und die Reise nicht anzutreten. Doch Stephans ständige vorwurfsvolle Miene und seine schlechte Laune riefen irgendwann Trotz in ihr hervor.
Sie war es satt, zu Kreuze zu kriechen.
Außerdem wollte sie nach Berlin. Sie freute sich auf Jans unbekümmertes Grinsen, auf Yvonnes Herzlichkeit, auf Marius‹ ruhige, freundliche Art, und vor allem auf Svenja, der sie mehr vertraute als sonst jemandem.
Am vergangenen Abend hatten Stephan und sie erneut diskutiert – nein, vielmehr gestritten – und schließlich hatte sie wütend zu ihm gesagt, wenn er nicht mitwolle, könne er ja zu Hause bleiben. Sie würde auf jeden Fall fahren. Ende der Debatte.
Und das Ergebnis? Wieder einmal waren sie schlafen gegangen, ohne sich wie früher vorher zu versöhnen. Jeder fühlte sich unverstanden. Sie lagen zwar im selben Bett, doch zwischen ihnen war eine Mauer, so hoch und unüberwindlich wie eine mittelalterliche Festung. Kein Wunder, dass der Traum sie erneut gequält hatte.
Kristina leerte ihren Becher und vertiefte sich in die Einladung zur Hochzeit. Noch war offen, ob sie allein fahren oder ob Stephan sie begleiten würde.
Inzwischen war sie nicht einmal mehr sicher, ob ihr überhaupt daran lag, dass er mitkam.
»Morgen.« Stephan betrat schlurfend die Küche, in kurzen grauen Shorts und dem ausgewaschenen gelben T-Shirt, das ihn immer so blass und krank aussehen ließ.
Während sie Jans Brief zusammenfaltete, musterte sie ihn. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Er hatte offenbar nicht besonders gut geschlafen. Recht so. Sie hatte schließlich auch keine angenehme Nacht gehabt.
Stephan goss sich ebenfalls einen Kaffee ein, dann setzte er sich ihr gegenüber an den Tisch. Sein Blick fiel auf die Einladung und den Brief. Schweigend sahen sie sich an. Er nippte an seinem Kaffee und räusperte sich.
»Ich habe darüber nachgedacht. Wenn du unbedingt hinfahren möchtest, dann komme ich eben mit.«
Sie wunderte sich über die Sinneswandlung, zuckte aber nur mit den Achseln. »Wie du willst.«
Stille. Eine einsame Fliege schwirrte umher, ansonsten war nur das Geräusch der Küchenuhr zu hören und das Zwitschern der Vögel im Vorgarten.
»Es ist dir egal, oder?«
Er bemühte sich sichtlich, seine Erschütterung über diese offensichtliche Tatsache vor ihr zu verbergen, doch sie kannte ihn zu gut, als dass es ihr entgangen wäre. Sie hob das Kinn und sah ihn geradewegs an. »Ganz ehrlich? Ja. Es ist mir gleich. Denn so, wie es im Moment zwischen uns beiden läuft, wäre eine Pause vielleicht sogar ganz gut.«
»Das könnte dir so passen!« Stephan stand so abrupt auf, dass die Stuhlbeine auf dem Fliesenboden einen misstönenden Laut erzeugten. Er lehnte sich an die Arbeitsplatte, funkelte sie wütend an und verschränkte die Arme. »Damit du dich ungestört mit Jan auf irgendeinem Teppich wälzen kannst. Oder mit einem anderen. Vergiss es!«
Kristinas Hände, die sie um den leeren Kaffeebecher gelegt hatten, verkrampften sich, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Zum einhundertsten Mal: Ja, ich habe einen Fehler gemacht. Und ich habe dafür bezahlt, verdammt noch mal! Seit Monaten lässt du mich am ausgestreckten Arm verhungern, egal wie oft ich dich um Verzeihung gebeten habe.«
Er schwieg. Traurig schaute sie ihn an. »Ich kann nicht mehr, Stephan. So geht es nicht weiter. Entweder du kommst langsam darüber hinweg und gibst unserer Ehe noch eine ernsthafte Chance, oder wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen.«
Seine Augen wurden schmal. »Redest du von Scheidung?«
Sie lehnte sich auf dem Korbstuhl zurück und nun war sie es, die die Arme verschränkte. »Zumindest von einer räumlichen Trennung, ja. Denn wenn es so zwischen uns weitergeht, macht es uns beide früher oder später kaputt.«
Stephan schnaubte und riss empört die Arme hoch. »Entschuldige vielmals, dass ich nicht gleich wieder zur Tagesordnung übergehen kann, wenn du dich nackt mit deinem ›alten Freund‹ auf einem Teppich herumwälzt wie eine billige -«
»Das reicht!« Kristina stand auf, so schnell, dass ihr Stuhl um ein Haar umgefallen wäre. In scharfem Ton fuhr sie fort. »Ich habe keine Kraft mehr für diese müßigen Streitereien. Und jetzt entschuldige mich, ich muss die Kinder wecken. Wenn sie von dem Lärm noch nicht aufgewacht sind.« Ohne ein weiteres Wort rauschte sie an ihm vorbei und verließ den Raum.
Nachdem Marco und Leonie ihr verschlafen versichert hatten, sie würden gleich aufstehen, verdrückte sich Kristina ins Bad. Dort starrte sie in den Spiegel.
Sie hatte alles kaputt gemacht. Hatte sich von Jan einlullen lassen wie eine fünfzehnjährige graue Maus, die um Aufmerksamkeit buhlte. Wollte einmal im Leben nicht vernünftig sein. Und was hatte es ihr gebracht? Immer wiederkehrende Alpträume von dem furchtbaren Moment, in dem ihr Mann sie in flagranti erwischt hatte, und eine Ehe, die auf der Kippe stand, so sehr, dass sie fast Bodenkontakt hatte.
