Читать книгу Über den Wolken ist der Himmel immer blau - Bruce Kirkby - Страница 10
EINE ARMEE TROJANISCHER PFERDE
ОглавлениеSeoul tauchte vor uns auf wie ein Szenenbild aus „Blade Runner“: Neonlichter, Sirenen, Sprühregen und fünfundzwanzig Millionen Menschen.
Wir fanden Unterschlupf im Herzen der Stadt, in einem Viertel voll von historischen koreanischen Ziegeldachhäusern, hanok genannt, durchkreuzt von Pflastersteinwegen. Die karg eingerichteten Räume trennten Wände aus Papier. Wir schliefen auf dünnen, mit Seidenkissen überhäuften Matratzen auf dem Holzboden. Die Kinder stapelten die Kissen zu einem Berg, in den sie, trotz der Bedenken ihrer Mutter, hineinsprangen. Die Zimmerdecken, ursprünglich für Bauern des 14. Jahrhunderts entworfen, waren so niedrig, dass ich mich sogar gebückt daran stieß. Daher zogen wir es vor, draußen im Innenhof zu essen, der von Bambus beschattet wurde. Wir schlürften Nudeln und verschlangen softballgroße gelbe Melonen.
Zwei hektische Tage lang fuhren wir mit der U-Bahn kreuz und quer durch die Stadt. Wir erklommen den Seoul Tower, besuchten mit den Jungs „Lotte World“ (einen anstrengenden Indoorfreizeitpark) und besichtigten die entmilitarisierte Zone an der Grenze zu Nordkorea.
Am Morgen des dritten Tages brachte uns ein Taxi zu einem höhlenartigen Fährterminal in der benachbarten Hafenstadt Incheon. Die Stunden bis zur Abfahrt vertrieben wir uns mit Kartenspielen und Büchern. Nach und nach trudelten Trauben chinesischer Touristen ein, die mit der Beute ihrer Shoppingtour zurück nach Hause fahren wollten. Ganz begeistert von unseren blonden Kindern mit ihrer Porzellanhaut belagerten sie uns und knipsten Selfies. Bodi winkte genervt ab, aber Taj tat ihnen den Gefallen und posierte fröhlich mit einer Horde Fremder, die alle kerzengerade vor der Kamera standen.
Ich las gerade einen Reiseführer über China, als ich ihn schreien hörte. Ich sprang auf und sah, wie er sich in den Armen einer kleinen Frau mittleren Alters wand und von ihr davongetragen wurde. Christine und ich wollten eingreifen, aber da hatte sich Taj schon selbst befreit. Die Frau, die eine Designersonnenbrille und dickes Make-up trug, entschuldigte sich wortreich. Es war ihr offensichtlich sehr unangenehm. Sie erklärte, sie habe Taj lediglich mit ihrer Familie fotografieren wollen. Nichtsdestotrotz machte das die kulturellen Unterschiede auf schockierende Art deutlich. Dass ein Kanadier ein fremdes Kind hochnimmt und davonträgt, ohne zuvor die Erlaubnis der Eltern eingeholt zu haben oder danach im Gefängnis zu landen, kann man sich kaum vorstellen. Noch erstaunlicher war, dass die Frau Taj noch immer fotografieren wollte. Sie versuchte schon wieder, ihn in Richtung ihrer wartenden Familie zu ziehen. Christine verlor nun die Geduld und schickte die Frau einfach fort.
Anders als bei unserer Ankunft in Asien, als Taj die Aufmerksamkeit noch genossen hatte, die sein strohblondes Haar auf sich zog, hatte er inzwischen genug von all den unbekannten Leuten, die auch jetzt weiterhin Fotos machen wollten. Er wies sie alle zurück. Christine fühlte sich schrecklich. „Er ist so sensibel. Ich hätte merken sollen, dass es ihm zu viel wurde.“
In diesem Augenblick wurden wir Zeuge einer außergewöhnlichen Metamorphose. Ganz freiwillig fing nämlich Bodi damit an, aufzuspringen und sich selbst als Fotomodell anzubieten, sobald sich Menschen näherten. Es war ihm zwar zuwider, aber er ertrug es, um seinen Bruder zu schützen.
Dann gab eine Trillerpfeife das Signal, und schon schoben sich die Touristentrauben in Richtung der Rolltreppen und bestiegen eine in die Jahre gekommene Fähre, die an das Schiff der TV-Serie „Love Boat“ erinnerte. Die Teppichläufer verströmten einen leichten Schimmelgeruch, und aus den Delfinstatuen sprudelte rostrotes Wasser. Wir legten die Seesäcke in unserer engen Schlafkabine ab und begutachteten gerade das Büfett mit Meeresalgen und Congee (Reisbrei), als die Leinen geworfen wurden und das Schiff auf seine Reise über das Gelbe Meer aufbrach.
