Читать книгу Das Geheimnis der Anhalterin - Britta Bendixen - Страница 5
Kapitel 2 – Mord & Mordgelüste
ОглавлениеDas Haus wirkte mit dem spitzen Dach, den verhältnismäßig winzigen Fenstern und den Mauern aus rotem Backstein, die mit Efeu überwuchert waren, wie ein kleines Hexenhäuschen.
Kriminaloberkommissar Carsten Andresen und sein Kollege, Kriminalkommissar Lutz Weichert, stiegen aus Andresens altem Mercedes und sahen sich um. Hier, auf der Westlichen Höhe, wie dieser Teil Flensburg genannt wurde, hatten sie nicht oft zu tun.
Die Gegend war ruhig, fast gediegen. Es gab mehr Bäume als Autos, und bis auf einige Radfahrer und eine ältere Dame, die ein vermutlich reinrassiges Schoßhündchen spazieren führte, war niemand zu sehen.
Andresen legte den Kopf in den Nacken und sah skeptisch zum Himmel. Von Osten her kamen immer mehr Wolken heran.
Hoffentlich blieb es trocken. Nicht nur, dass er Regen nicht leiden konnte – seine Scheibenwischerblätter mussten dringend ausgewechselt werden. Bei einem Platzregen würde er praktisch blind fahren.
Nebeneinander gingen sie auf das Haus zu.
Die gepflasterte Auffahrt war mit Einsatzwagen der Polizei und der Spurensicherung zugeparkt.
Andresen und Weichert bahnten sich ihren Weg um die Fahrzeuge herum, wobei Andresens Blick auf dem ungewohnt stoppeligen Kinn von Lutz Weichert hängenblieb. Schon bei ihrem Zusammentreffen war ihm aufgefallen, dass irgendetwas anders war an seinem sonst überaus gepflegten Kollegen. Nun wusste er, was es war.
»Ist Ihr Rasierapparat kaputt?«, fragte er.
»Wieso?«
»Sie wirken heute weniger adrett als üblich«, antwortete Andresen und strich sich mit der Hand über sein eigenes stoppeliges Kinn.
»Ich habe mich absichtlich nicht rasiert«, erklärte Weichert. »So ein kurzer Bart, wie Sie ihn haben, ist doch ganz praktisch. Man muss sich nicht mehr täglich rasieren und kann morgens länger schlafen. Außerdem ist Bart wieder in.«
»Verstehe.« Andresen nickte und wandte den Kopf ab, um sein Grinsen zu verbergen. Dem spärlichen Bartwuchs seines Kollegen nach zu urteilen würde es mindestens eine Woche dauern, bevor er einen Drei-Tage-Bart vorweisen konnte.
Die Haustür stand offen und sie traten in den dämmrigen Flur. Der Geruch von Tod und Verwesung empfing sie.
Andresen zog eine angewiderte Grimasse und Weichert ließ seine untere Gesichtshälfte hinter dem Revers seines laubfroschgrünen Blazers verschwinden. »Himmel, das ist ja grauenvoll!«, stöhnte er durch den Stoff.
Andresen atmete durch den Mund ein und aus, während er sich umsah. Ein enger, dunkler Flur mit Schlüsselkästchen an der Wand und einer Garderobe in Eiche rustikal. Selbst Wände und Decke waren mit dunklem Holz getäfelt.
Nur durch die geöffnete Haustür drang ein Lichtstrahl, der die düstere Atmosphäre allerdings eher betonte als abmilderte. Aus dem Raum rechts von ihnen kamen Stimmen.
Als sie das Wohnzimmer betraten, sahen sie auf den ersten Blick nur zwei uniformierte Polizeibeamte, die dicht an der Tür stehengeblieben waren.
Als Andresen über ihre Schultern spähte, erkannte er die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen.
»Dürfen wir mal durch?«, fragte er. Die Beamten gaben ihm und Weichert den Weg frei.
Im Fernsehsessel saß das Opfer. Es war gefesselt. Über dem Mund befand sich ein großer Klebestreifen. Der ältere Mann war bestialisch zugerichtet worden. Kopfhaut und Gesicht waren mit Brandblasen übersät, dunkelrot und zum Teil aufgeplatzt.
Andresen hörte Weichert hinter sich leise würgen und hatte selbst Schwierigkeiten, sein Frühstück bei sich zu behalten. Dennoch zwang er sich, genauer hinzuschauen.
Der Oberkörper des Mannes wies zahlreiche Stichwunden auf. Getrocknetes Blut zierte den hellgrauen Pullover. Fliegen summten um die Leiche herum und ließen sich immer wieder auf ihr nieder.