Tief in ihrem Inneren ahnte Kristina, dass das Wochenende bei Jan und Yvonne eine Entscheidung bringen würde. Entweder wäre danach alles vorbei, oder sie und Stephan würden wieder zueinander finden.
Im Augenblick war sie geneigt, von Ersterem auszugehen.
***
Während Svenja Schiller Kartoffeln schälte, warf sie einen kurzen Blick auf die Wanduhr. Es war viertel vor eins. Julian und Jana würden erst in einer halben Stunde hungrig auf der Matte stehen.
Svenja sah aus dem Küchenfenster hinaus in den Vorgarten. Vom Kirschbaum waren die schönen rosa Blüten abgefallen und lagen wie eine flauschige Decke um den dicken Baumstamm herum.
Die hübsch gestreifte Nachbarskatze stapfte vorsichtig darin herum, und wenn der Wind die Blüten bewegte, jagte sie wie ein Derwisch hinter ihnen her. Es war ein niedlicher, idyllischer Anblick, der Svenja unwillkürlich lächeln ließ.
Als sie zwei Packungen mit Fischstäbchen aus dem Gefrierschrank hervorkramte, klingelte das Telefon. Die kalten Packungen in der Hand schlug sie die Schranktür zu und hetzte ins Wohnzimmer.
Ein Blick auf das Display zeigte ihr, dass es Marius war, der aus der Klinik anrief.
»Hallo Liebling,« meldete sie sich erfreut.
»Hi!« Er klang ein wenig abgehetzt. »Ich habe nicht viel Zeit, weil ich in den OP muss. Hol dir doch bitte schnell einen Zettel und einen Stift.«
In der Küche legte sie die Fischstäbchen zur Seite, öffnete eine Küchenschublade und zog einen Kuli und einen Notizblock heraus.
»Ok, ich bin bereit. Worum geht es?«
»Mein Freund Rüdiger hat mich angerufen, du weißt schon, der Anwalt. Er hat von einer Kollegin gehört, deren Partner aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig aufhören musste. Sie sucht daher dringend jemanden, der bei ihr einsteigt. Ich dachte, das wäre vielleicht das Richtige für dich.«
»Ja, das klingt großartig«, rief Svenja. Sie hörte selbst, wie euphorisch ihre Stimme klang. Auf eine solche Chance wartete sie schon viel zu lange.
»Ich gebe dir mal ihre Nummer. Sie heißt Eva Heckenburg und praktiziert in der Innenstadt. Ruf sie gleich an«, riet Marius und diktierte Svenja die Telefonnummer. »Bis heute Abend, mein Schatz. Ich wünsche dir viel Glück!«
Sie hatte kaum das Gespräch beendet, als sie auch schon die Nummer von Rechtsanwältin Heckenburg wählte. Der Anrufbeantworter teilte ihr freundlich mit, dass sie außerhalb der Geschäftszeiten anrief. Das Büro sei ab fünfzehn Uhr wieder besetzt. Na, dann musste sie es eben in zwei Stunden noch einmal versuchen.
Die Zeit bis dahin verging rasch. Jana und Julian kamen nach Hause, feuerten Jacken und Taschen in die nächstbeste Ecke und versicherten, sie seien kurz vorm Verhungern.
Svenja verdonnerte Jana zum Tischdecken und Julian dazu, seine Sachen und die seiner Schwester ordentlich wegzuräumen.
Die Kinder gehorchten, wenn auch ohne große Begeisterung Diese Aufgaben gehörten einfach zur täglichen Routine.
Als sie zu dritt am Mittagstisch saßen, berichtete Jana vom Kindergarten. Sie hatte sich mit ihrer besten Freundin gestritten, »ganz doll, Mami!«, aber inzwischen wieder vertragen.
Julian hatte eine Drei in Mathe bekommen und war total sauer darüber.
»Dann musst du eben das nächste Mal gründlicher lernen«, riet Svenja. »Nicht nur am letzten Tag vor der Arbeit. Fang einfach etwas früher an.«
Julian schmollte und verarbeitete seine Fischstäbchen zu Geschnetzeltem.
Nach dem Essen verschwanden die Kinder in ihren Zimmern und Svenja räumte die Küche auf.
Anschließend setzte sie sich mit einem Buch auf die Terrasse, um ein paar Sonnenstrahlen zu erhaschen. Allerdings konnte sie sich nicht so recht auf den Thriller konzentrieren, weil sie immer wieder zur Uhr sah.
Als diese endlich drei Uhr anzeigte, legte Svenja ihr Buch zur Seite, atmete tief durch und griff zum Telefon. Vor Aufregung vertippte sie sich zweimal.
Dann klingelte es am anderen Ende. Svenja räusperte sich nervös.
Die Sekretärin stellte sie zu Frau Heckenburg durch, die sympathisch klang und Svenja einlud, noch an diesem Nachmittag vorbeizukommen.
Als sie auflegte, breitete sich vorsichtiger Optimismus in Svenja aus. Endlich ihren Beruf als Anwältin ausüben zu können war das Einzige, was sie sich noch wünschte.
Dann wäre ihr Leben rundum perfekt.
Marius, ihr alter Freund aus Studententagen, hatte ihr nach dem Tod ihres Mannes angeboten, sie zu unterstützen, wenn sie Hamburg, ihrem bisherigen Wohnort, den Rücken kehren und mit Jana und Julian nach Flensburg ziehen wolle. Erleichtert und voller Dankbarkeit war sie auf seinen Vorschlag eingegangen.
Flensburg gefiel ihr; die Nähe zur Ostsee, die gemütliche Innenstadt und die freundlichen Menschen hatten es ihr leichtgemacht, sich einzuleben.
Der wichtigste Grund, weshalb der Umzug nach Flensburg ihr nicht schwergefallen war, hieß jedoch Marius.