Ausgedehnte Reisen auf dem Landweg oder mit dem Schiff, wie sie früher bei Backpackern üblich waren, sind heute nicht mehr in Mode. Ich vermute, ein Grund dafür ist die Zeit, davon hat niemand je genug. Urlaube von mehr als einer Woche werden heute meist als Luxus betrachtet. Und die Vorstellung, sich unbezahlt freizunehmen oder, Gott bewahre, den Job ganz aufzugeben, nur um dann mit bescheidenem Budget die Kontinente zu bereisen, finden viele noch beunruhigender. Wovon soll man leben? Wie den Kredit abbezahlen? Und was ist mit der Lücke im Lebenslauf?
Einige Monate zuvor, als wir begonnen hatten, unsere Reise zum Kloster zu planen, fühlte es sich falsch an, auf der Suche nach Ruhe um den Globus zu jetten. Also schlug ich Christine vor, in den Himalaja nicht etwa zu fliegen, sondern uns ausschließlich am Boden fortzubewegen und eine lange, langsame Reise anzutreten, so wie sie früher unternommen worden waren, mit den Kindern im Schlepptau.
Anfangs teilte sie meinen Enthusiasmus nicht.
Es waren nicht die Risiken einer solchen Reise, die sie beunruhigten, sondern vielmehr der ganze Aufwand, der dahintersteckte. Wie sollten wir unsere beiden Jungen sicher um die halbe Erde führen, wenn schon eine vierstündige Fahrt zur Oma häufig in einen Marathon aus Gezänk und Tränen ausartete? Doch während wir über den Landkarten brüteten und uns mögliche Routen durch die verschiedensten Landschaften und Kulturen überlegten, reizte uns die Idee immer mehr.
Unsere Familien und Freunde hielten uns jedoch für verrückt. Was? Warum denn? Im Ernst? Was ist mit der Schule? Als wir Bodis Lehrer zum Thema Homeschooling befragten, lächelten sie nur und versicherten uns, dass er unterwegs mehr lernen würde als in jedem Klassenzimmer.
Die erste große Hürde bestand darin, eine Überfahrt über den Pazifik zu finden. In einer Welt, in der die Orte mit Flugzeugen verbunden sind, werden die Meere nicht mehr von Dampfern durchpflügt. Nur eine Handvoll Kreuzfahrtschiffe fährt jeden Herbst nach Asien, aber für uns passte das zeitlich nicht. Ein kleines Segelboot zu kaufen und den Pazifik eigenständig zu überqueren, trauten Christine und ich uns nicht zu, vor allem nicht mit kleinen Kindern. Die einzige Lösung war es also, an Bord der wuchtigen Frachtschiffe unterzukommen, die den Erdball umrunden.
„Sie werden kein Schiff finden, das einen Dreijährigen an Bord nimmt“, behauptete der erste Frachtagent, den wir anriefen und der zu einer relativ unbekannten Organisation gehörte, die sich auf Privatüberfahrten auf Containerschiffen spezialisiert hatte. „Seeversicherungen decken Passagiere zwischen sechs und neunundsiebzig Jahren ab. Aber niemand wird Millionen von Dollars an Fracht riskieren, um Sie und Ihre Babys über den Ozean zu bringen.“
Nach wochenlangem Stöbern machten wir schließlich einen deutschen Frachtführer ausfindig, dessen Versicherung auch dreijährige Kinder abdeckte, und buchten sofort vier Kojen an Bord der „Hanjin Ottawa“.
Die Großmütter der Jungen (beide Großväter waren vor ihren Frauen verstorben) stellten unsere Reisepläne nicht in Frage – entweder weil sie unserem Urteil vertrauten oder weil sie inzwischen gelernt hatten, dass wir uns sowieso nicht davon abbringen ließen. Als sich die Nachricht unserer baldigen Abreise jedoch weiterverbreitete, kam es dafür von vielen anderen Seiten zu teilweise sehr heftigen Reaktionen. Meist waren es flüchtige Bekannte, die verschiedene Arten aufzählten, auf die unsere Kinder zu Tode kommen könnten: durch übertragbare Krankheiten, Verkehrsunfälle, Luftverschmutzung, Vergiftungen, Durchfall, Schlangenbisse und Huftritte von Yaks. Niemand erwähnte das große Höhenrisiko – von all den Gefahren, die mir durch den Kopf wirbelten, war diese die einzige, die mich nachts wachhielt.
Der Zug durch Tibet würde schwindelerregende 5074 Meter erklimmen, und auf der Trekkingtour nach Zanskar würden wir in noch höhere Lagen kommen. Als ich mich mit einem alteingesessenen amerikanischen Ausstatter im Himalaja in Verbindung setzte und um Unterstützung bei Genehmigungen und der Logistik bat, weigerte man sich, mir zu helfen.
