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Kapitel 2 – Mord & Mordgelüste

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Das Haus wirk­te mit dem spit­zen Dach, den ver­hält­nis­mä­ßig win­zi­gen Fens­tern und den Mau­ern aus ro­tem Back­stein, die mit Efeu über­wu­chert wa­ren, wie ein klei­nes He­xen­häus­chen.

Kri­mi­nal­o­ber­kom­missar Cars­ten An­dre­sen und sein Kol­le­ge, Kri­mi­nal­kom­missar Lutz Wei­chert, stie­gen aus An­dre­sens al­tem Mer­ce­des und sa­hen sich um. Hier, auf der West­li­chen Hö­he, wie die­ser Teil Flens­burg ge­nannt wur­de, hat­ten sie nicht oft zu tun.

Die Ge­gend war ru­hig, fast ge­die­gen. Es gab mehr Bäu­me als Au­tos, und bis auf ei­ni­ge Rad­fah­rer und ei­ne äl­te­re Da­me, die ein ver­mut­lich rein­ras­si­ges Schoß­hünd­chen spa­zie­ren führ­te, war nie­mand zu se­hen.

An­dre­sen leg­te den Kopf in den Na­cken und sah skep­tisch zum Him­mel. Von Os­ten her ka­men im­mer mehr Wol­ken her­an.

Hof­fent­lich blieb es tro­cken. Nicht nur, dass er Re­gen nicht lei­den konn­te – sei­ne Schei­ben­wi­scher­blät­ter muss­ten drin­gend aus­ge­wech­selt wer­den. Bei ei­nem Platz­re­gen wür­de er prak­tisch blind fah­ren.

Ne­ben­ein­an­der gin­gen sie auf das Haus zu.

Die ge­pflas­ter­te Auf­fahrt war mit Ein­satz­wa­gen der Po­li­zei und der Spu­ren­si­che­rung zu­ge­parkt.

An­dre­sen und Wei­chert bahn­ten sich ih­ren Weg um die Fahr­zeu­ge her­um, wo­bei An­dre­sens Blick auf dem un­ge­wohnt stop­pe­li­gen Kinn von Lutz Wei­chert hän­gen­blieb. Schon bei ih­rem Zu­sam­men­tref­fen war ihm auf­ge­fal­len, dass ir­gen­det­was an­ders war an sei­nem sonst über­aus ge­pfleg­ten Kol­le­gen. Nun wuss­te er, was es war.

»Ist Ihr Ra­sier­ap­pa­rat ka­putt?«, frag­te er.

»Wie­so?«

»Sie wir­ken heu­te we­ni­ger adrett als üb­lich«, ant­wor­te­te An­dre­sen und strich sich mit der Hand über sein ei­ge­nes stop­pe­li­ges Kinn.

»Ich ha­be mich ab­sicht­lich nicht ra­siert«, er­klär­te Wei­chert. »So ein kur­z­er Bart, wie Sie ihn ha­ben, ist doch ganz prak­tisch. Man muss sich nicht mehr täg­lich ra­sie­ren und kann mor­gens län­ger schla­fen. Au­ßer­dem ist Bart wie­der in.«

»Ver­ste­he.« An­dre­sen nick­te und wand­te den Kopf ab, um sein Grin­sen zu ver­ber­gen. Dem spär­li­chen Bart­wuchs sei­nes Kol­le­gen nach zu ur­tei­len wür­de es min­des­tens ei­ne Wo­che dau­ern, be­vor er einen Drei-Ta­ge-Bart vor­wei­sen konn­te.

Die Haus­tür stand of­fen und sie tra­ten in den dämm­ri­gen Flur. Der Ge­ruch von Tod und Ver­we­sung emp­fing sie.

An­dre­sen zog ei­ne an­ge­wi­der­te Gri­mas­se und Wei­chert ließ sei­ne un­te­re Ge­sichts­hälf­te hin­ter dem Re­vers sei­nes laub­frosch­grü­nen Bla­zers ver­schwin­den. »Him­mel, das ist ja grau­en­voll!«, stöhn­te er durch den Stoff.

An­dre­sen at­me­te durch den Mund ein und aus, wäh­rend er sich um­sah. Ein en­ger, dunk­ler Flur mit Schlüs­sel­käst­chen an der Wand und ei­ner Gar­de­ro­be in Ei­che rus­ti­kal. Selbst Wän­de und De­cke wa­ren mit dunklem Holz ge­tä­felt.

Nur durch die ge­öff­ne­te Haus­tür drang ein Licht­strahl, der die düs­te­re At­mo­sphä­re al­ler­dings eher be­ton­te als ab­mil­der­te. Aus dem Raum rechts von ih­nen ka­men Stim­men.

Als sie das Wohn­zim­mer be­tra­ten, sa­hen sie auf den ers­ten Blick nur zwei uni­for­mier­te Po­li­zei­be­am­te, die dicht an der Tür ste­hen­ge­blie­ben wa­ren.

Als An­dre­sen über ih­re Schul­tern späh­te, er­kann­te er die Mit­ar­bei­ter der Spu­ren­si­che­rung in ih­ren wei­ßen Schutz­an­zü­gen.

»Dür­fen wir mal durch?«, frag­te er. Die Be­am­ten ga­ben ihm und Wei­chert den Weg frei.

Im Fern­seh­ses­sel saß das Op­fer. Es war ge­fes­selt. Über dem Mund be­fand sich ein großer Kle­be­strei­fen. Der äl­te­re Mann war bes­tia­lisch zu­ge­rich­tet wor­den. Kopf­haut und Ge­sicht wa­ren mit Brand­bla­sen über­sät, dun­kel­rot und zum Teil auf­ge­platzt.

An­dre­sen hör­te Wei­chert hin­ter sich lei­se wür­gen und hat­te selbst Schwie­rig­kei­ten, sein Früh­stück bei sich zu be­hal­ten. Den­noch zwang er sich, ge­nau­er hin­zu­schau­en.

Der Ober­kör­per des Man­nes wies zahl­rei­che Stich­wun­den auf. Ge­trock­ne­tes Blut zier­te den hell­grau­en Pull­over. Flie­gen summ­ten um die Lei­che her­um und lie­ßen sich im­mer wie­der auf ihr nie­der.