Er war ihre Jugendliebe gewesen und das Wiedersehen mit ihm im letzten Sommer hatte die Gefühle, die sie vor vielen Jahren für ihn empfunden hatte, vorsichtig wiederaufleben lassen. Ihm schien es ebenso zu gehen und in den letzten Monaten waren sie sich ganz behutsam nähergekommen und hatten noch einmal zueinander gefunden.
Inzwischen wohnten sie sogar zusammen. Svenja seufzte und sah sich zufrieden um. Der Garten war nicht groß, aber ruhig und schön angelegt. Das Haus hatte helle, freundliche Räume, bot ausreichend Platz und lag verkehrsgünstig. Ganz in der Nähe befand sich der Twedter Plack, ein kleines, gemütliches Stadtteilzentrum mit vielen Einkaufsmöglichkeiten.
Auch Svenjas Kinder fühlten sich mittlerweile wohl in ihrem neuen Zuhause. Es war für die beiden nicht leicht gewesen, zu realisieren, dass ihr Papa nie mehr wiederkommen würde. Besonders für Julian war es sehr schwer gewesen.
Anfangs war er dem neuen Mann im Leben seiner Mutter mit Misstrauen begegnet, war frech und beleidigend gewesen, doch inzwischen verstanden sich die zwei erstaunlich gut – dank Marius‹ Geduld und Einfühlungsvermögen. Julian verstand sich sogar mit Charlotte, der Tochter von Marius, die jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater verbrachte. Ihr hatte Julian das größte Kompliment gemacht, das er einem Mädchen machen konnte:
»Wenn sie nicht so lange Haare hätte, könnte sie fast ein Junge sein.«
Svenja stand auf. Es wurde Zeit, sich auf das Bewerbungsgespräch mit Rechtsanwältin Heckenburg vorzubereiten.
»Julian, ich muss gleich weg. Ist es okay, wenn du mit Jana für ein oder zwei Stunden allein bleibst?«
Svenja trat neben ihren Sohn, der am Schreibtisch in seinem Zimmer saß und Hausaufgaben machte.
»Klar. Geht in Ordnung«, antwortete er hochblickend. »Wo willst du denn hin?«
Svenja schob sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr und lächelte zaghaft. »Ich habe gleich ein Vorstellungsgespräch und bin etwas aufgeregt«, gestand sie.
Julian grinste. »Das ist die Untertreibung des Jahres. Oder ist es Absicht, dass du zwei verschiedene Ohrringe trägst?«
Svenjas Hände fuhren an ihre Ohren. »Ach herrje! Danke, mein Schatz.« Sie zog beide Stecker heraus und drückte ihrem Ältesten einen Kuss auf die Stirn. »Wünsch mir Glück!«
»Viel Glück, Mama. Darf ich fernsehen, wenn ich fertig bin?«
»Es wäre mir lieber, wenn du noch ein bisschen an die frische Luft gehst«, sagte Svenja. »Es ist so schönes Wetter. Du kannst mit Jana auf den Spielplatz gehen. Aber vergiss nicht deinen Hausschlüssel.«
Julian seufzte. »Na gut. Bis später.«
Wenige Minuten später machte Svenja sich in ihrem kleinen Nissan auf den Weg in die Innenstadt, am Kraftfahrtbundesamt vorbei, die Mürwiker Straße hinunter.
Bald erreicht sie Sonwik. Von hier hatte man einen großartigen Blick auf die Altstadt und den Hafen mit dem ruhigen, glitzernden Wasser. Die Aussicht entzückte Svenja besonders bei so schönem Wetter jedes Mal aufs Neue.
Das Büro der Kanzlei Heckenburg & Schäfer lag in der zweiten Etage eines eleganten Altbaus in der Rathausstraße, dicht an der Fußgängerzone. Vom Parkhaus in der Holmpassage brauchte Svenja nur wenige Minuten.
Mit heftigem Herzklopfen betrat sie die Kanzlei.
Eine Sekretärin mit kurzen roten Haaren und blassen Sommersprossen begrüßte Svenja freundlich und bat sie, im Warteraum Platz zu nehmen.
Sie setzte sich und sah sich nervös um.
Das Wartezimmer war in beruhigenden Grüntönen gehalten und hübsch eingerichtet: An den beiden Längsseiten standen jeweils drei Korbstühle, dazwischen befand sich ein passender Tisch mit Zeitschriften.
In einer Ecke gab es einen Spieltisch mit zwei Kinderstühlen und darunter eine Kiste mit Legosteinen und eine mit Malsachen. Der Anblick ließ Svenja an Julian denken, der mit seiner Schwester ganz allein zu Hause war. Mit elf Jahren war er zwar alt genug, um mal für ein oder zwei Stunden unbeaufsichtigt zu sein und auf Jana aufzupassen, dennoch hatte Svenja immer ein ungutes Gefühl dabei.
Um sich abzulenken, stand sie auf und trat ans Fenster. Von hier aus konnte sie auf die leicht abschüssige Rathausstraße hinabsehen. Autos, Busse und Motorräder rumpelten lautstark über das Kopfsteinpflaster, auf den Gehwegen schlenderten oder eilten Passanten.
Svenja ging zurück zu ihrem Stuhl und sah noch einmal ihre Unterlagen durch. Ein mutloses Seufzen entrang sich ihrer Brust. Viel war es nicht, was sie zu vorzuweisen hatte. Sie machte sich nichts vor; dass Eva Heckenburg sie einstellen würde, war ziemlich unwahrscheinlich.
Es dauerte knapp zehn Minuten, bis die Sekretärin in der Tür zum Wartezimmer auftauchte und Svenja bat, ihr zu folgen. Als sie in Frau Heckenburgs Büro traten, stand die Anwältin von ihrem Platz hinter dem mit Aktenbergen beladenen Schreibtisch auf und kam Svenja entgegen.