„Tibet ist kein Ort für Kinder“, schimpfte der Geschäftsführer. „Wir nehmen niemanden unter zwölf Jahren auf unsere Touren mit.“
„Warum nicht?“
„Weil sie sich nicht akklimatisieren können. Ihre Lungen sind nicht voll ausgebildet. Haben Sie schon einmal von Peter Hackett gehört?“
Lustigerweise kannte ich Hackett sogar. Ich hatte den auf Höhenkrankheiten spezialisierten Arzt aus Telluride in den Neunzigerjahren in einem Basislager am Everest kennengelernt. Und auf meinen Schreibtisch lagen zwei medizinische Abhandlungen über die gesundheitlichen Auswirkungen von Höhenlagen auf Kinder, die er mitverfasst hatte. In keinem der beiden stand etwas über nicht ausgebildete Lungen oder die Unfähigkeit von Kindern, sich zu akklimatisieren.
Die Empfehlung, die diese ausführlichen Berichte aussprechen, kann man folgendermaßen zusammenfassen: Gehen Sie ruhig, aber machen Sie sich immer bewusst, was Sie tun, treffen Sie eher konservative Entscheidungen und haben Sie immer eine Exit-Strategie parat.
Meiner Meinung nach sollte diese Devise bei jeder Art von Risiko gelten, Kinder hin oder her.
Als China am Horizont auftauchte, gesellte sich Bodi zu mir auf das Oberdeck. Ich zog seinen kleinen warmen Körper eng an mich. Dann lieh er sich meine Kamera und fotografierte mich vor dem Hintergrund der näherkommenden Hügelhänge, die mit Apartmenthäusern übersät waren.
Es war nicht zu verkennen, dass wir gerade ein Land erreichten, das vor Kraft nur so strotzte. Wir sahen es an den großen Plastikinseln, die vor der Küste trieben, an den gläsernen Türmen, die das früher verarmte Fischerdorf Qingdao überragten, an den roten Flaggen, die auf den Dächern flatterten, und an den weitläufigen Parks, in denen es vor Joggern und Spaziergängern nur so wimmelte.
Als wir durch die stickige Einreisehalle stolperten, die voller Soldaten und Überwachungskameras war, entdeckten wir eine verdrießlich dreinschauende, von Zollbeamten umringte TV-Crew. Ein verstohlener Blick von Wes verriet mir, dass sie in Schwierigkeiten waren. Wir taten also, als würden wir sie nicht kennen, liefen schnurstracks an ihnen vorbei und stellten uns in eine Warteschlange. Irgendwann sauste ein Stempel auf unsere Reisepässe nieder – wir waren drinnen. Draußen kämpften wir uns durch die Menschenmassen, sprangen in ein schäbiges Taxi und verschmolzen mit der Zehn-Millionen-Metropole.
„Sehn wir die TV-Crew überhaupt wieder?“, fragte Taj.
Ich wusste es nicht. Christine zuckte mit den Schultern. Sie würden sicherlich wieder auftauchen, irgendwann.
Unser Taxi raste durch die engen Straßen, vorbei an dampfenden Nudelständen, Mopedschwärmen und Märkten, auf denen seltsames Gemüse verkauft wurde. In der feuchten Luft hingen die beißenden Gerüche von Fisch, Blumen und verrottendem Kompost. Asien vermittelt mir jedes Mal das Gefühl, das alles möglich ist – es gleicht dem Verliebtsein. Christine und ich waren vor zehn Jahren schon einmal in China gewesen. Wir blickten uns wissend an: Es war gut, wieder hier zu sein.
Für neun US-Dollar pro Nacht quetschten wir uns in das Familienzimmer einer Jugendherberge, eines ehemaligen Observatoriums, das auf einem sattgrünen Hügel in der Nähe des Zentrums von Qindao stand. Auf der Straße wurde frischgepresster Zuckerrohrsaft verkauft. Nachdem wir mehrere Becher davon heruntergespült hatten, schlenderten wir durch die grüne Umgebung. Taj und Bodi schauten betagten Bienenhütern dabei zu, wie sie Larven aus den Stöcken zupften. Später gesellten sich die beiden zu einer Schar einheimischer Kinder, die aus Spülmittel Seifenblasen machten und den schimmernden Kugeln nachliefen, die der warme Wind davontrug.
Ein pinkes Stück Papier wartete an der Rezeption des Hostels auf uns. Darauf stand, dass die Fernsehcrew chinesische Visa bekommen habe und auf der anderen Seite der Stadt, im nagelneuen Radisson-Hotel, logiere. Wes wollte, dass wir am Nachmittag um siebzehn Uhr für eine Runde Interviews in der Lobby vorbeikämen.