Ein Kollege trat auf sie zu. Auch er war blass um die Nase. »Der Mann heißt Heribert Jensen«, berichtete er. »Achtundsechzig Jahre alt, Pensionär, verwitwet.«
»Kinder?«
»Fotos von Kindern oder Enkeln sind nirgends zu sehen, aber wir werden das noch überprüfen.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Eine Nachbarin. Sie hält sich in ihrem Haus zur Verfügung.«
Der Gerichtsmediziner Dr. Karl-Heinz Schwarzhaupt kam auf sie zu und zog sich dabei seine Ein-weg-Handschuhe aus.
»Moin, Carsten.« Seine Stimme klang dumpf, da ein Mundschutz seine untere Gesichtshälfte bedeckte. Sie reichten sich die Hände.
»Hallo, Kalle. Können wir draußen reden?«
Dass Dr. Schwarzhaupt schmunzeln musste, erkannte man nur an der Vertiefung der Lachfältchen um seine blauen Augen.
Er nahm seinen Mundschutz ab. »Gern. Wie du weißt, bin ich einiges gewohnt, aber selbst mir wird hier drin langsam schlecht.«
Sie traten durch die schmale Terrassentür nach draußen. Weichert folgte ihnen und atmete tief durch. »Das tut gut«, seufzte er.
Andresen grinste.
In dem kleinen Garten gab es links eine Rasenfläche samt Apfelbaum. Auf dem Grün lagen vereinzelte weiße Blütenblätter wie große Schneeflocken.
Das Gras stand hoch, Klee, Moos und Löwenzahn hatten sich darauf ausgebreitet. Auf der rechten Seite des Gartens waren Blumen- und Gemüsebeete, in denen das Unkraut wucherte wie Pickel auf einem Teenager. Ein mit Steinplatten belegter Weg trennte die Hälften.
Schmetterlinge und Bienen schwirrten um die Pflanzen, die Luft roch würzig. Fröhliches Vogelgezwitscher verstärkte den idyllischen Eindruck noch. Verglichen mit dem Inneren des Hauses war es hier direkt paradiesisch.
Andresen und Schwarzhaupt setzten sich auf zwei der vier Plastikgartenstühle, die auf der kleinen Terrasse standen. Weichert wischte etwas Schmutz von der Sitzfläche, bevor er sich ebenfalls niederließ.
»Es ist nur eine Vermutung«, wandte sich Andresen an den Mediziner, »doch ich gehe davon aus, dass der arme Mann länger als ein paar Stunden tot ist.«
»Mindestens eine Woche«, nickte Schwarzhaupt und schlug die Beine übereinander. »Die Totenstarre hat sich bereits vollständig gelöst, die Augäpfel sind eingesunken, die Maden haben sich noch nicht verpuppt. All das deutet auf eine Zeitspanne von sieben bis zehn Tagen hin. Abgesehen davon war der Briefkasten ziemlich voll und in der Küche haben deine Kollegen eine Tageszeitung gefunden. Sie ist vom zweiten Mai. Letztem Montag.«
»Zweiter Mai«, wiederholte Weichert und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Das wären zehn Tage. Ganz schön schaurig.«
Dr. Schwarzhaupt sah ihn ein wenig mitleidig an.
»Es passiert leider immer häufiger, dass allein stehende Menschen, die verstorben sind, erst spät gefunden werden«, sagte er. »Manchmal vergehen sogar Monate.«
»Ich weiß das ja«, murmelte Weichert. »Aber es ist etwas anderes, wenn man …« Er brach ab und sah in den Garten.
»… wenn man es mit eigenen Augen sieht?«, vollendete Andresen den Satz. »Ja, das stimmt. Bei meiner ersten verwesten Leiche bin ich sogar in Ohnmacht gefallen. Sie halten sich also ganz gut.« Er lächelte Weichert aufmunternd zu.
»Sie?! Sie sind in Ohnmacht gefallen?«
Andresens Kollege konnte es offenbar nicht fassen, dass ein Zwei-Meter-Hüne wie er beim Anblick einer Leiche einmal umgekippt war wie ein Sack Kartoffeln.