Ein Kol­le­ge trat auf sie zu. Auch er war blass um die Na­se. »Der Mann heißt He­ri­bert Jen­sen«, be­rich­te­te er. »Achtund­sech­zig Jah­re alt, Pen­sio­när, ver­wit­wet.«

»Kin­der?«

»Fo­tos von Kin­dern oder En­keln sind nir­gends zu se­hen, aber wir wer­den das noch über­prü­fen.«

»Wer hat ihn ge­fun­den?«

»Ei­ne Nach­ba­rin. Sie hält sich in ih­rem Haus zur Ver­fü­gung.«

Der Ge­richts­me­di­zi­ner Dr. Karl-Heinz Schwarz­haupt kam auf sie zu und zog sich da­bei sei­ne Ein-weg-Hand­schu­he aus.

»Moin, Cars­ten.« Sei­ne Stim­me klang dumpf, da ein Mund­schutz sei­ne un­te­re Ge­sichts­hälf­te be­deck­te. Sie reich­ten sich die Hän­de.

»Hal­lo, Kal­le. Kön­nen wir drau­ßen re­den?«

Dass Dr. Schwarz­haupt schmun­zeln muss­te, er­kann­te man nur an der Ver­tie­fung der Lach­fält­chen um sei­ne blau­en Au­gen.

Er nahm sei­nen Mund­schutz ab. »Gern. Wie du weißt, bin ich ei­ni­ges ge­wohnt, aber selbst mir wird hier drin lang­sam schlecht.«

Sie tra­ten durch die schma­le Ter­ras­sen­tür nach drau­ßen. Wei­chert folg­te ih­nen und at­me­te tief durch. »Das tut gut«, seufz­te er.

An­dre­sen grins­te.

In dem klei­nen Gar­ten gab es links ei­ne Ra­sen­flä­che samt Ap­fel­baum. Auf dem Grün la­gen ver­ein­zel­te wei­ße Blü­ten­blät­ter wie große Schnee­flo­cken.

Das Gras stand hoch, Klee, Moos und Lö­wen­zahn hat­ten sich dar­auf aus­ge­brei­tet. Auf der rech­ten Sei­te des Gar­tens wa­ren Blu­men- und Ge­mü­se­bee­te, in de­nen das Un­kraut wu­cher­te wie Pi­ckel auf ei­nem Tee­na­ger. Ein mit Stein­plat­ten be­leg­ter Weg trenn­te die Hälf­ten.

Schmet­ter­lin­ge und Bie­nen schwirr­ten um die Pflan­zen, die Luft roch wür­zig. Fröh­li­ches Vo­gel­ge­zwit­scher ver­stärk­te den idyl­li­schen Ein­druck noch. Ver­g­li­chen mit dem In­ne­ren des Hau­ses war es hier di­rekt pa­ra­die­sisch.

An­dre­sen und Schwarz­haupt setz­ten sich auf zwei der vier Plas­tik­gar­ten­stüh­le, die auf der klei­nen Ter­ras­se stan­den. Wei­chert wisch­te et­was Schmutz von der Sitz­flä­che, be­vor er sich eben­falls nie­der­ließ.

»Es ist nur ei­ne Ver­mu­tung«, wand­te sich An­dre­sen an den Me­di­zi­ner, »doch ich ge­he da­von aus, dass der ar­me Mann län­ger als ein paar Stun­den tot ist.«

»Min­des­tens ei­ne Wo­che«, nick­te Schwarz­haupt und schlug die Bei­ne über­ein­an­der. »Die To­ten­star­re hat sich be­reits voll­stän­dig ge­löst, die Au­gäp­fel sind ein­ge­sun­ken, die Ma­den ha­ben sich noch nicht ver­puppt. All das deu­tet auf ei­ne Zeit­span­ne von sie­ben bis zehn Ta­gen hin. Ab­ge­se­hen da­von war der Brief­kas­ten ziem­lich voll und in der Kü­che ha­ben dei­ne Kol­le­gen ei­ne Ta­ges­zei­tung ge­fun­den. Sie ist vom zwei­ten Mai. Letz­tem Mon­tag.«

»Zwei­ter Mai«, wie­der­hol­te Wei­chert und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Das wä­ren zehn Ta­ge. Ganz schön schau­rig.«

Dr. Schwarz­haupt sah ihn ein we­nig mit­lei­dig an.

»Es pas­siert lei­der im­mer häu­fi­ger, dass al­lein ste­hen­de Men­schen, die ver­stor­ben sind, erst spät ge­fun­den wer­den«, sag­te er. »Manch­mal ver­ge­hen so­gar Mo­na­te.«

»Ich weiß das ja«, mur­mel­te Wei­chert. »Aber es ist et­was an­de­res, wenn man …« Er brach ab und sah in den Gar­ten.

»… wenn man es mit ei­ge­nen Au­gen sieht?«, vollen­de­te An­dre­sen den Satz. »Ja, das stimmt. Bei mei­ner ers­ten ver­wes­ten Lei­che bin ich so­gar in Ohn­macht ge­fal­len. Sie hal­ten sich al­so ganz gut.« Er lä­chel­te Wei­chert auf­mun­ternd zu.

»Sie?! Sie sind in Ohn­macht ge­fal­len?«

An­dre­sens Kol­le­ge konn­te es of­fen­bar nicht fas­sen, dass ein Zwei-Me­ter-Hü­ne wie er beim An­blick ei­ner Lei­che ein­mal um­ge­kippt war wie ein Sack Kar­tof­feln.