Zum Radisson würden wir im Feierabendverkehr ungefähr zwei Stunden brauchen, schätzte der Manager. Also rief ich Wes an und schlug vor, die Interviews lieber am nächsten Morgen aufzunehmen. Aber er blieb stur.
„Machst du Witze?“, stöhnte Christine, als wir noch ein Taxi bestiegen. „Diese Typen haben ganz eindeutig keine Kinder.“
Es war schon lange dunkel, als wir endlich wieder zum Hostel zurückkehrten.
Am nächsten Morgen warteten wir vor dem Hauptbahnhof auf die Crew. Taj versteckte sich vor neugierigen Fremden und Bodi bot sich wieder als Fotografenfutter an. Die geplante Abfahrt rückte näher, und ich suchte in der Menge fieberhaft nach dem Fernsehteam – vergebens. Die Zeit lief ab. Da wir nicht wussten, was wir sonst hätten tun sollen, ließen wir unsere Tickets verfallen.
Waren wir vielleicht am falschen Bahnhof? Oder zur falschen Zeit? Ohne ein Handy hatten wir keine Möglichkeit, uns mit der Crew in Verbindung zu setzen. Also saßen wir in der gleißenden Sonne auf unseren Seesäcken und warteten.
Irgendwann fuhren mehrere Taxis vor, aus denen sie herausstolperten – übermüdet, mit roten Augen und einem schrecklichen Kater. Sie waren den Versuchungen des Nachtlebens in Qingdao in die Falle gegangen: Bier, Karaoke und wer weiß was noch alles. Die Nerven lagen blank. Ein Streit entbrannte. Ein paar waren noch immer betrunken. Eine Senior-Redakteurin, die nicht stehen konnte, wurde von Wes zum Flughafen geschickt, ihren Job war sie los. Sarkastisch schlug Christine vor, lieber die Crew für die Show zu filmen, aber für diesen Witz war es eventuell noch etwas zu früh. Ein Tablett mit Erdbeer-Milchshakes von McDonald’s half dabei, die Spannungen zu lösen.
Schnell waren neue Fahrscheine gekauft, und eine Stunde später brausten wir im Ruheabteil eines Hochgeschwindigkeitszuges in Richtung des achthundert Kilometer nördlich gelegenen Peking. Neben unseren Jungs saßen zwei erschöpfte Kameramänner, das lärmende iPad-Spiel „Pflanzen gegen Zombies“ ließ sie jedoch nicht schlafen.
Draußen wurden die Reisfelder von Überlandleitungen, Fabriken und den Kühltürmen von Kernkraftwerken abgelöst. Man konnte klar erkennen, dass China – ähnlich wie Südkorea, allerdings in einem ganz anderen Ausmaß – in atemberaubender Geschwindigkeit einer Neugestaltung unterzogen wurde.
Als wir in den Hauptbahnhof von Peking einfuhren, verabschiedeten wir uns für diesen Tag von der Crew. Christine hatte ein Zimmer in einem traditionellen hutong-Gasthaus reserviert, sie hingegen machten sich auf den Weg zu einem gläsernen Hotel in der Innenstadt. Zwar war es schade, dass die TV-Crew nicht authentischer nächtigte – eine Produktionsfirma aus Los Angeles organisierte ihre Unterkünfte –, für uns bedeutete das aber jeden Abend eine willkommene Ruhepause.
Wir stopften unsere Seesäcke in den Kofferraum eines gelben Taxis und sprangen hinein. Aber es dauerte eine Weile, bis sich das Auto auch nur einen Zentimeter nach vorne bewegen konnte, da die Straße komplett blockiert war. Nirgendwo ist Chinas schnelles Wachstum so sichtbar wie auf den Straßen von Peking, wo Dauerstaus und Smog dazu geführt haben, dass Lebensraum rationiert wurde und neue Autos nach dem Losverfahren zugelassen werden.
Während unser Taxi langsam vorankroch, streckte der Fahrer – ein drolliger alter Mann, der kein Wort Englisch sprach – seine Hand aus und berührte mit besorgter Miene meine Unterarme.
„Ich glaube, er kann nicht fassen, wie behaart du bist!“, kicherte Christine. Da auf seiner eigenen Haut kein einziges Haar zu sehen war, schien der Fahrer entgeistert, dass mich so ein schreckliches Schicksal ereilt hatte.
Während ich aus dem Fenster auf das Verkehrschaos und die durch Luftverschmutzung umnebelten Wolkenkratzer schaute, dachte ich das Gleiche über ihn. Die Mittagssonne war orange und warf keine Schatten. Sowohl Fußgänger als auch Fahrradfahrer trugen weiße, chirurgisch anmutende Gesichtsmasken – wie Statisten in einem Low-Budget-Horrorfilm. Wie konnten über zwanzig Millionen Menschen nur unter solch apokalyptischen Bedingungen leben?