»Frau Schiller, wie schön, dass Sie gleich Zeit hatten«, sagte sie liebenswürdig und reichte ihr eine mit mehreren großen, goldenen Ringen geschmückte Hand. »Setzen Sie sich. Möchten Sie einen Kaffee?«
Svenja nahm auf einem der beiden Stühle vor dem Schreibtisch Platz. »Ja, sehr gern. Danke.«
Frau Heckenburg nickte ihrer Mitarbeiterin zu.
Nachdem diese die Tür wieder geschlossen hatte, warf die Anwältin einen Blick auf die Bewerbungsmappe in Svenjas Hand: »Darf ich?«
»Natürlich.«
Die Mappe wanderte über den Schreibtisch und Eva Heckenburg blätterte durch die wenigen Seiten.
Svenja musterte sie währenddessen. Die Anwältin war vermutlich Mitte Vierzig, also etwa zehn Jahre älter als sie selbst. Sie hatte kurzes, stufig geschnittenes hellblondes Haar und trug dazu große, runde Schildplatt-Ohrringe.
Ihre rote, eckig geformte Brille kontrastierte hervorragend mit dem leicht runden Gesicht. Svenja hatte den Eindruck, dass die Anwältin eine Person war, die genau wusste, was sie wollte. Und wie sie es bekam.
Eva Heckenburg sah auf und unterbrach damit Svenjas Überlegungen.
»Sie haben nie praktiziert?«, vergewisserte sie sich.
Svenja schüttelte verlegen den Kopf. »Leider nein. Direkt nach dem Studium wurde ich schwanger und habe geheiratet. In den letzten Jahren habe ich mich voll auf meine Familie konzentriert. Doch jetzt sind die Kinder aus dem Gröbsten heraus und ich würde wirklich gern endlich als Anwältin arbeiten.«
Eva Heckenburg nickte langsam, den Blick nach wie vor auf die Unterlagen in ihren Händen gerichtet. »Es hat sich einiges verändert in den letzten Jahren«, sagte sie ernst. »Wir bearbeiten sehr viele Familienrechtssachen und gerade im Hinblick auf den Unterhalt gibt es eine Menge Neuerungen. Das gilt auch für das Kostenrecht. Die BRAGO wurde vom RVG abgelöst. Sind Sie einigermaßen auf dem Laufenden?«
Natürlich kannte Svenja die Kurzformen für die Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung und das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, doch mit den entsprechenden neuen Paragraphen hatte sie noch nie gearbeitet. Wie auch?
»Ich habe darüber gelesen und mich informiert, ja. Praktisch anwenden konnte ich diese Kenntnisse leider noch nicht. Doch ich bin gern bereit, mich einzuarbeiten und das Versäumte möglichst rasch nachzuholen. Ich könnte Seminare und Fortbildungen besuchen oder -«
Die Tür öffnete sich und die Sekretärin stellte ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee, einem Sahnekännchen und einem Zuckertopf auf den Schreibtisch. Dann lächelte sie Svenja kurz zu und ging wieder hinaus.
Eva Heckenburg goss etwas Sahne in ihre Tasse.
»Was das Thema Seminare angeht … Ich bräuchte recht bald einen Ersatz für meinen Partner«, gab sie zu bedenken und lehnte sich mit der Tasse in beiden Händen zurück.
»Spätestens zum ersten Juli. Für einen Anwalt allein haben wir einfach zu viele laufende Fälle. Das ist auf Dauer nicht zu schaffen. Glauben Sie, bis dahin könnten Sie -«
»Ganz sicher.« Svenja nickte der Anwältin überzeugt zu. »Ich hatte in der letzten Zeit so wenig zu tun, dass ich froh wäre, endlich wieder etwas Nützliches machen zu können, das mir darüber hinaus auch Freude bringt.« Sie nippte an ihrem Kaffee. Mit einem Lächeln stellte sie die Tasse wieder zurück. »Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb ich gern hier arbeiten würde.«
»Und der wäre?«
Svenja schlug die Beine übereinander und schmunzelte. »Der Kaffee ist einfach köstlich.«
Eva Heckenburg musste lachen. »Ja, ich weiß, er schmeckt toll.« Dann wurde sie wieder ernst. »Sie gefallen mir, Frau Schiller. Ich glaube, wir kämen gut miteinander zurecht.«
»Das Gefühl habe ich auch«, stimmte Svenja erleichtert zu.
»Vielleicht könnten Sie sich in den nächsten Tagen darüber informieren, ob in Kürze entsprechende Seminare angeboten werden«, schlug die Anwältin vor.
»Das werde ich ganz gewiss tun.«
Eva Heckenburg zeigte Svenja noch die Räumlichkeiten und das Zimmer, das eventuell ihr Büro werden würde, dann verabschiedeten sie sich voneinander.
»Natürlich kann ich jetzt noch keine endgültige Entscheidung fällen, das verstehen Sie sicher.«
Frau Heckenburg schüttelte Svenja lächelnd die Hand. »Aber halten Sie mich auf dem Laufenden. Je mehr Einsatz ich feststelle, desto besser stehen Ihre Chancen.«
***
Kristina brütete über Klassenarbeiten zum Thema ›Weimarer Republik‹, als sie hörte, dass die Haustür ins Schloss fiel. Sie presste die Lippen aufeinander. Stephan hatte also wieder einmal das Haus verlassen, ohne sich zu verabschieden.
Er nahm sich inzwischen recht oft abends etwas vor. Gemeinsamen Abenden mit ihr ging er so häufig wie möglich aus dem Weg.
Verwunderlich war das nicht. Wenn sie beide zu Hause waren, war die Atmosphäre so frostig, als säßen sie in einem Iglu am Nordpol.
Er wartete immer noch darauf, dass sie einlenkte und die geplante Fahrt nach Berlin absagte. Das jedoch kam für Kristina überhaupt nicht in Frage.