Andresen kratzte sich verlegen an der Nase. »Ich bin nicht stolz darauf, also konzentrieren wir uns lieber wieder auf das Wesentliche.« Er wandte sich an den Arzt. »Hast du schon die Todesursache?«
Schwarzhaupt schüttelte den Kopf. »Er ist ganz schön gefoltert worden. Ihm wurden nicht nur büschelweise Haare ausgerissen, am Hals fand ich eine Verbrennung, die offenbar von einer Zigarette stammt. Faustschläge gab es auch, davon zeugen mehrere Hämatome an den Wangenknochen, dann die Verbrühungen am Kopf und im Gesicht, die Messerstiche …« Der Arzt strich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger seinen dunklen Schnauzbart glatt. »Vielleicht waren es die Stichverletzungen, es könnte allerdings auch ein Herzanfall aufgrund der Misshandlungen gewesen sein, der schlussendlich zum Tod geführt hat. So ad hoc kann ich dir das nicht sagen. Da musst du schon meinen Bericht abwarten.«
»Gab es sonst noch etwas Interessantes?«
»Nun, er hat sich eingenässt«, antwortete der Arzt.
»Der arme Kerl muss eine Scheißangst gehabt haben. Aber ob dir diese Info was bringt …«
»Danke trotzdem.« Andresen erhob sich und nickte Weichert zu. »Ich schlage vor, wir unterhalten uns als Erstes mit der Nachbarin, die ihn gefunden hat.«
»Können wir außen herum gehen?«, bat Weichert mit einem bangen Blick Richtung Wohnzimmer.
»Sicher.« Andresen lächelte. »Doch vorher fragen Sie die Kollegen nach Namen und Adresse der Zeugin.«
»Mir bleibt auch nichts erspart.« Weichert seufzte, versteckte erneut seine Nase hinter dem Stoff seines Blazers und betrat mit der Miene eines Märtyrers zum zweiten Mal das Wohnzimmer.
Knapp fünf Minuten später klingelten die Kommissare am Nachbarhaus rechts vom Tatort. Der melodische Klingelton war kaum verhallt, als die Tür sich auch schon öffnete.
Da hat wohl jemand bereits ungeduldig gewartet, dachte Andresen leicht amüsiert.
Die Frau, die im Türrahmen erschien, war etwa Mitte Sechzig. Sie trug eine geblümte Bluse und einen dunkelblauen Faltenrock. Hinter ihren dicken Brillengläsern sahen die hellbraunen Au-gen größer aus, als sie vermutlich waren.
»Ja, bitte?«
»Frau Lieselotte Schlüter?«
»Die bin ich.« Frau Schlüter hob den Kopf und sah ihre Besucher abwartend an. Beide hielten ihre Ausweise hoch.
»Kriminaloberkommissar Carsten Andresen. Das ist mein Kollege, Kriminalkommissar Lutz Weichert. Wir sind von der Mordkommission Flensburg und hätten ein paar Fragen an Sie.«
Lieselotte Schlüter nickte und öffnete die Tür weiter. »Ich hab Sie erwartet. Na, denn kommen Sie man rein.«
Sie folgten ihr in ein helles, biederes Wohnzimmer, im Landhausstil eingerichtet und perfekt aufgeräumt. Kein Staubkörnchen war zu sehen. Die dezent geblümten Sessel standen auf zierlichen Füßen, Couch- und Beistelltisch schmückten gehäkelte Deckchen und auf allen Ablageflächen verbreitete Porzellan-Nippes eine Aura der Tugend und Anständigkeit.
Frau Schlüter wies einladend auf das Sofa. »Setzen Sie sich. Darf ich Ihnen was anbieten? Einen Kaffee oder lieber einen Schnaps?«
Andresen schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Wir sind ja noch im Dienst.«
»Also, ich brauch jetzt ’n Schluck«, verkündete sie. »So was erlebt man ja nicht alle Tage.«
Andresen setzte sich vorsichtig auf die Kante der zierlichen Couch, damit der exakte Knick in dem Kissen hinter ihm nicht verrutschte. Selbst in der guten Stube seiner Oma war es nicht so ordentlich gewesen wie hier. Es kam ihm vor, als entweihe er ein Museum.
Auch Weichert fühlte sich sichtlich unwohl, als er sich in einem der schmalen Sessel niederließ.
Lieselotte Schlüter steuerte die Kirschbaum-Schrankwand an und öffnete eine Klappe, die sich nach unten öffnete und eine kleine, verspiegelte Bar zutage förderte. Dort standen mehrere angebrochene Flaschen; Andresen erkannte ein paar Cognacsorten, zwei verschiedene Flaschen Bourbon und einige Liköre. Mit sicherem Griff nahm Frau Schlüter einen Cognac zur Hand und goss sich einen großzügigen Schluck ein.
Mit dem zierlichen Kristallglas in der Hand setzte sie sich auf einen der beiden Sessel. Dann kippte sie den Cognac hinunter, stellte das Glas mit einem zufriedenen Seufzer auf einem Filzuntersetzer ab und lehnte sich zurück.