Ich musste an ein Fernsehinterview denken, in dem eine Pekinger Studentin gefragt wurde, was ihr an Microsoft Windows am besten gefalle.
„Der Bildschirmschoner“, antwortete sie.
Warum?
Weil diese Zwanzigjährige noch nie zuvor einen blauen Himmel gesehen hatte.
Nach vier Tagen in Peking sausten wir gen Westen, in das Grasland der Provinz Qinghai. Dort akklimatisierten wir uns eine Woche lang, indem wir uns bewusst immer höheren Lagen aussetzten. Dann bestiegen wir den Qinghai-Express, auch Lhasa-Bahn genannt. Das Ziel war Tibet.
Nachdem wir uns in ein enges Abteil gezwängt hatten, entdeckten die Kinder eine Nasenbrille auf jedem Schlafplatz, die Passagiere, denen die Höhenlage Probleme machte, mit Sauerstoff versorgen konnte. Die beiden legten sich sie Plastikschläuche sofort an.
„Schaut mal! Ich trinke Sauerstoff durch die Nase“, sagte Bodi strahlend. Er sah wie ein Patient auf der Intensivstation aus. „Schmeckt gut.“
„Ich auch“, rief Taj. „Ich trinke auch Sauerstoff.“
„Das macht mich ganz nervös“, flüsterte Christine, als sie sich neben mich quetschte.
Ein paar Tage zuvor war Taj auf dem Rücksitz unseres Mietwagens ohnmächtig geworden, als wir einen Bergpass überquert hatten. Ob es an seiner Erkältung oder der Höhenluft gelegen hatte, war nicht klar. Nachdem wir wieder dickere Luft erreicht hatten, wurde er so ausgelassen wie zuvor. In den darauffolgenden Tagen überwachte ich mithilfe eines aus Kanada mitgenommenen Pulsoximeters – eines kleinen, in Krankenhäusern üblichen Geräts, das man an einer Fingerspitze befestigt – sorgfältig den Sauerstoffgehalt in seinem Blut. Seine Werte blieben, wie Bodis, weit über neunzig. Ein klares Zeichen dafür, dass sich die beiden gut anpassten. Der Zug würde uns zwar in noch höhere Lagen bringen, allerdings war ich mir sicher, dass Taj infolge der Druckanpassung in den Waggons und der individuell regulierbaren Sauerstoffzufuhr gut klarkommen würde.
„Rational betrachtet, weiß ich das“, stimmte Christine mir zu. „Aber wenn dieser Zug erst einmal den Bahnhof verlassen hat, gibt es kein Zurück mehr.“
Genau in diesem Moment machte der Waggon einen Ruck nach vorn.
Die neue Qinghai-Tibet-Bahnlinie, deren Realisierung schwindelerregende 4,2 Milliarden Dollar gekostet hatte, wurde 2006 eingeweiht. Sie ist ein Wunder moderner Ingenieurskunst: Hochgelegte Gleise führen über Permafrostgebiete, lange Tunnel bohren sich durch hohe Gebirgsketten.
Gleichzeitig ist sie ein weiterer Nagel im Sarg des freien Tibet, da die Bahnstrecke China ermöglicht, diese großflächige Provinz besser zu kontrollieren und ihre Ressourcen schneller auszubeuten. Das hinterhältigste Ziel Chinas scheint es jedoch zu sein, Tibets alte buddhistische Kultur unter den unaufhörlichen Einwanderungswellen von Han-Chinesen zu begraben.
Wie China das tibetische Volk behandelt, hat mich schon immer empört. Aber jetzt, während wir durch die UV-Schutzfenster spähten und das triste Hochland Tibets an uns vorbeiziehen sahen, wurden mir die ungemütlichen Parallelen zur Geschichte Nordamerikas bewusst, in der die eingeborenen Völker von einer Flut aus Einwanderern überrannt worden waren, die danach gierten, die Bodenschätze der Neuen Welt zu erschließen. Warum macht mich die Situation in Tibet wütend, obwohl ich die Probleme in Kanada ignorieren kann? Vielleicht, weil es meine Kultur ist, die ihr eigenes Zuhause überschwemmt hat? Macht uns die Fahrt in diesem Zug zu Komplizen der Gräueltaten in Tibet? Darauf gab es keine einfachen Antworten.
Die Stunden vergingen. Hin und wieder sahen wir ein zotteliges Yak das karge Land durchstreifen oder kleine Herden schlanker Gazellen. Meist fielen uns jedoch uniformierte Soldaten auf, die kerzengerade vor schmuddeligen Zelten standen und der vorbeifahrenden Lokomotive salutierten.