Sie war der Meinung, sich wahrhaftig oft genug entschuldigt zu haben. Außerdem freute sie sich auf das Wiedersehen mit ihren Freunden. Auf keinen Fall würde sie sich das von Stephan vermiesen lassen.
Natürlich hatten auch die Kinder längst mitbekommen, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Marco wirkte bedrückt und verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer. Und Leonie hatte sie vor ein paar Tagen gefragt, warum Papa immer so schlechte Laune hatte.
»Ist er böse auf mich?«, hatte sie ängstlich gefragt.
In dieser Hinsicht konnte Kristina sie beruhigen.
»Nein, Schätzchen, er ist nicht böse auf dich, überhaupt nicht.«
»Aber was hat er denn dann?«
Kristina murmelte daraufhin etwas von Ärger bei der Arbeit, der dem Papa zu schaffen machte.
Ihrer Tochter zu erzählen, dass Stephan wütend auf seine Frau war, hatte sie einfach nicht fertiggebracht.
Leonie hätte wissen wollen, warum das so war. Und wie, bitte schön, sollte sie einer Siebenjährigen erklären, dass der Papa verletzt war, weil die Mama ihn betrogen hatte?
Dem Rattenschwanz an Fragen, der dieser Aussage folgen würde, war sie schlicht nicht gewachsen. Abgesehen davon konnte und wollte sie ihre Kinder nicht damit belasten. Sie könnten ohnehin nicht nachvollziehen, warum das hatte geschehen können.
Sie verstand es ja selbst nicht mehr, wie sollten Marco und Leonie es dann begreifen?
Sie seufzte und widmete sich wieder den einfallsreichen Antworten ihrer Schüler.
Nachdem bereits einer den damaligen Reichspräsidenten in Peter von Hindenberg umgetauft hatte, behauptete ein anderer, der vorletzte Reichskanzler vor Hitler sei »von Pappe« gewesen.
Sollte tatsächlich Herr von Papen gemeint sein, oder war das nur eine moderne Charakterbezeichnung?
Während sie mit ihrem Rotstift Bemerkungen schrieb und Noten gab, schweiften ihre Gedanken wieder zu Stephan ab. Wo war er wohl hingegangen? Sie vermutete, dass er sich mit einem Freund oder Kollegen traf, doch genau wusste sie es nicht. Oder rächte er sich an ihr, indem er die Abende mit einer anderen Frau verbrachte?
Nein, das war unmöglich.
Nachdenklich sah Kristina aus dem Fenster in die Dämmerung. War es wirklich so undenkbar, dass ihr Mann sich von einer anderen Frau trösten ließ?
Stephan war zwar kein Womanizer-Typ mit seinem schütteren Haar und dem kleinen Bauchansatz, doch er konnte sehr charmant sein und hatte Humor. Es gab bestimmt einige Frauen, die ihn anziehend fanden.
Mitten in diese beunruhigenden Überlegungen hinein klingelte das Telefon, das direkt neben Kristina lag.
Sie fuhr erschrocken zusammen, wartete ein paar Herzschläge ab und griff dann nach dem Apparat.
Wer konnte das sein? War Stephan etwas zugestoßen? Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt.
Geh ran, dann weißt du es, forderte sie sich stumm auf und drückte auf die entsprechende Taste. »Wilbert.«
»Hallo Krissi, ich bin es, Svenja.«
Erleichtert lehnte Kristina sich zurück. »Svenja! Wie geht es dir?«
»Sehr gut, danke. Stell dir vor, ich hatte heute ein Vorstellungsgespräch. Ich hoffe so sehr, dass ich den Job bekomme.«
»Das wäre ja super«, sagte Kristina angenehm überrascht.
»Es wäre perfekt«, schwärmte Svenja. »Eine kleine Kanzlei, nur eine Anwältin und ich. Ihr Partner kann nicht mehr praktizieren, also sucht sie einen Ersatz.«
Sie seufzte. »Das Einzige, das für mich spricht, ist, dass ich zeitnah einsteigen könnte und sehr früh davon erfahren habe, durch Marius, weißt du? Aber wenn es noch mehr Bewerber gibt, bin ich vermutlich schnell wieder aus dem Rennen.«
»Nun sieh mal nicht so schwarz. Es kommt doch auf mehr als nur Berufserfahrung an. Stimmte die Chemie zwischen euch?«
»Ja, ich denke schon. Ich fand sie sehr sympathisch, und ich glaube, sie mochte mich auch.«
»Na, siehst du. Dann stehen deine Chancen vermutlich besser, als du denkst.«
Svenja lachte. »Ich glaube, deshalb habe ich dich angerufen. Du hast so eine herrlich optimistische Art. Irgendwie muss ich gewusst haben, dass du mich aufbaust. Danke, Krissi.«
»Gern geschehen. Wie geht’s Marius?«
»Oh, eigentlich sehr gut, aber er arbeitet zu viel. Wenn er so weiter macht, sieht er bald so krank aus wie seine Patienten.«
»Dann wird ihm das Wochenende in Berlin bestimmt guttun.« Kristina klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und stapelte die Arbeiten ihrer Schüler aufeinander. Für heute hatte sie genügend hanebüchene Antworten gelesen.
»Richtig! Gut, dass du Berlin erwähnst«, sagte Svenja. »Eigentlich rufe ich ja genau deswegen an. Ich dachte mir, es ist doch idiotisch, wenn wir mit zwei Autos fahren. Wir könnten euch abholen und fahren dann gemeinsam die restliche Strecke.«
»Ist das nicht ein Umweg für euch?«
»Überhaupt nicht. Ich muss die Kinder vorher ohnehin zu meiner Schwiegermutter bringen – du weißt schon, Nikolais Mutter. Sie wohnt in Quickborn, das ist doch ganz dicht bei Hamburg. Sobald wir Julius und Jana bei ihr abgeliefert haben, fahren wir bei euch vorbei. Kein Problem.«
»Das klingt wirklich vernünftig«, stimmte Kristina erleichtert zu.