An­dre­sen kratz­te sich ver­le­gen an der Na­se. »Ich bin nicht stolz dar­auf, al­so kon­zen­trie­ren wir uns lie­ber wie­der auf das We­sent­li­che.« Er wand­te sich an den Arzt. »Hast du schon die To­des­ur­sa­che?«

Schwarz­haupt schüt­tel­te den Kopf. »Er ist ganz schön ge­fol­tert wor­den. Ihm wur­den nicht nur bü­schel­wei­se Haa­re aus­ge­ris­sen, am Hals fand ich ei­ne Ver­bren­nung, die of­fen­bar von ei­ner Zi­ga­ret­te stammt. Faust­schlä­ge gab es auch, da­von zeu­gen meh­re­re Hä­ma­to­me an den Wan­gen­kno­chen, dann die Ver­brü­hun­gen am Kopf und im Ge­sicht, die Mes­ser­sti­che …« Der Arzt strich nach­denk­lich mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger sei­nen dunklen Schnauz­bart glatt. »Vi­el­leicht wa­ren es die Stich­ver­let­zun­gen, es könn­te al­ler­dings auch ein Her­z­an­fall auf­grund der Miss­hand­lun­gen ge­we­sen sein, der schlus­send­lich zum Tod ge­führt hat. So ad hoc kann ich dir das nicht sa­gen. Da musst du schon mei­nen Be­richt ab­war­ten.«

»Gab es sonst noch et­was In­ter­essan­tes?«

»Nun, er hat sich ein­ge­nässt«, ant­wor­te­te der Arzt.

»Der ar­me Kerl muss ei­ne Scheiß­angst ge­habt ha­ben. Aber ob dir die­se In­fo was bringt …«

»Dan­ke trotz­dem.« An­dre­sen er­hob sich und nick­te Wei­chert zu. »Ich schla­ge vor, wir un­ter­hal­ten uns als Ers­tes mit der Nach­ba­rin, die ihn ge­fun­den hat.«

»Kön­nen wir au­ßen her­um ge­hen?«, bat Wei­chert mit ei­nem ban­gen Blick Rich­tung Wohn­zim­mer.

»Si­cher.« An­dre­sen lä­chel­te. »Doch vor­her fra­gen Sie die Kol­le­gen nach Na­men und Adres­se der Zeu­gin.«

»Mir bleibt auch nichts er­spart.« Wei­chert seufz­te, ver­steck­te er­neut sei­ne Na­se hin­ter dem Stoff sei­nes Bla­zers und be­trat mit der Mie­ne ei­nes Mär­ty­rers zum zwei­ten Mal das Wohn­zim­mer.


Knapp fünf Mi­nu­ten spä­ter klin­gel­ten die Kom­missa­re am Nach­bar­haus rechts vom Tat­ort. Der me­lo­di­sche Klin­gel­ton war kaum ver­hallt, als die Tür sich auch schon öff­ne­te.

Da hat wohl je­mand be­reits un­ge­dul­dig ge­war­tet, dach­te An­dre­sen leicht amü­siert.

Die Frau, die im Tür­rah­men er­schi­en, war et­wa Mit­te Sech­zig. Sie trug ei­ne ge­blüm­te Blu­se und einen dun­kelblau­en Fal­ten­rock. Hin­ter ih­ren di­cken Bril­lenglä­sern sa­hen die hell­brau­nen Au-gen grö­ßer aus, als sie ver­mut­lich wa­ren.

»Ja, bit­te?«

»Frau Lie­se­lot­te Schlü­ter?«

»Die bin ich.« Frau Schlü­ter hob den Kopf und sah ih­re Be­su­cher ab­war­tend an. Bei­de hiel­ten ih­re Aus­wei­se hoch.

»Kri­mi­nal­o­ber­kom­missar Cars­ten An­dre­sen. Das ist mein Kol­le­ge, Kri­mi­nal­kom­missar Lutz Wei­chert. Wir sind von der Mord­kom­mis­si­on Flens­burg und hät­ten ein paar Fra­gen an Sie.«

Lie­se­lot­te Schlü­ter nick­te und öff­ne­te die Tür wei­ter. »Ich hab Sie er­war­tet. Na, denn kom­men Sie man rein.«

Sie folg­ten ihr in ein hel­les, bie­de­res Wohn­zim­mer, im Land­haus­stil ein­ge­rich­tet und per­fekt auf­ge­räumt. Kein Staub­körn­chen war zu se­hen. Die de­zent ge­blüm­ten Ses­sel stan­den auf zier­li­chen Fü­ßen, Couch- und Bei­stell­tisch schmück­ten ge­hä­kel­te Deck­chen und auf al­len Abla­ge­flä­chen ver­brei­te­te Por­zel­lan-Nip­pes ei­ne Au­ra der Tu­gend und An­stän­dig­keit.

Frau Schlü­ter wies ein­la­dend auf das So­fa. »Set­zen Sie sich. Darf ich Ih­nen was an­bie­ten? Ei­nen Kaf­fee oder lie­ber einen Schnaps?«

An­dre­sen schüt­tel­te den Kopf. »Dan­ke, nein. Wir sind ja noch im Dienst.«

»Al­so, ich brauch jetzt ’n Schluck«, ver­kün­de­te sie. »So was er­lebt man ja nicht al­le Ta­ge.«

An­dre­sen setz­te sich vor­sich­tig auf die Kan­te der zier­li­chen Couch, da­mit der ex­ak­te Knick in dem Kis­sen hin­ter ihm nicht ver­rutsch­te. Selbst in der gu­ten Stu­be sei­ner Oma war es nicht so or­dent­lich ge­we­sen wie hier. Es kam ihm vor, als ent­wei­he er ein Mu­se­um.

Auch Wei­chert fühl­te sich sicht­lich un­wohl, als er sich in ei­nem der schma­len Ses­sel nie­der­ließ.

Lie­se­lot­te Schlü­ter steu­er­te die Kirsch­baum-Schrank­wand an und öff­ne­te ei­ne Klap­pe, die sich nach un­ten öff­ne­te und ei­ne klei­ne, ver­spie­gel­te Bar zu­ta­ge för­der­te. Dort stan­den meh­re­re an­ge­bro­che­ne Fla­schen; An­dre­sen er­kann­te ein paar Co­gnac­sor­ten, zwei ver­schie­de­ne Fla­schen Bour­bon und ei­ni­ge Li­kö­re. Mit si­che­rem Griff nahm Frau Schlü­ter einen Co­gnac zur Hand und goss sich einen groß­zü­gi­gen Schluck ein.