Am Abend, als der Zug über den 5231 Meter hohen Tanggula-Pass rumpelte, machte es Bodi und Taj so großen Spaß, durch die Waggons zu rennen, dass ihnen die chinesischen Touristen gar nicht auffielen, die taumelnd die Gänge verstopften. Einige, die man von Peking, das auf Meerespiegelhöhe liegt, direkt hierher verfrachtet hatte, mussten sich erbrechen und kollabierten.
Wir erreichten die verbotene Stadt, Lhasa, zur Mittagszeit. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten wir einen Weg hinter uns gelegt, an dem sich die wagemutigsten Entdecker jahrhundertelang die Zähne ausgebissen hatten.
Bataillone chinesischer Soldaten marschierten aufgereiht durch den neuen höhlenartigen Bahnhof. Draußen wartete hinter den Barrikaden der uns von der Regierung zugewiesene Guide, eine kleine Tibeterin. Behutsam legte sie uns die Khata um den Hals und hieß uns mit der tibetischen Grußformel „Tashi delek“ willkommen. Dies ist eine Segen bringende Grußformel, mit der man auch Gesundheit und Glück wünscht. Sie wird oft folgendermaßen übersetzt: „Mögen alle verheißungsvollen Zeichen in diese Umgebung kommen“.
Die Mittagssonne blendete uns. Wohin man auch schaute, überall ragten glänzende Bürohochhäuser empor. Die frisch betonierten Straßen führten durch einen Dschungel aus Werbetafeln, Fast-Food-Läden und Einkaufszentren. Seit meinem letzten Besuch vor zehn Jahren war die Stadt um ein Zwanzigfaches angeschwollen. In diesem elenden Gewühl gab es laut unserem Guide 224 Karaokebars, 685 Bordelle und 300 000 chinesische Soldaten.
Doch über all dem thronte noch immer der Potala-Palast – und mein Herz machte einen Sprung. Die prachtvolle Festung der Dalai Lamas umfasst um die tausend Zimmer, die etwa zehntausend Altare und zweihunderttausend Statuen beherbergen. Voller Eifer erzählte ich Christine und den Kindern von dem, was mich damals dort mit solchem Staunen erfüllt hatte. Die Schlangen von in Schafsfell gekleideten Nomaden, die Töpfe mit Yakbutter trugen, die sie dann löffelweise auf flackernde Kerzen verteilten. Die Pilger, die auf Händen und Knien zwischen religiösen Schriften wandelten, weil sie glaubten, dass das darin enthaltene Wissen auf sie niedergehen und sie mit Verdienst benetzen würde. Die verarmten Hirten, die so viele Geldscheine auf goldene Buddhastatuen warfen, dass das Geld wie Schnee herabfiel, nur um dann von chinesischen Reinigungskräften aufgefegt, in prallvolle Müllsäcke gestopft und weggetragen zu werden.
Während die Fernsehcrew in ein Marmorhotel am Rande der Stadt eincheckte, machten wir uns auf den Weg in die Altstadt, zu einem Gasthaus im Kolonialstil, ausgestattet mit Teakholz und Mahagoni. In dem von Chrysanthemen und Stockrosen beschatteten Innenhof nippten Christine und ich an einer Tasse Tee. Die Jungs lagen bäuchlings auf dem Boden und beobachteten träge Koischwärme in den flachen Teichen. Ein Flyer auf dem Tisch warb für tibetische Blindenmassagen, und Christine machte schnell einen Termin. Staub, Ruß und die intensive UV-Strahlung auf der tibetischen Hochebene machen den Grauen Star zu einer weitverbreiteten Augenkrankheit, und diese Massageprogramme unterstützen die Betroffenen in der Region.
Innerhalb von zwanzig Minuten stand ein Blinder an unserer Tür.
Um Christine etwas Ruhe zu verschaffen, liefen die Kinder und ich mit den Pilgern mit, die durch die Pflastersteingassen strömten. Zahnlose Männer mit Cowboyhüten schlurften o-beinig an uns vorbei. Ältere Damen mit geflochtenen Zöpfen und farbenfrohen Schürzen verbeugten sich wortlos vor meinen Söhnen. Nomaden mit elektrisierenden Augen und wirrem Haar hatten mit ihren Familien den weiten Weg von der fünfhundert Kilometer entfernten Changtang-Hochebene auf sich genommen.
Manche Pilger warfen sich nach jedem dritten Schritt auf den Boden, standen dann wieder auf und nahmen drei weitere Schritte, bevor sie das Ritual wiederholten. An Händen und Knien lediglich durch einfache Holzplatten geschützt, setzten diese frommen Seelen ihren Körper ein, um eine gerade Linie auf der Erdoberfläche zu ziehen, die ihre Heimat mit den heiligen Stätten Lhasas verband. Einer der Männer hatte auf seiner Stirn eine fersengroße Schwiele, mit der er immer wieder den Boden berührte.