Die Fahrt nach Berlin würde zu viert sicherlich entspannter verlaufen. Sie hatte wenig Lust, vier Stunden lang abwechselnd mit Stephan zu streiten oder seinem eisigen Schweigen zu lauschen.
»Dann machen wir es so«, bestimmte Svenja zufrieden. »Sag mal, was schenken wir Jan und Yvonne eigentlich zur Hochzeit? Hast du schon eine Idee?«
»Die habe ich tatsächlich«, erwiderte Kristina. »Aber ob sie gut ist, weiß ich nicht.«
Mit wenigen Worten unterbreitete sie der Freundin ihren Vorschlag.
Svenja stimmte begeistert zu. »Das klingt super. Ich freue mich ja so auf euch alle. Das letzte Mal haben wir uns bei der Gerichtsverhandlung gesehen.«
Kristina schluckte, lehnte sich zurück und zupfte an ihrem Pony. Am Tag der Urteilsverkündung hatten Yvonne und Svenja erfahren, was zwischen Jan und ihr vorgefallen war.
»Wie läuft es denn zwischen dir und Stephan?«, wollte Svenja wissen, als hätte sie den gleichen Gedanken gehabt.
»Na ja, es geht so«, antwortete Kristina unbestimmt. »Mal besser, mal schlechter.«
»Ist er immer noch nicht darüber hinweg?«
»Ehrlich gesagt, er sähe es am liebsten, wenn ich Jan und Yvonne absage«, berichtete Kristina wahrheitsgemäß. »Ihm graut davor, Jan wiederzusehen. Ich habe ihm allerdings klargemacht, dass ich auf jeden Fall fahren werde. Also hat er beschlossen, mitzukommen. Damit er aufpassen kann, dass ich nicht wieder irgendeinen Unsinn mache.«
Svenja schnalzte mit der Zunge. »Na, das kann ja heiter werden.«
»Ja«, seufzte Kristina. »Das befürchte ich auch.«
»Hast du immer noch diese Albträume?«
»Immer mal wieder, ja.«
»Mach dir keine Sorgen, hörst du? Irgendwann hören die von allein auf. Da bin ich sicher.«
»Mag sein«, stimmte Kristina mit leisem Zweifel zu.
»Aber wohl erst dann, wenn Stephan mir meinen Fehltritt verzeiht. Und bis dahin wird noch sehr viel Wasser die Elbe herunterfließen, fürchte ich.«
***
Jan Schroeder drückte den Knopf der Senseo-Kaffeemaschine und lauschte dem monotonen Brummen, während ein dünner Strahl Kaffee in den Becher lief. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und gähnte herzhaft.
Sein Blick fiel nach draußen. Der Balkon vor der Küche ging nach Osten und sah sonnig und einladend aus.
Jan nahm seinen Kaffeebecher, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Es war noch nicht einmal Mitte Mai, doch selbst um diese frühe Uhrzeit wärmten die Sonnenstrahlen schon recht stark.
Diese Woche sollte das Wetter noch so schön bleiben. Die letzte Woche seines Junggesellendaseins.
In fünf Tagen würde Yvonne ihm einen schmalen, goldenen Ring über den Finger streifen – das Symbol schlechthin für Spießigkeit, Abhängigkeit und Verpflichtung einem anderen Menschen gegenüber.
Zumindest hatte er es früher so empfunden.
Jan horchte tief in sich hinein und versuchte herauszufinden, was dieser Gedanke bei ihm auslöste.
Fühlte er Trauer oder Angst vor diesem großen Schritt? Bedauern, dass die wilde Zeit endgültig vorbei war?
Beruhigt stellte er fest, dass die Freude überwog. Er schien wirklich langsam erwachsen zu werden.
Im Gefängnis war ihm klar geworden, dass es Zeit wurde, etwas zu verändern. In den knapp drei Monaten bis zur Verhandlung hatte er sehr viel Gelegenheit zum Nachdenken gehabt.
Seitdem wusste er, dass Yvonne und er zusammen gehörten und er sich glücklich schätzen konnte, dass sie ihn noch nicht zum Teufel gejagt hatte.
Gründe dafür hatte er ihr wirklich reichlich geliefert.
Während er vorsichtig an dem heißen Kaffee nippte und in die Sonne blinzelte, beschloss er, auf dem Balkon den Frühstückstisch zu decken.
Es war herrlich warm und sie konnten über die Oranienburger Straße sehen, bis hin zu der Neuen Synagoge, deren goldene Kuppel in der Sonne glänzte und funkelte wie eine gigantische Krone.
Der Gedanke, Yvonne eine Freude zu machen, beflügelte seine Energie und sogleich begann er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Bald darauf schlurfte Yvonne gähnend in die Küche, in weiße Baumwollshorts und ein lilafarbenes T-Shirt gehüllt, auf dem in orangefarbenen Buchstaben das Logo ›Workout & Wellness‹ prangte. Ihre langen blonden Locken fielen ungekämmt über Schultern und Rücken.
Jan kam gut gelaunt durch die Balkontür auf sie zu. »Guten Morgen, Engel!«, rief er munter. »Hast du gut geschlafen?«
Sie brummte zustimmend.