Mit dem zier­li­chen Kris­tall­glas in der Hand setz­te sie sich auf einen der bei­den Ses­sel. Dann kipp­te sie den Co­gnac hin­un­ter, stell­te das Glas mit ei­nem zu­frie­de­nen Seuf­zer auf ei­nem Fil­zun­ter­set­zer ab und lehn­te sich zu­rück.

An­dre­sen beug­te sich vor. »Jetzt er­zäh­len Sie doch mal, Frau Schlü­ter. Am bes­ten von An­fang an.«

Sie ver­schränk­te die Hän­de lo­cker im Schoß, als be­gän­ne nun Lie­se­lot­tes Mär­chen­stun­de.

An­dre­sen ver­mu­te­te, dass ihr Le­ben an­sons­ten eher ein­tö­nig ver­lief und sie es ge­noss, im Mit­tel­punkt von et­was so Auf­re­gen­dem wie ei­nem Mord­fall zu ste­hen. Das gab ge­wiss Ge­sprächss­toff für Mo­na­te.

»Wis­sen Sie, ich kenn Herrn Jen­sen ja schon, seit er und sei­ne Frau her­ge­zo­gen sind. 2008 war das, glaub ich. Im März oder April. Oder im Mai? Na, egal, je­den­falls war es im Früh­ling. Sie – al­so Frau Jen­sen – ist ja vor ein oder zwei Jah­ren ver­stor­ben, Krebs, wis­sen Sie? Ei­ne net­te Frau war das, ’n bü­schen ru­hig viel­leicht. Je­den­falls, seit­dem sah man nicht mehr viel von ihm. Er war zwar ban­nig oft in sei­nem Gar­ten, aber be­son­ders red­se­lig war er nicht ge­ra­de.«

Vi­el­leicht kam er auch nur nicht zu Wort, dach­te An­dre­sen und nutz­te ei­ne Atem­pau­se der Zeu­gin für ei­ne Fra­ge. »Was ge­nau ist denn heu­te pas­siert?« Aus den Au­gen­win­keln be­ob­ach­te­te er, dass Wei­chert sich eif­rig No­ti­zen mach­te.

Lie­se­lot­te Schlü­ter er­hob sich schwer­fäl­lig, hol­te die Co­gnacfla­sche und schenk­te sich un­ge­niert noch ein­mal ein. Ih­re an­fäng­li­che vor­neh­me Zu­rück­hal­tung hat­te sie über­ra­schend schnell ab­ge­legt. Sie war­te­te mit der Ant­wort, bis der Schnaps ih­re Keh­le hin­un­ter ge­lau­fen war und räus­per­te sich dann.

»Neu­lich ist mir auf­ge­fal­len, dass ich Herrn Jen­sen schon län­ger nicht ge­se­hen hab. Gera­de im Früh­ling ist das sehr un­ge­wöhn­lich, wis­sen Sie? Er ist ei­gent­lich je­den Tag ei­ne Wei­le drau­ßen. Denn ist mir noch auf­ge­fal­len, dass der Gar­ten mit Un­kraut über­wu­chert ist. Ja, und da fing ich an, mir ernst­haft Sor­gen zu ma­chen. Sonst ist der näm­lich im­mer pi­ko­bel­lo, wis­sen Sie? Kein an­de­rer Nach­bar küm­mer­te sich so gründ­lich um sei­nen Gar­ten wie Herr Jen­sen. Bei ihm ge­dieh auch ein­fach al­les.«

Sie seufz­te und schüt­tel­te be­trübt den Kopf.

An­dre­sen nick­te, wur­de aber lang­sam un­ge­dul­dig.

Schließ­lich wa­ren sie nicht hier, um sich einen Vor­trag über die bo­ta­ni­schen Fä­hig­kei­ten des Op­fers an­zu­hö­ren.

»Er­zäh­len Sie bit­te wei­ter, Frau Schlü­ter«, bat er.

»Wie? Ach so, ja. Al­so, heu­te Mit­tag kam ich mit un­se­rem Post­bo­ten ins Ge­spräch. Herrn Eckert. Er frag­te, ob der Herr Jen­sen ver­reist sei, weil sein Brief­kas­ten so voll ist. Ich sag­te, dass Herr Jen­sen ei­gent­lich nie ver­reist. Das wüss­te ich, wis­sen Sie, weil ich einen Schlüs­sel ha­be und er mich dann doch be­stimmt bit­ten wür­de, mich um die Post und die Pflan­zen zu küm­mern. Das hat er aber noch nie ge­macht.«

»Und warum ha­ben Sie einen Schlüs­sel, wenn Herr Jen­sen nie ver­reist?«, woll­te An­dre­sen wis­sen.

Sie blin­zel­te hin­ter den di­cken Bril­lenglä­sern.

»Es ist ein paar Mal vor­ge­kom­men, dass er sich aus­ge­sperrt oder sei­nen Schlüs­sel ver­lo­ren hat. Wis­sen Sie, Herr Jen­sen ist ein klu­ger Mann – war ein klu­ger Mann«, ver­bes­ser­te sie sich au­gen­blick­lich, »aber auch manch­mal ein we­nig, na­ja, schus­se­lig. Und ver­ge­ss­lich. So ein Schlüs­sel­dienst ist teu­er, da hat er sich wohl ge­dacht, es ist bes­ser, wenn er je­man­den bit­tet, einen Er­satz­schlüs­sel auf­zu­be­wah­ren. Tja, und das war eben ich.«

Sie sah so stolz aus, als hät­te man sie ge­be­ten, für das Amt der Bun­des­kanz­le­rin zu kan­di­die­ren.

»Was ge­sch­ah dann?«

»Nun, wir – der Herr Eckert und ich – ha­ben uns über­legt, was mit Herrn Jen­sen sein könn­te. Ob er sich ver­letzt hat oder so, wis­sen Sie? Es wä­re ja mög­lich, dass er Hil­fe braucht. Al­so ha­ben wir be­schlos­sen, nach ihm zu se­hen.«

Sie stock­te. Ihr in die Fer­ne ge­rich­te­ter Blick zeug­te da­von, dass sie das gräss­li­che Bild wie­der vor Au­gen hat­te, das sich ihr und dem Brief­trä­ger ge­bo­ten hat­te.