Andresen beugte sich vor. »Jetzt erzählen Sie doch mal, Frau Schlüter. Am besten von Anfang an.«
Sie verschränkte die Hände locker im Schoß, als begänne nun Lieselottes Märchenstunde.
Andresen vermutete, dass ihr Leben ansonsten eher eintönig verlief und sie es genoss, im Mittelpunkt von etwas so Aufregendem wie einem Mordfall zu stehen. Das gab gewiss Gesprächsstoff für Monate.
»Wissen Sie, ich kenn Herrn Jensen ja schon, seit er und seine Frau hergezogen sind. 2008 war das, glaub ich. Im März oder April. Oder im Mai? Na, egal, jedenfalls war es im Frühling. Sie – also Frau Jensen – ist ja vor ein oder zwei Jahren verstorben, Krebs, wissen Sie? Eine nette Frau war das, ’n büschen ruhig vielleicht. Jedenfalls, seitdem sah man nicht mehr viel von ihm. Er war zwar bannig oft in seinem Garten, aber besonders redselig war er nicht gerade.«
Vielleicht kam er auch nur nicht zu Wort, dachte Andresen und nutzte eine Atempause der Zeugin für eine Frage. »Was genau ist denn heute passiert?« Aus den Augenwinkeln beobachtete er, dass Weichert sich eifrig Notizen machte.
Lieselotte Schlüter erhob sich schwerfällig, holte die Cognacflasche und schenkte sich ungeniert noch einmal ein. Ihre anfängliche vornehme Zurückhaltung hatte sie überraschend schnell abgelegt. Sie wartete mit der Antwort, bis der Schnaps ihre Kehle hinunter gelaufen war und räusperte sich dann.
»Neulich ist mir aufgefallen, dass ich Herrn Jensen schon länger nicht gesehen hab. Gerade im Frühling ist das sehr ungewöhnlich, wissen Sie? Er ist eigentlich jeden Tag eine Weile draußen. Denn ist mir noch aufgefallen, dass der Garten mit Unkraut überwuchert ist. Ja, und da fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Sonst ist der nämlich immer pikobello, wissen Sie? Kein anderer Nachbar kümmerte sich so gründlich um seinen Garten wie Herr Jensen. Bei ihm gedieh auch einfach alles.«
Sie seufzte und schüttelte betrübt den Kopf.
Andresen nickte, wurde aber langsam ungeduldig.
Schließlich waren sie nicht hier, um sich einen Vortrag über die botanischen Fähigkeiten des Opfers anzuhören.
»Erzählen Sie bitte weiter, Frau Schlüter«, bat er.
»Wie? Ach so, ja. Also, heute Mittag kam ich mit unserem Postboten ins Gespräch. Herrn Eckert. Er fragte, ob der Herr Jensen verreist sei, weil sein Briefkasten so voll ist. Ich sagte, dass Herr Jensen eigentlich nie verreist. Das wüsste ich, wissen Sie, weil ich einen Schlüssel habe und er mich dann doch bestimmt bitten würde, mich um die Post und die Pflanzen zu kümmern. Das hat er aber noch nie gemacht.«
»Und warum haben Sie einen Schlüssel, wenn Herr Jensen nie verreist?«, wollte Andresen wissen.
Sie blinzelte hinter den dicken Brillengläsern.
»Es ist ein paar Mal vorgekommen, dass er sich ausgesperrt oder seinen Schlüssel verloren hat. Wissen Sie, Herr Jensen ist ein kluger Mann – war ein kluger Mann«, verbesserte sie sich augenblicklich, »aber auch manchmal ein wenig, naja, schusselig. Und vergesslich. So ein Schlüsseldienst ist teuer, da hat er sich wohl gedacht, es ist besser, wenn er jemanden bittet, einen Ersatzschlüssel aufzubewahren. Tja, und das war eben ich.«
Sie sah so stolz aus, als hätte man sie gebeten, für das Amt der Bundeskanzlerin zu kandidieren.
»Was geschah dann?«
»Nun, wir – der Herr Eckert und ich – haben uns überlegt, was mit Herrn Jensen sein könnte. Ob er sich verletzt hat oder so, wissen Sie? Es wäre ja möglich, dass er Hilfe braucht. Also haben wir beschlossen, nach ihm zu sehen.«
Sie stockte. Ihr in die Ferne gerichteter Blick zeugte davon, dass sie das grässliche Bild wieder vor Augen hatte, das sich ihr und dem Briefträger geboten hatte.