Er gab ihr einen Kuss und strich zärtlich über ihren leicht gewölbten Bauch. »Das Frühstück ist gleich fertig. Setz dich.«
Verwundert und ein wenig misstrauisch sah sie ihren Verlobten an. »Was is’n mit dir los? Haste was angestellt?«
»Bisher nicht«, lächelte er zufrieden. »Aber mit dieser Überraschung habe ich einen gut, oder?«
Sie ging nicht darauf ein, sondern trat auf den Balkon hinaus. »Mannohmann, du hast dir ja echt Mühe gegeben.«
Er lächelte stolz. Auf der mit Mohnblumen bedruckten Tischdecke befanden sich ein Brotkorb mit frischen Weißbrotscheiben sowie Butter, Käse und Marmelade. Für Yvonne standen Cornflakes und eine kleine Karaffe mit Milch bereit, außerdem zwei Bananen. Dazu gab es Kaffee und Orangensaft.
Sie drehte sich um und gab ihm einen Kuss. »Danke, Schnucki, das ist echt lieb von dir.«
»Ich dachte nur, es wäre ganz nett, in der Sonne zu frühstücken.« Er schob ihr einen Stuhl hin, setzte sich auf seinen Platz und nahm sich eine Scheibe Brot. Yvonne füllte Flakes und Milch in die Schüssel und schnitt eine Banane hinein.
»Wann kommen deine Eltern?«, wollte sie wissen und schob sich einen vollen Löffel in den Mund. Die Flakes knirschten, als sie sie zermalmte.
»Irgendwann morgen Abend. Sie wollen dann mit uns essen gehen.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Stimmt ja, ich muss noch einen Tisch reservieren.«
»Bei Luigi?«
Jan nickte und belegte sein Brot mit einer Scheibe Käse, auf der er Marmelade verteilte.
»Ist ja nahe liegend, im wörtlichen Sinne. Immerhin liegt sein Restaurant ziemlich genau zwischen hier und dem Hotel, das meine Eltern gebucht haben.«
»Ich freu mich drauf, sie endlich kennenzulernen.«
»Warte es ab«, unkte Jan. »Meine Mutter wird dich durchleuchten wie ein Röntgenapparat und mein Vater wird nichts unversucht lassen, um dich davon zu überzeugen, dass du auf der ganzen Welt keinen größeren Versager hättest finden können.«
»Ach, Schnucki …«
»Doch wirklich! Das Netteste, was die beiden je getan haben, war, nach Mallorca umzusiedeln, damit wir uns möglichst selten sehen müssen.«
»Sie sind doch wohl kaum wegen dir dahin gezogen.«
Jan zuckte mit den Schultern. »Sie waren so höflich, andere Gründe vorzuschieben.«
Yvonne hob eine Augenbraue und wechselte das Thema. »Wann kommen die anderen?«
»Am Freitag«, antwortete Jan, biss in sein Brot und warf einen verstohlenen Blick auf seine Verlobte.
Sie aß schweigend. Er wusste, sie mochte seine Freunde, doch es war noch kein Jahr vergangen, seit er sie mit Kristina betrogen hatte. Und das, obwohl er hoch und heilig geschworen hatte, nie wieder fremdzugehen. Dieser Vertrauensbruch tat ihr sicher noch immer weh, und der Gedanke, Kristina wiederzusehen, erfüllte Yvonne gewiss mit Unbehagen, was er gut verstehen konnte.
Er rechnete es ihr hoch an, dass sie trotz allem zugestimmt hatte, Krissi und Stephan zur Hochzeit einzuladen.
Sie trank ihr Glas mit Orangensaft leer und stand auf. »Ich geh duschen. Räumste auf, bevor du gehst?«
»Okay.« Jan erhob sich ebenfalls, nahm ihre Hand und zog sie in seine Arme. »Du bist immer noch sauer wegen damals, oder?«
Yvonne schüttelte den Kopf. »Nee, bin ich nicht.«
»Hör zu, ich weiß, dass ich Mist gebaut und dir wehgetan habe, Engel. Es tut mir leid, mehr, als ich sagen kann. Ich war ein riesengroßer Volltrottel.«
»Ist schon gut, lass den Dackelblick«, sagte sie ernst. »Du weißt, ich mag Krissi. Und ich freu mich ja auch auf sie und die anderen. Es ist halt nur immer noch etwas … merkwürdig.«
Jan nickte. »Na klar. So geht es mir, wenn ich Svenja sehe. Immerhin bin ich dafür verantwortlich, dass sie jetzt Witwe ist.«
»Das war ’n dämliches Unglück, Schnucki! Und er hatte es verdient, dieser erbärmliche Mistkäfer.«
Jan wollte das Thema nicht vertiefen. Er löste sich von Yvonne und sah auf seine Armbanduhr. »Engel, ich glaube, du musst dich beeilen. In einer halben Stunde beginnt der Step-Kurs.«
Sie folgte seinem Blick. »Verdammter Mist, du hast recht.«
Auf dem Weg ins Bad schimpfte sie: »Wieso haste mich nicht früher geweckt, verflucht?«
Er schmunzelte. »Ach, Engel?«
Sie hatte die Badezimmertür erreicht und drehte sich gereizt zu ihm um. »Was ist?«
»Spätestens, wenn der kleine Hosenmatz da ist, solltest du unbedingt an deiner nicht ganz jugendfreien Ausdrucksweise arbeiten.«
Lachend verschwand sie im Bad.
Luigi kam eilfertig und mit einem breiten Grinsen, das einen blinkenden Goldzahn enthüllte, auf seine Gäste zu, die Arme weit ausgebreitet.
»Aah, Yvonne, la mia bellezza, du sehen heute wieder fantastico aus!« Er ergriff ihre Hand, drückte einen zarten Kuss darauf und betrachtete ungeniert ihren kaum sichtbaren Babybauch. »Wie es gehen die Bambino?«
»Bene«, lächelte Yvonne huldvoll. »Grazie, Luigi.«
Jan grinste. In der Gesellschaft des charmanten Luigi ähnelte seine Verlobte mehr einer italienischen Prinzessin als einer Berliner Fitness-Trainerin.