In Ge­dan­ken ver­sun­ken goss sie sich einen wei­te­ren Co­gnac ein, ver­mut­lich um das Bild aus ih­rem Kopf zu spü­len. Se­kun­den spä­ter war das Glas leer. An­dre­sen mach­te ei­ne auf­for­dern­de Hand­be­we­gung und die äl­te­re Da­me fuhr fort.

»Wo war ich? Oh, ich weiß schon. Der Herr Eckert und ich gin­gen zu­sam­men nach ne­ben­an. Und als wir die Tür öff­ne­ten, merk­ten wir gleich, dass da was nicht stimmt. Wis­sen Sie, es roch so … so …«

Ver­geb­lich such­te sie nach ei­nem pas­sen­den Wort und sah ih­re Be­su­cher hil­fe­su­chend an.

An­dre­sen nick­te ver­ste­hend und Frau Schlü­ter schenk­te ihm ein klei­nes, dank­ba­res Lä­cheln.

»Ich hab wirk­lich noch nie et­was so Grau­en­vol­les ge­se­hen«, ver­si­cher­te sie. »Wis­sen Sie, hät­te Herr Eckert mich nicht fest­ge­hal­ten, ich wär glatt aus den Pan­ti­nen ge­kippt.«

»Hat­te Herr Jen­sen in der letz­ten Zeit Be­such? Von Freun­den oder Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen?«, er­kun­dig­te sich An­dre­sen.

Lie­se­lot­te Schlü­ter schüt­tel­te den Kopf. »Nein, nicht das ich wüss­te. Ich ha­be noch nie er­lebt, dass er Be­such be­kom­men hat.«

»Was ist mit Kin­dern und En­keln?«

Sie hob rat­los die Schul­tern. »Er hat nie von Fa­mi­lie ge­spro­chen. Ich glau­be, er und sei­ne Frau wa­ren kin­der­los.«

»Hat­te er Fein­de? Vi­el­leicht un­ter den Nach­barn?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich kann es mir nicht vor­stel­len. Herr Jen­sen war nicht sehr kon­takt­freu­dig, blieb lie­ber für sich. Er ging höchs­tens mal ein­kau­fen oder zum Fried­hof.«

»Ha­ben Sie vor et­wa zehn Ta­gen je­man­den in der Ge­gend ge­se­hen? Ei­nen Frem­den? Oder ein Au­to, das Sie nicht kann­ten? Ist Ih­nen sonst et­was Un­ge­wöhn­li­ches auf­ge­fal­len?«

Frau Schlü­ter über­leg­te. »Nein, ich kann mich nicht er­in­nern. Was sag­ten Sie? Zehn Ta­ge liegt er da schon? Oh, mein Gott, wie furcht­bar!«

Sie mach­te ei­ne be­deu­tungs­schwe­re Pau­se, dann füg­te sie nach­drück­lich hin­zu: »Wis­sen Sie, wenn Sie mich fra­gen, kann das nur ein völ­lig kran­kes Hirn ge­tan ha­ben.«

***

Jan wur­de wach, als Yvon­ne die lan­gen Bei­ne aus dem Bett schwang, zum Fens­ter hin­über­ging und die schwe­ren, dun­kel­brau­nen Vor­hän­ge zur Sei­te schob. Er blin­zel­te und sah zu ihr hin­über. Die blon­den Lo­cken wa­ren wie je­den Mor­gen noch un­or­dent­lich vom Schlaf. Er lieb­te die­sen An­blick. »Be­weg dich nicht«, flüs­ter­te er.

Sie dreh­te sich zu ihm um und lä­chel­te.

»Du siehst aus wie ein En­gel«, flüs­ter­te er an­däch­tig.

Ih­re rech­te Hand strich über die klei­ne, noch kaum sicht­ba­re Wöl­bung in ih­rer Kör­per­mit­te. »Ich hab noch nie von ’nem schwan­ge­ren En­gel ge­hört.«

»Egal.« Jan wink­te ab. »Dann bist du eben der ers­te.«

Sie mach­te ein paar Schrit­te auf ihn zu, griff nach der De­cke und zog sie mit ei­nem Ruck weg. Sein em­pör­tes »Hey!!« igno­rier­te sie.

»Steh auf, Schnucki. Wir ha­ben ’ne Men­ge zu tun.«

»Was denn?« Jan zog die in ver­schie­de­nen Braun­tö­nen ge­mus­ter­te De­cke vom Bo­den zu­rück ins Bett und brei­te­te sie über sich aus. »Wir ha­ben einen Ter­min beim Stan­des­amt, die Lo­ca­ti­on für die Par­ty steht, die Gäs­te sind ein­ge­la­den. Es­sen, Ge­trän­ke und Mu­sik sind or­ga­ni­siert.« Ge­las­sen ver­schränk­te er die Ar­me hin­ter dem Kopf. »Al­les ist er­le­digt.«

Sie mus­ter­te ihn mit er­ho­be­ner Au­gen­braue. »Was ja nicht un­be­dingt dir zu ver­dan­ken ist, du Napp­sül­ze.«

»Ich bin nun mal nicht be­son­ders gut in sol­chen Din­gen«, gab er zu und ver­zog un­wil­lig das Ge­sicht. »Da­für ha­be ich mich um das Stu­dio ge­küm­mert.«

»Heu­te Vor­mit­tag macht das je­den­falls An­dy«, sag­te sie. »Du wirst ein­kau­fen. Zet­tel ist fer­tig, liegt in der Kü­che. Au­ßer­dem hol­s­te dei­nen An­zug ab.«

»Und was machst du?«

Yvon­ne ver­dreh­te die Au­gen. »Ich hab ’nen Ter­min beim Fri­seur, wir pro­ben die Fri­sur für Sams­tag. Das hab ich dir ges­tern schon verkli­ckert. Au­ßer­dem will ich zur Ma­ni­kü­re und mein Kleid muss ich auch ab­ho­len.«

»Was für ein Auf­wand, bloß da­mit zwei Leu­te ›Ja‹ sa­gen«, brumm­te Jan und zog sich die De­cke über den Kopf.