In Gedanken versunken goss sie sich einen weiteren Cognac ein, vermutlich um das Bild aus ihrem Kopf zu spülen. Sekunden später war das Glas leer. Andresen machte eine auffordernde Handbewegung und die ältere Dame fuhr fort.
»Wo war ich? Oh, ich weiß schon. Der Herr Eckert und ich gingen zusammen nach nebenan. Und als wir die Tür öffneten, merkten wir gleich, dass da was nicht stimmt. Wissen Sie, es roch so … so …«
Vergeblich suchte sie nach einem passenden Wort und sah ihre Besucher hilfesuchend an.
Andresen nickte verstehend und Frau Schlüter schenkte ihm ein kleines, dankbares Lächeln.
»Ich hab wirklich noch nie etwas so Grauenvolles gesehen«, versicherte sie. »Wissen Sie, hätte Herr Eckert mich nicht festgehalten, ich wär glatt aus den Pantinen gekippt.«
»Hatte Herr Jensen in der letzten Zeit Besuch? Von Freunden oder Familienangehörigen?«, erkundigte sich Andresen.
Lieselotte Schlüter schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das ich wüsste. Ich habe noch nie erlebt, dass er Besuch bekommen hat.«
»Was ist mit Kindern und Enkeln?«
Sie hob ratlos die Schultern. »Er hat nie von Familie gesprochen. Ich glaube, er und seine Frau waren kinderlos.«
»Hatte er Feinde? Vielleicht unter den Nachbarn?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Herr Jensen war nicht sehr kontaktfreudig, blieb lieber für sich. Er ging höchstens mal einkaufen oder zum Friedhof.«
»Haben Sie vor etwa zehn Tagen jemanden in der Gegend gesehen? Einen Fremden? Oder ein Auto, das Sie nicht kannten? Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Frau Schlüter überlegte. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Was sagten Sie? Zehn Tage liegt er da schon? Oh, mein Gott, wie furchtbar!«
Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, dann fügte sie nachdrücklich hinzu: »Wissen Sie, wenn Sie mich fragen, kann das nur ein völlig krankes Hirn getan haben.«
***
Jan wurde wach, als Yvonne die langen Beine aus dem Bett schwang, zum Fenster hinüberging und die schweren, dunkelbraunen Vorhänge zur Seite schob. Er blinzelte und sah zu ihr hinüber. Die blonden Locken waren wie jeden Morgen noch unordentlich vom Schlaf. Er liebte diesen Anblick. »Beweg dich nicht«, flüsterte er.
Sie drehte sich zu ihm um und lächelte.
»Du siehst aus wie ein Engel«, flüsterte er andächtig.
Ihre rechte Hand strich über die kleine, noch kaum sichtbare Wölbung in ihrer Körpermitte. »Ich hab noch nie von ’nem schwangeren Engel gehört.«
»Egal.« Jan winkte ab. »Dann bist du eben der erste.«
Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, griff nach der Decke und zog sie mit einem Ruck weg. Sein empörtes »Hey!!« ignorierte sie.
»Steh auf, Schnucki. Wir haben ’ne Menge zu tun.«
»Was denn?« Jan zog die in verschiedenen Brauntönen gemusterte Decke vom Boden zurück ins Bett und breitete sie über sich aus. »Wir haben einen Termin beim Standesamt, die Location für die Party steht, die Gäste sind eingeladen. Essen, Getränke und Musik sind organisiert.« Gelassen verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. »Alles ist erledigt.«
Sie musterte ihn mit erhobener Augenbraue. »Was ja nicht unbedingt dir zu verdanken ist, du Nappsülze.«
»Ich bin nun mal nicht besonders gut in solchen Dingen«, gab er zu und verzog unwillig das Gesicht. »Dafür habe ich mich um das Studio gekümmert.«
»Heute Vormittag macht das jedenfalls Andy«, sagte sie. »Du wirst einkaufen. Zettel ist fertig, liegt in der Küche. Außerdem holste deinen Anzug ab.«
»Und was machst du?«
Yvonne verdrehte die Augen. »Ich hab ’nen Termin beim Friseur, wir proben die Frisur für Samstag. Das hab ich dir gestern schon verklickert. Außerdem will ich zur Maniküre und mein Kleid muss ich auch abholen.«
»Was für ein Aufwand, bloß damit zwei Leute ›Ja‹ sagen«, brummte Jan und zog sich die Decke über den Kopf.
»Willste etwa in letzter Sekunde kneifen?«, fragte seine Verlobte drohend.