Der Restaurantbesitzer mit dem gegelten, graumelierten Haar und dem dünnen Schnurrbart wandte sich nun an ihn. »Jan, il mio amico, wie du haste geschafft, dass diese Traumfrau ausgerechnet heiratet dich, he?«
Jan zuckte feixend mit den Schultern. »Das musst du sie schon selbst fragen, Kumpel.«
Luigi reagierte nicht, stattdessen warf er einen neugierigen Blick auf die beiden anderen Gäste.
»Meine Eltern«, erläuterte Jan ungefragt. »Signoria e Signore Schroeder.«
»Benvenuti alla ›Trattoria Roma‹!« Luigi deutete eine Verbeugung an. »Ihr mir folgen, bitte. Ich bringen euch an eure Tisch.«
Nachdem sie die Getränke bestellt hatten, sah sich Jans Mutter interessiert um. Ihr neuerdings kupferfarbenes kurzes Haar glänzte wie ein frisch geprägtes Fünf-Cent-Stück und ihre braungebrannte Haut harmonierte gut mit dem cremefarbenen Kostüm, das sie trug.
Ja, dachte Jan, Pamela Schroeder ist noch immer eine attraktive Frau.
Auch sein Vater Martin sah für sein Alter noch relativ gut aus, wenn die mallorquinische Sonne ihm auch einige Runzeln eingebracht hatte, seine Haut wirkte etwas ledern. Aber sein blondes, mit vereinzelten grauen Strähnen durchzogenes Haar war noch immer voll.
Das ließ Jan hoffen, dass es ihm später ähnlich gehen würde. Den Gedanken, womöglich irgendwann einen Kahlkopf zu haben, fand er furchtbar.
Jan folgte dem Blick seiner Mutter. Luigis Restaurant war urig und rustikal eingerichtet, viele Kerzen und kleine Nischen sorgten für eine gemütliche Atmosphäre. Wie an fast jedem Abend waren annähernd alle Tische belegt.
Seine Mutter beugte sich vor und sah abwechselnd von ihm zu Yvonne. »So, nun erzählt mal. Wie weit seid ihr mit den Vorbereitungen? Können wir euch noch bei irgendetwas helfen? Oder euch finanziell unterstützen?«
Jan winkte ab und Yvonne schüttelte den Kopf.
»Danke, dass ist lieb, aber echt nicht nötig. Wir kommen klar.«
»Seid ihr schon sehr aufgeregt?«, fragte Pamela weiter, ein neugieriges Blitzen in den Augen.
»Ja, schon.« Yvonne nahm Jans Hand und lächelte ihm zu. »Und du, Schnucki?«
»Klar. Ich kann es gar nicht mehr abwarten.« Dass meine lieben Eltern wieder abreisen, dachte er.
Pamela lächelte gerührt, doch Jans Vater wechselte das Thema.
»Mal etwas anderes, mein Sohn: Was hat es mit dieser Vorstrafe auf sich? Das, was du bisher erzählt hast, war nicht sehr aufschlussreich. Im Gegenteil, es waren nur ein paar vage Andeutungen. Jörg und Anita wussten auch nicht genau, was da los war.«
Jan seufzte vernehmlich und lehnte sich zurück.
Als seine Eltern von Bekannten, die sie auf Mallorca besucht hatten, erfahren musste, dass ihr Sohn verurteilt und vorbestraft war, hatten sie ihn vor ein paar Tagen völlig aufgelöst angerufen.
Er hatte ihnen nur mitteilen können, dass er Bewährung bekommen hatte, danach war die Verbindung abgebrochen, weil sein Telefon kaputt gegangen war. Er hatte diese Frage daher erwartet, dennoch nervte sie ihn.
»Jan hat nichts Falsches getan«, nahm Yvonne ihn in Schutz. »Oder, na ja, fast nichts.«
Sein Vater sah Jan mit vor der Brust verschränkten Armen abwartend an.
Er kannte diese Geste noch aus seiner Kindheit.
Immer, wenn er etwas angestellt hatte, war dieser Blick seines Vaters ihm durch und durch gegangen, und er hatte gewusst, dass eine Standpauke folgen würde, die sich gewaschen hatte.
Er holte tief Luft.
»Also gut, die Kurzform«, begann er. »Der Mann meiner Freundin Svenja hat Yvonne … belästigt. Massiv belästigt. Als ich ihn zur Rede stellte, saß er gerade in der Sauna im Haus meines Freundes Marius. Ich war wütend und betrunken und habe ihn darin eingesperrt. Bedauerlicherweise schlief ich ein, bevor ich ihn wieder herauslassen konnte, und am nächsten Morgen war er …«
Jan verstummte und sah verlegen vor sich auf den Tisch.
»Oh mein Gott«, hauchte seine Mutter und schlug sich eine perfekt manikürte Hand vor den Mund.
Ihre grünen Augen starrten ungläubig auf ihren Sohn.
»Du meinst, du hast ihn … umgebracht?«, vergewisserte sich sein Vater entsetzt, aber glücklicherweise so leise, dass es niemand von den anderen Gästen hören konnte. Jan spürte, dass Yvonne unter dem Tisch nach seiner Hand griff.
»Es war Körperverletzung mit Todesfolge«, berichtigte Jan trotzig. »Ich habe ihm doch nichts tun wollen. Er sollte nur einen gewaltigen Schrecken bekommen.«
Erschüttert ließ sein Vater sich im Stuhl zurücksinken. »Ich bin sicher, das ist dir gelungen«, sagte er spöttisch.
Dann wandte er sich an Yvonne. »Hast du dir die Sache mit der Hochzeit wirklich gut überlegt?«
Die Getränke kamen und Jan warf Yvonne einen ›Was-hab-ich-dir-gesagt?‹-Blick zu. Sie rollte kurz mit den Augen und lächelte ihm beruhigend zu, doch er wusste, dass seine Eltern ihr Pulver noch längst nicht verschossen hatten.