»Wills­te et­wa in letz­ter Se­kun­de knei­fen?«, frag­te sei­ne Ver­lob­te dro­hend.

Er zog die De­cke ein Stück­chen von sei­nem Kopf her­un­ter, so dass sei­ne Au­gen und die Na­sen­spit­ze her­vor­lug­ten. »Nee, will ich nicht. Aber als ich dir einen An­trag ge­macht ha­be, ist mir nicht klar ge­we­sen, dass Hei­ra­ten so an­stren­gend ist.«

»Ver­g­li­chen mit der Ehe ist es der reins­te Sonn­tags­spa­zier­gang, Schnucki, wart’s ab.«

Ehe er et­was er­wi­dern konn­te, nahm sie An­lauf und sprang aufs Bett, di­rekt auf ihn drauf.

Die­ser un­er­war­te­te Fron­tal­an­griff press­te Jan die Luft aus den Lun­gen, so dass er ein er­stick­tes Keu­chen von sich gab. »Ich glau­be, un­ter die­sen Um­stän­den über­le­ge ich mir das Gan­ze noch­mal«, stöhn­te er.

Yvon­ne lach­te, beug­te sich über ihn und gab ihm einen di­cken Kuss.


Die Fei­er soll­te in Yvon­nes Fit­ness-Stu­dio statt-fin­den. Das kam güns­ti­ger und von den Räum­lich­kei­ten her war es ide­al, zu­mal das Stu­dio im Erd­ge­schoss des Hau­ses lag, in dem Jan und Yvon­ne un­ter dem Dach wohn­ten.

Der große, huf­ei­sen­för­mi­ge Empfangstre­sen wür­de zur Bar um­funk­tio­niert wer­den. An­dy hat­te sich be­reit er­klärt, den Bar­kee­per zu ma­chen und Jans Freund Tom woll­te sich um die Mu­sik küm­mern.

Um aus­rei­chend Zeit für die Vor­be­rei­tun­gen zu ha­ben, soll­te das Fit­ness-Stu­dio be­reits an die­sem Tag, dem Don­ners­tag vor der Hoch­zeit, ab mit­tags ge­schlos­sen wer­den. Als Jan ge­gen vier­tel nach zwölf mit den Ein­käu­fen ins Stu­dio kam, zo­gen sich ge­ra­de die letz­ten Mit­glie­der um.

An­dy war be­reits da­bei, die Ge­wich­te aus dem großen Trai­nings­raum in einen der bei­den klei­ne­ren Räu­me zu brin­gen, in de­nen sonst die Kur­se statt­fan­den.

Jan schlepp­te die Ein­käu­fe in die Kü­che. Nach­dem er sie weg­ge­räumt hat­te half er An­dy, den Trai­nings­raum zu lee­ren.

»Ist echt nett von dir, uns zu hel­fen«, keuch­te er, als sie ge­mein­sam ei­nes der Lauf­bän­der in den Gym­nas­ti­kraum hiev­ten.

»Kei­ne Ur­sa­che. Schei­ße, ist das schwer!«

Auch An­dy klang an­ge­strengt. Bei­de stöhn­ten er­leich­tert auf, als sie ihr Ziel er­reicht hat­ten und das Lauf­band ab­setz­ten. Jan roll­te die Schul­tern und streck­te den Rücken durch.

»Wie­so ha­ben die­se Din­ger ei­gent­lich kei­ne Rol­len?«, woll­te An­dy wis­sen, stütz­te sich auf dem Sat­tel ei­nes Heim­trai­ners ab und wisch­te sich die Stirn. Die Son­ne schi­en durch die Fens­ter und heiz­te den Raum auf. Ei­gent­lich war es viel zu warm für schwe­re, kör­per­li­che Ar­beit.

Jan zuck­te mit den Schul­tern, zog den Griff des Lauf­bands auf ei­ner Sei­te nach un­ten, so dass sich die an­de­re Sei­te vom Bo­den hob und warf einen Blick un­ter das Gerät. »Oh-oh!«

»Was ist?«

»Du musst jetzt sehr tap­fer sein, Kum­pel.« Mit ei­nem schie­fen Lä­cheln sah er sei­nen Freund an. »Es hat Rol­len.«

»Du ver­arschst mich.«

Jan schüt­tel­te den Kopf. »Lei­der nicht. Aber sieh es mal so: Die an­de­ren krie­gen wir leich­ter hier­her.«

Nach die­ser bahn­bre­chen­den Ent­de­ckung wa­ren die Han­teln und Ge­wich­te das Schwers­te, was sie zu tra­gen hat­ten und die Ar­beit ging zü­gig vor­an. Das war auch gut so, denn kaum war der Raum leer, hör­ten sie ei­ne tie­fe Stim­me aus dem Empfangs­be­reich. »Hal­lo-ho! Is hier wer?«

Jan eil­te nach vorn. Vor dem Empfangstre­sen stan­den zwei Män­ner, die einen grü­nen Over­all mit dem Auf­druck ei­ner Trans­port­fir­ma tru­gen.

»Hi! Sind Sie die Ti­sche und Stüh­le?«, frag­te Jan.

Die bei­den Män­ner, der ei­ne kahl­köp­fig und vier­schrö­tig, der an­de­re lang mit fet­ti­gen Haa­ren und un­rei­ner Haut, grins­ten sich an.

»Nee«, sag­te der Lan­ge. »Aba wir brin­gen wel­che.«

Jan klatsch­te un­ter­neh­mungs­lus­tig in die Hän­de. »Na, dann mal rein da­mit. Wir sind ge­ra­de mit dem Leer­räu­men fer­tig ge­wor­den.«

»Denn is ja det Schwers­te je­schafft«, lob­te der Glatz­kopf mit ei­nem iro­ni­schen Un­ter­ton und zog mit sei­nem Kol­le­gen von dan­nen.

Jan sah ihm mit ge­run­zel­ter Stirn nach. »Witz­bold.«

Yvon­ne kam her­ein ge­fegt, mit hoch­ge­steck­ten Haa­ren und der großen Tü­te ei­nes Ge­schäfts für Braut­mo­den in der frisch ma­ni­kür­ten Hand.