Er zog die Decke ein Stückchen von seinem Kopf herunter, so dass seine Augen und die Nasenspitze hervorlugten. »Nee, will ich nicht. Aber als ich dir einen Antrag gemacht habe, ist mir nicht klar gewesen, dass Heiraten so anstrengend ist.«
»Verglichen mit der Ehe ist es der reinste Sonntagsspaziergang, Schnucki, wart’s ab.«
Ehe er etwas erwidern konnte, nahm sie Anlauf und sprang aufs Bett, direkt auf ihn drauf.
Dieser unerwartete Frontalangriff presste Jan die Luft aus den Lungen, so dass er ein ersticktes Keuchen von sich gab. »Ich glaube, unter diesen Umständen überlege ich mir das Ganze nochmal«, stöhnte er.
Yvonne lachte, beugte sich über ihn und gab ihm einen dicken Kuss.
Die Feier sollte in Yvonnes Fitness-Studio statt-finden. Das kam günstiger und von den Räumlichkeiten her war es ideal, zumal das Studio im Erdgeschoss des Hauses lag, in dem Jan und Yvonne unter dem Dach wohnten.
Der große, hufeisenförmige Empfangstresen würde zur Bar umfunktioniert werden. Andy hatte sich bereit erklärt, den Barkeeper zu machen und Jans Freund Tom wollte sich um die Musik kümmern.
Um ausreichend Zeit für die Vorbereitungen zu haben, sollte das Fitness-Studio bereits an diesem Tag, dem Donnerstag vor der Hochzeit, ab mittags geschlossen werden. Als Jan gegen viertel nach zwölf mit den Einkäufen ins Studio kam, zogen sich gerade die letzten Mitglieder um.
Andy war bereits dabei, die Gewichte aus dem großen Trainingsraum in einen der beiden kleineren Räume zu bringen, in denen sonst die Kurse stattfanden.
Jan schleppte die Einkäufe in die Küche. Nachdem er sie weggeräumt hatte half er Andy, den Trainingsraum zu leeren.
»Ist echt nett von dir, uns zu helfen«, keuchte er, als sie gemeinsam eines der Laufbänder in den Gymnastikraum hievten.
»Keine Ursache. Scheiße, ist das schwer!«
Auch Andy klang angestrengt. Beide stöhnten erleichtert auf, als sie ihr Ziel erreicht hatten und das Laufband absetzten. Jan rollte die Schultern und streckte den Rücken durch.
»Wieso haben diese Dinger eigentlich keine Rollen?«, wollte Andy wissen, stützte sich auf dem Sattel eines Heimtrainers ab und wischte sich die Stirn. Die Sonne schien durch die Fenster und heizte den Raum auf. Eigentlich war es viel zu warm für schwere, körperliche Arbeit.
Jan zuckte mit den Schultern, zog den Griff des Laufbands auf einer Seite nach unten, so dass sich die andere Seite vom Boden hob und warf einen Blick unter das Gerät. »Oh-oh!«
»Was ist?«
»Du musst jetzt sehr tapfer sein, Kumpel.« Mit einem schiefen Lächeln sah er seinen Freund an. »Es hat Rollen.«
»Du verarschst mich.«
Jan schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Aber sieh es mal so: Die anderen kriegen wir leichter hierher.«
Nach dieser bahnbrechenden Entdeckung waren die Hanteln und Gewichte das Schwerste, was sie zu tragen hatten und die Arbeit ging zügig voran. Das war auch gut so, denn kaum war der Raum leer, hörten sie eine tiefe Stimme aus dem Empfangsbereich. »Hallo-ho! Is hier wer?«
Jan eilte nach vorn. Vor dem Empfangstresen standen zwei Männer, die einen grünen Overall mit dem Aufdruck einer Transportfirma trugen.
»Hi! Sind Sie die Tische und Stühle?«, fragte Jan.
Die beiden Männer, der eine kahlköpfig und vierschrötig, der andere lang mit fettigen Haaren und unreiner Haut, grinsten sich an.
»Nee«, sagte der Lange. »Aba wir bringen welche.«
Jan klatschte unternehmungslustig in die Hände. »Na, dann mal rein damit. Wir sind gerade mit dem Leerräumen fertig geworden.«
»Denn is ja det Schwerste jeschafft«, lobte der Glatzkopf mit einem ironischen Unterton und zog mit seinem Kollegen von dannen.
Jan sah ihm mit gerunzelter Stirn nach. »Witzbold.«
Yvonne kam herein gefegt, mit hochgesteckten Haaren und der großen Tüte eines Geschäfts für Brautmoden in der frisch manikürten Hand.
Neugierig sah sie den Möbelpackern nach. »Sind das die Tische und die Stühle?«, fragte sie zur Begrüßung.
»Nee«, grinste Jan. »Aber sie bringen sie.«
»Haha.« Yvonne linste in den leer geräumten Trainingsraum. »Haste schon gesaugt und gewischt?«
Jan sah ihren zweifelnden Blick und tat unschuldig. »Wieso?«
Genervt stellte Yvonne die Tüte ab. »Siehste nich die ganzen Wollmäuse in den Ecken? Ist doch wohl sinnvoller, sauber zu machen, bevor sie die Möbel da rein stellen, oder?«
»Das war ’ne rhetorische Frage, stimmt’s?«
»Mannohmann!« Kurzerhand übernahm Yvonne das Kommando. »Bring den beiden ’ne Tasse Kaffee und sag ihnen, sie sollen ’ne Zigarettenpause machen. Ich mach inzwischen sauber. Danach hilfste mit Andy beim Schleppen, alles klar?«
Sie wartete keine Antwort ab, sondern holte den Staubsauger aus dem Abstellraum. Wenige Augenblicke später erklang ein lautes Dröhnen.
Jan eilte nach draußen. Erfreulicherweise parkten die Möbelpacker direkt vor dem Haus.
»Zigarettenpause!«, rief er.
»Echt?« Der Lange hielt drei Klappstühle in den Armen und sah ihn erstaunt an. »Wir ham doch noch jar nich anjefangen.«
»Order von der Chefin«, erklärte Jan. »Wollt ihr einen Kaffee?«
»Da sagen wir nich Nein.« Der Glatzkopf hievte seinen grün umhüllten Körper auf die Kante der Ladefläche und zündete sich eine Kippe an.
»Kommt sofort!« Jan eilte wieder zurück.
Eine halbe Stunde später standen ausreichend viele Tische und Stühle auf der rechten Seite des blitzsauberen Trainingsraums. Links sollte die Tanzfläche sein.
»So!« Yvonne sah sich zufrieden um. »Und nun wird dekoriert.« Sie zückte ihr Handy.
Jan grinste. »Gibt’s dafür ’ne App?«
Seine Fast-Ehefrau schüttelte seufzend den Kopf, bevor sie das Telefon ans Ohr hob. »Quatsch, du Doof! Ich rufe Melli an, sie wollte mir helfen. Hallo Melli, ich bin’s!«
Jan verkrümelte sich. Deko war nun einmal Frauensache, genau wie Putzen. Er würde sich lieber um die technischen Details kümmern. Zum Beispiel darum, mit Andy eine Bierflasche fachgerecht zu öffnen.
Er betrat gerade den Empfangsbereich, als sich die Tür zur Straße öffnete. Als Jan erkannte, welch Unheil auf ihn zukam, fluchte er leise vor sich hin. Sollte er sich mit einem waghalsigen Hechtsprung hinter den Tresen werfen, um nicht entdeckt zu werden? Doch es war bereits zu spät.
»Da bist du ja, mein Junge!« Seine Mutter kam mit ausgebreiteten Armen und einem erfreuten Lächeln auf ihn zu.
Sie trug ein teures, pastellgrünes Kostüm mit den passenden Schuhen und war in eine angenehm duftende Parfumwolke gehüllt.
Hinter ihr betrat Jans Vater das Fitness-Studio, lässig in einen hellen Leinenanzug gekleidet. Er sah sich mit einem Blick um, der ausdrückte: Na ja, ungefähr das, was ich erwartet habe.
Während Jan seine Mutter umarmte und den abfälligen Blick seines Vaters registrierte, spürte er, wie die altbekannte Wut in ihm hoch kroch. Doch er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. »Was macht ihr denn hier?«, fragte er.
»Oh, wir wollen gleich irgendwo eine Kleinigkeit essen und dann ein bisschen bummeln gehen«, berichtete seine Mutter vergnügt. »Aber ich habe zu deinem Vater gesagt, bevor wir mit dem Sightseeing anfangen, möchte ich das Studio meines Sohnes besichtigen.«
»Es ist nicht mein Studio«, stellte Jan richtig. »Es gehört Yvonne. Ich bin hier bloß angestellt. Das wird sich auch nach der Hochzeit nicht ändern.«
»Es ist auf jeden Fall sehr schick.« Pamela sah sich aufmerksam um. »Nicht wahr, Martin?«
»Doch«, nickte Jans Vater. »Es sieht recht modern aus.«
»Besten Dank« Unbemerkt war Yvonne näher gekommen. »Find ich ja dufte, dass Sie mal vorbeischauen.« Sie reichte ihren zukünftigen Schwiegereltern freundlich lächelnd die Hand. »Soll ich Sie ’n bisschen herum führen?«
»Oh ja, gern!« Pamela hakte sich bei Yvonne ein und gemeinsam betraten sie den zum Festsaal umgemodelten Trainingsraum.