Neu­gie­rig sah sie den Mö­bel­pa­ckern nach. »Sind das die Ti­sche und die Stüh­le?«, frag­te sie zur Be­grü­ßung.

»Nee«, grins­te Jan. »Aber sie brin­gen sie.«

»Ha­ha.« Yvon­ne lins­te in den leer ge­räum­ten Trai­nings­raum. »Has­te schon ge­saugt und ge­wischt?«

Jan sah ih­ren zwei­feln­den Blick und tat un­schul­dig. »Wie­so?«

Ge­nervt stell­te Yvon­ne die Tü­te ab. »Siehs­te nich die gan­zen Woll­mäu­se in den Ecken? Ist doch wohl sinn­vol­ler, sau­ber zu ma­chen, be­vor sie die Mö­bel da rein stel­len, oder?«

»Das war ’ne rhe­to­ri­sche Fra­ge, stimmt’s?«

»Man­noh­mann!« Kur­zer­hand über­nahm Yvon­ne das Kom­man­do. »Bring den bei­den ’ne Tas­se Kaf­fee und sag ih­nen, sie sol­len ’ne Zi­ga­ret­ten­pau­se ma­chen. Ich mach in­zwi­schen sau­ber. Da­nach hilfs­te mit An­dy beim Schlep­pen, al­les klar?«

Sie war­te­te kei­ne Ant­wort ab, son­dern hol­te den Staub­sau­ger aus dem Ab­stell­raum. We­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter er­klang ein lau­tes Dröh­nen.

Jan eil­te nach drau­ßen. Er­freu­li­cher­wei­se park­ten die Mö­bel­pa­cker di­rekt vor dem Haus.

»Zi­ga­ret­ten­pau­se!«, rief er.

»Echt?« Der Lan­ge hielt drei Klapp­stüh­le in den Ar­men und sah ihn er­staunt an. »Wir ham doch noch jar nich an­je­fan­gen.«

»Or­der von der Che­fin«, er­klär­te Jan. »Wollt ihr einen Kaf­fee?«

»Da sa­gen wir nich Nein.« Der Glatz­kopf hiev­te sei­nen grün um­hüll­ten Kör­per auf die Kan­te der La­de­flä­che und zün­de­te sich ei­ne Kip­pe an.

»Kommt so­fort!« Jan eil­te wie­der zu­rück.


Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter stan­den aus­rei­chend vie­le Ti­sche und Stüh­le auf der rech­ten Sei­te des blitz­sau­be­ren Trai­nings­raums. Links soll­te die Tanz­flä­che sein.

»So!« Yvon­ne sah sich zu­frie­den um. »Und nun wird de­ko­riert.« Sie zück­te ihr Han­dy.

Jan grins­te. »Gibt’s da­für ’ne App?«

Sei­ne Fast-Ehe­frau schüt­tel­te seuf­zend den Kopf, be­vor sie das Te­le­fon ans Ohr hob. »Quatsch, du Doof! Ich ru­fe Mel­li an, sie woll­te mir hel­fen. Hal­lo Mel­li, ich bin’s!«

Jan ver­krü­mel­te sich. De­ko war nun ein­mal Frau­en­sa­che, ge­nau wie Put­zen. Er wür­de sich lie­ber um die tech­ni­schen De­tails küm­mern. Zum Bei­spiel dar­um, mit An­dy ei­ne Bier­fla­sche fach­ge­recht zu öff­nen.

Er be­trat ge­ra­de den Empfangs­be­reich, als sich die Tür zur Stra­ße öff­ne­te. Als Jan er­kann­te, welch Un­heil auf ihn zu­kam, fluch­te er lei­se vor sich hin. Soll­te er sich mit ei­nem wag­hal­si­gen Hecht­sprung hin­ter den Tre­sen wer­fen, um nicht ent­deckt zu wer­den? Doch es war be­reits zu spät.

»Da bist du ja, mein Jun­ge!« Sei­ne Mut­ter kam mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men und ei­nem er­freu­ten Lä­cheln auf ihn zu.

Sie trug ein teu­res, pas­tell­grü­nes Ko­stüm mit den pas­sen­den Schu­hen und war in ei­ne an­ge­nehm duf­ten­de Par­fum­wol­ke gehüllt.

Hin­ter ihr be­trat Jans Va­ter das Fit­ness-Stu­dio, läs­sig in einen hel­len Lei­nen­an­zug ge­klei­det. Er sah sich mit ei­nem Blick um, der aus­drück­te: Na ja, un­ge­fähr das, was ich er­war­tet ha­be.

Wäh­rend Jan sei­ne Mut­ter um­arm­te und den ab­fäl­li­gen Blick sei­nes Va­ters re­gis­trier­te, spür­te er, wie die alt­be­kann­te Wut in ihm hoch kroch. Doch er be­müh­te sich, sich nichts an­mer­ken zu las­sen. »Was macht ihr denn hier?«, frag­te er.

»Oh, wir wol­len gleich ir­gend­wo ei­ne Klei­nig­keit es­sen und dann ein biss­chen bum­meln ge­hen«, be­rich­te­te sei­ne Mut­ter ver­gnügt. »Aber ich ha­be zu dei­nem Va­ter ge­sagt, be­vor wir mit dem Sight­see­ing an­fan­gen, möch­te ich das Stu­dio mei­nes Soh­nes be­sich­ti­gen.«

»Es ist nicht mein Stu­dio«, stell­te Jan rich­tig. »Es ge­hört Yvon­ne. Ich bin hier bloß an­ge­stellt. Das wird sich auch nach der Hoch­zeit nicht än­dern.«

»Es ist auf je­den Fall sehr schick.« Pa­me­la sah sich auf­merk­sam um. »Nicht wahr, Mar­tin?«

»Doch«, nick­te Jans Va­ter. »Es sieht recht mo­dern aus.«

»Bes­ten Dank« Un­be­merkt war Yvon­ne nä­her ge­kom­men. »Find ich ja duf­te, dass Sie mal vor­bei­schau­en.« Sie reich­te ih­ren zu­künf­ti­gen Schwie­ger­el­tern freund­lich lä­chelnd die Hand. »Soll ich Sie ’n biss­chen her­um füh­ren?«

»Oh ja, gern!« Pa­me­la hak­te sich bei Yvon­ne ein und ge­mein­sam be­tra­ten sie den zum Fest­saal um­ge­mo­del­ten Trai­nings­raum.

Jan hör­te noch, wie sei­ne Mut­ter vor­schlug: »Das mit dem ›Sie‹ soll­ten wir jetzt aber las­sen, mei­ne Lie­be. Schließ­lich sind wir bald ver­wandt.«

Jan wand­te sich an sei­nen Va­ter. »Und? Wie­so seid ihr wirk­lich hier?«

»Was meinst du da­mit? Dei­ne Mut­ter war neu­gie­rig und woll­te wis­sen, wo du ar­bei­test. Ist das so un­ge­wöhn­lich?«

»Schon gut, ver­giss es«, lenk­te Jan ein. »Möch­test du einen Kaf­fee?«

»Sehr ger­ne.«

Sie gin­gen in die Kü­che. Jan hol­te einen Be­cher mit dem Fit­ness-Lo­go aus dem Schrank und füll­te ihn, ah­nend, dass sein Va­ter je­den Mo­ment die Kat­ze aus dem Sack las­sen wür­de.

»Was ver­dienst du jetzt ei­gent­lich?«, er­kun­dig­te Mar­tin Schro­eder sich in bei­läu­fi­gem Ton­fall. »Si­cher deut­lich we­ni­ger als da­mals bei der Com­puter­fir­ma, oder?«

Aha, es geht los, dach­te Jan. Ganz ru­hig blei­ben!

»Mehr ist es je­den­falls nicht ge­wor­den«, gab er zu und reich­te sei­nem Va­ter den Kaf­fee.

»Ab­ge­schlos­se­nes BWL-Stu­di­um, Su­per-Job in ei­ner rie­si­gen Fir­ma, und dann – Fit­ness-Trai­ner.«

Jans Va­ter spuck­te das Wort re­gel­recht aus und schüt­tel­te miss­bil­li­gend den Kopf. »Klingt nicht ge­ra­de doll.«

»Tut mir leid, dass ich dei­ne hoch­ge­steck­ten Er­war­tun­gen nicht er­füllt ha­be«, er­wi­der­te Jan bis­sig. »Aber dan­ke der Nach­fra­ge, ich bin sehr zu­frie­den mit mei­nem Le­ben. Die Ar­beit macht mir Spaß und Yvon­ne und ich ver­die­nen ge­nug, um dem Kind hin und wie­der Win­deln kau­fen zu kön­nen.«

Sein Va­ter ging nicht dar­auf ein. »Ich ha­be mich üb­ri­gens ein biss­chen in­for­miert«, sag­te er und sah an­ge­le­gent­lich in sei­nen Kaf­fee­be­cher.

»Wor­über?«

»Über die Ver­hand­lung im letz­ten Jahr.« Er hob den Kopf wie­der und sah sei­nen Sohn an. »Es war sehr auf­schluss­reich.«

Jan lehn­te sich ge­gen die Ar­beits­plat­te und ver­schränk­te die Ar­me. »In­wie­fern?«

»Zum einen wur­de er­wähnt, dass es sich nicht um ei­ne ›Be­läs­ti­gung‹ ge­han­delt hat, wie du sag­test …«

»Ich ha­be nur Rück­sicht auf Yvon­nes Ge­füh­le ge­nom­men«, un­ter­brach Jan sei­nen Va­ter.

»Ah, okay, das ver­ste­he ich na­tür­lich.«

»Wie schön. Was noch?«

»Na ja, es wur­de an­ge­deu­tet, dass Yvon­ne frü­her – sa­gen wir mal – einen et­was un­s­te­ten Le­bens­wan­del hat­te.«

Jan deu­te­te ein Lä­cheln an. »Wie blu­mig du das aus­drücken kannst«, sag­te er tro­cken. »Und?«

»Nichts und. Ich fra­ge mich nur – ich mei­ne, im­mer­hin ist dei­ne Freun­din schwan­ger und -«

»Sie ist mei­ne Ver­lob­te. Und ja, wir be­kom­men ein Kind. Wo ist das Pro­blem? Spuck schon aus, was dich stört.«

»Ich ma­che mir na­tür­lich Sor­gen um mei­nen En­kel«, stieß Mar­tin Schro­eder her­vor. »Der Va­ter ein Mör­der, die Mut­ter ei­ne ehe­ma­li­ge Nut­te -«

Jan at­me­te tief ein und aus und be­trach­te­te sei­nen Va­ter an­ge­wi­dert. Dann wies er mit aus­ge­streck­tem Arm zur Tür. »Ver­schwin­de bes­ser, und zwar so­fort. Du hast von nichts ei­ne Ah­nung, aber reißt das Maul auf.«

»Na hör mal! Im In­ter­net ha­be ich er­fah­ren, dass -«

»Scheiß aufs In­ter­net!«, brüll­te Jan. »Ich bin kein eis­kal­ter Kil­ler. Und Yvon­ne hat für ein un­ab­hän­gi­ges, bes­se­res Le­ben ge­kämpft. Sie wird ei­ne ver­dammt gu­te Mut­ter sein, weil sie das wirk­li­che Le­ben kennt und sich durch­ge­bis­sen hat. Sie ist kei­ne ober­fläch­li­che Bar­bie­pup­pe und ich bin kein her­ab­las­sen­der Mist­kerl wie du, der sich auf sein Au­to, sei­ne Fin­ca und sei­ne Ro­lex re­du­ziert!«

»Sag mal, wie re­dest du ei­gent­lich mit dei­nem Va­ter??«

»So, wie ich es schon längst hät­te tun sol­len!« Jan dreh­te sich um und stapf­te wü­tend aus der Kü­che. Jetzt brauch­te er wirk­lich drin­gend ein Bier.

»An­dy!«, brüll­te er ge­nervt. »Wo steckst du, zum Teu­fel?«

Das Geheimnis der Anhalterin

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