Jan hörte noch, wie seine Mutter vorschlug: »Das mit dem ›Sie‹ sollten wir jetzt aber lassen, meine Liebe. Schließlich sind wir bald verwandt.«
Jan wandte sich an seinen Vater. »Und? Wieso seid ihr wirklich hier?«
»Was meinst du damit? Deine Mutter war neugierig und wollte wissen, wo du arbeitest. Ist das so ungewöhnlich?«
»Schon gut, vergiss es«, lenkte Jan ein. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Sehr gerne.«
Sie gingen in die Küche. Jan holte einen Becher mit dem Fitness-Logo aus dem Schrank und füllte ihn, ahnend, dass sein Vater jeden Moment die Katze aus dem Sack lassen würde.
»Was verdienst du jetzt eigentlich?«, erkundigte Martin Schroeder sich in beiläufigem Tonfall. »Sicher deutlich weniger als damals bei der Computerfirma, oder?«
Aha, es geht los, dachte Jan. Ganz ruhig bleiben!
»Mehr ist es jedenfalls nicht geworden«, gab er zu und reichte seinem Vater den Kaffee.
»Abgeschlossenes BWL-Studium, Super-Job in einer riesigen Firma, und dann – Fitness-Trainer.«
Jans Vater spuckte das Wort regelrecht aus und schüttelte missbilligend den Kopf. »Klingt nicht gerade doll.«
»Tut mir leid, dass ich deine hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllt habe«, erwiderte Jan bissig. »Aber danke der Nachfrage, ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Die Arbeit macht mir Spaß und Yvonne und ich verdienen genug, um dem Kind hin und wieder Windeln kaufen zu können.«
Sein Vater ging nicht darauf ein. »Ich habe mich übrigens ein bisschen informiert«, sagte er und sah angelegentlich in seinen Kaffeebecher.
»Worüber?«
»Über die Verhandlung im letzten Jahr.« Er hob den Kopf wieder und sah seinen Sohn an. »Es war sehr aufschlussreich.«
Jan lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme. »Inwiefern?«
»Zum einen wurde erwähnt, dass es sich nicht um eine ›Belästigung‹ gehandelt hat, wie du sagtest …«
»Ich habe nur Rücksicht auf Yvonnes Gefühle genommen«, unterbrach Jan seinen Vater.
»Ah, okay, das verstehe ich natürlich.«
»Wie schön. Was noch?«
»Na ja, es wurde angedeutet, dass Yvonne früher – sagen wir mal – einen etwas unsteten Lebenswandel hatte.«
Jan deutete ein Lächeln an. »Wie blumig du das ausdrücken kannst«, sagte er trocken. »Und?«
»Nichts und. Ich frage mich nur – ich meine, immerhin ist deine Freundin schwanger und -«
»Sie ist meine Verlobte. Und ja, wir bekommen ein Kind. Wo ist das Problem? Spuck schon aus, was dich stört.«
»Ich mache mir natürlich Sorgen um meinen Enkel«, stieß Martin Schroeder hervor. »Der Vater ein Mörder, die Mutter eine ehemalige Nutte -«
Jan atmete tief ein und aus und betrachtete seinen Vater angewidert. Dann wies er mit ausgestrecktem Arm zur Tür. »Verschwinde besser, und zwar sofort. Du hast von nichts eine Ahnung, aber reißt das Maul auf.«
»Na hör mal! Im Internet habe ich erfahren, dass -«
»Scheiß aufs Internet!«, brüllte Jan. »Ich bin kein eiskalter Killer. Und Yvonne hat für ein unabhängiges, besseres Leben gekämpft. Sie wird eine verdammt gute Mutter sein, weil sie das wirkliche Leben kennt und sich durchgebissen hat. Sie ist keine oberflächliche Barbiepuppe und ich bin kein herablassender Mistkerl wie du, der sich auf sein Auto, seine Finca und seine Rolex reduziert!«
»Sag mal, wie redest du eigentlich mit deinem Vater??«
»So, wie ich es schon längst hätte tun sollen!« Jan drehte sich um und stapfte wütend aus der Küche. Jetzt brauchte er wirklich dringend ein Bier.
»Andy!«, brüllte er genervt. »Wo steckst du, zum Teufel?«