Eine Handgebetsmühle. Auf der Messingtrommel ist das Mantra Om mani padme hum eingraviert. Buddhisten glauben, dass das Drehen der Mühle die gleiche spirituelle Wirkung habe wie das Singen des Mantras.
Bodi und Taj hatten großen Spaß daran, an den Messinggebetsmühlen zu drehen, die in langen Reihen die Wände der Tempel und Schreine zierten. Nach kurzer Zeit hatte sich eine Gruppe älterer Menschen um sie versammelt. Sie strichen den Jungen über die Wangen, mich bedachten sie mit dem weltweit gebräuchlichen „Daumen hoch“. Ein paar holten ihre Handys aus den Gewändern und fotografierten die beiden, die inzwischen ausgelassen unter ihnen tanzten.
Unterdessen zeichneten sich an dem dunkler werdenden Himmel Soldaten ab, die über uns auf den Dächern standen, Schlagstöcke und Gewehre fest im Griff. Wie ein erhobener Mittelfinger flatterte eine chinesische Flagge auf dem Jokhang, Lhasas heiligstem Tempel.
Wie konnten wir unseren Söhnen die Spannungen beschreiben, die hier in der Luft lagen?
Bei einer solch komplexen Geschichte war es vielleicht das Beste, im 8. Jahrhundert zu beginnen, mehr als tausend Jahre nachdem Buddha im indischen Flachland gelebt hatte, als seine Lehren gerade begannen, sich gen Norden über den Himalaja zu verbreiten. Von Bettlern und Gelehrten weitergegeben, verteilte sich die Botschaft auf der Hochebene und nahm auf ihrem Weg lokale Bräuche und Glaubenssätze in sich auf.
Daraus entwickelte sich irgendwann die farbenfrohe Tradition des tibetischen Buddhismus – bekannt als Vajrayana, oder „Pfad des Donnerkeils“ –, der eine gewisse Ähnlichkeit mit den etablierteren und nüchterneren Schulen Südostasiens aufweist. Indem sie eine fantastische Welt beschrieb, in der Tigerinnen zwischen Wolken schwebten, Gurus Fußabdrücke aus Stein hinterließen und Pferde auf dem Wind ritten, zeichnete sich diese neue Lehre vielleicht vor allem durch ihre radikalen Meditationstechniken aus, die eine schnelle Erleuchtung in Aussicht stellten, möglicherweise sogar innerhalb eines einzigen Lebens.
Große Klöster entstanden, ein Viertel der männlichen Bevölkerung Tibets wurde zu Mönchen, und irgendwann machte das zurückgezogene Land seine Grenzen dicht. Nach und nach entstand eine Gesellschaft, die es so auf der Welt noch nicht gegeben hatte: ein Land, in dem die Tugenden der Nichtanhaftung, des Nichtverlangens, des materiellen Verzichts, des Mitgefühls und der transzendentalen Weisheit institutionalisiert wurden. Das geheimnisumwitterte Tibet wurde zu einem Synonym für das verlorene Paradies. Es wurde das Shangri-La – ein abgelegenes Land der Einfachheit und des Friedens.
All das änderte sich im Jahr 1949. Nach der Gründung der Volksrepublik China vergeudete Mao Zedong nur wenig Zeit und erhob territoriale Ansprüche auf Tibet, das sich an Chinas Westgrenze schmiegte. Vierzigtausend Soldaten wurden in das abgeschiedene Reich entsandt, das zu diesem Zeitpunkt über keinen einzigen Flugplatz und über lediglich fünfzig Geschütze verfügte. Als Tibets geistiger und politischer Führer, der fünfzehn Jahre alte Dalai Lama, die Vereinten Nationen um Hilfe anrief, ignorierte man ihn. Dem kleinen Land blieb nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu fügen. Einige Jahre lang herrschte angespannte Waffenruhe.
Ein Jahrzehnt später, als sich das Gerücht einer geplanten Entführung des Dalai Lama durch die Chinesen verbreitete, gingen die aufgebrachten Tibeter auf die Straße. Chinas Antwort auf die Proteste kam schnell und heftig. Inmitten der darauffolgenden Unruhen schlich sich der junge Dalai Lama, verkleidet als Soldat, heimlich davon. Zu Fuß überquerte er den Himalaja und fand in Indien Zuflucht – dies war der Beginn einer Diaspora, die bis heute andauert.
Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Als die chinesische Kulturrevolution über die Hochebene hereinbrach, in den Jahren 1966 bis 1976, wurden Tibets große Klöster systematisch durch Artilleriefeuer zerstört. Lediglich dreizehn der ursprünglich sechstausend Klöster kamen ungeschoren davon. Religiöse Heiligtümer wurden gestohlen. Schriften wurden verbrannt oder von Soldaten als Toilettenpapier benutzt. Nonnen wurden öffentlich dazu gezwungen, mit Mönchen Geschlechtsverkehr zu haben. Andere mussten Sterilisation, Elektroschocks und Vergewaltigung erdulden. Eltern wurden zum Applaudieren gezwungen, als man ihre Kinder exekutierte. Felder lagen brach, Hunger war die Folge. Im Laufe einer Generation verlor jeder fünfte Tibeter sein Leben – mehr als eine Million insgesamt.
Bis heute dauert dieser kulturelle Genozid an, allerdings wurden die Gewehre durch staatlich geförderte Einwanderungsprogramme ersetzt, die nun die Städte und Dörfer Tibets mit Han-Arbeitern überfluten. Es gibt Hinweise auf Soldaten, die als Mönche verkleidet Klöster infiltrieren, um den Widerstand auszumerzen. In den Schulen hängt in jeder Klasse ein Porträt Maos, sein eiserner Blick überwacht die tibetische Jugend.
Während ich meine eigenen Kinder zwischen den freudig strahlenden Pilgern tanzen sah – mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen – fragte ich mich: Sollen die beiden von dieser traurigen Geschichte erfahren? Wird es später eine Wirkung auf ihr eigenes Verhalten zu Hause haben? Oder ist es besser – jetzt, wo sie noch an Magie glauben –, dass sie sich einfach von ihren eigenen Augen und Herzen leiten lassen?
In den kommenden Tagen würden Christine und ich ihnen zwar auch von Tibets dunkler Geschichte erzählen, aber wir konzentrierten uns vor allem auf die Wunder dieses noch immer verzauberten Reiches.
Am Nachmittag des nächsten Tages besuchten wir das Kloster Drepung am Stadtrand von Lhasa. Einst eines der größten Lehrinstitute Tibets und das Zuhause von zehntausend Mönchen, beherbergte der wuchtige Komplex nun nur noch fünfhundert Geistliche (mehr darf es dort gemäß chinesischem Dekret nicht geben). Man fühlte sich wie in einer verlassenen Filmkulisse.
Wir spazierten gerade auf den Hängen oberhalb der Tempel, als Bodi eine Höhle entdeckte. Im Inneren befand sich ein Altar, der von Schals, Wasserschalen und flackernden Kerzen übersät war. Auf dem Lehmboden lag ein schmuddeliges Kissen.
„Wofür ist das?“, fragte Bodi.
„Diese Höhle … sehr besonderer Ort“, erklärte unser Guide. „Seit dem Altertum hochrangige Mönche hierher kommen zum Meditieren.“ Der Gründer des Klosters habe hier sieben Jahre lang gesessen, ohne ein Wort zu sagen, erzählte sie uns. Ob Bodi es ausprobieren wolle?
Zu meiner Überraschung nickte unser zappeliger Sohn und ließ sich auf dem Kissen nieder. Unser Guide hockte sich neben ihn und zeigte Bodi, wie man seine Hände zum Gebet faltete – indem man nämlich zwischen den Fingern immer etwas Platz für Buddha ließ. Ich schaute mich nach Christine um, aber sie war mit Taj auf der Suche nach einem stillen Örtchen davongehastet.
„Ruh dich jetzt einfach aus“, sagte unser Guide, „und dein Geist wird sehr sauber werden. Sehr rein.“
Bodi schloss die Augen, seine Atmung wurde sanft und gleichmäßig. Regungslos verharrte er so, es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Zuerst dachte ich, er nehme uns auf den Arm oder ziehe eine Show für die Kameras ab, aber als die Minuten vergingen und Bodi sich nicht rührte, bekam ich das Gefühl, dass etwas Unerwartetes – oder sogar etwas Großes – geschah.
Vielleicht hätte es mich nicht überraschen sollen. Denn Bodi hatte schon sehr früh mit verblüffender Leichtigkeit Zugang zu spirituellen Dingen, vor allem dem Buddhismus, gefunden. Als ich einmal eine Buddhastatue aus Zinn aus Kambodscha mitbrachte, wo man mich als Fotojournalist hingeschickt hatte, stellte er sie neben sein Bett und begrub sie unter Opfergaben: Glasperlen, Federn, Kieselsteinen und Halsketten. Auf unseren Kanutrips bugsierte er die Stechmücken behutsam aus unserem Zelt und schluchzte, wenn er Christine oder mich dabei erwischte, wie wir heimlich einen Eindringling zerquetschten. Seine Weigerung, dem kleinsten Lebewesen Schaden zuzufügen, erinnerte mich an einen alten Dokumentarfilm, in dem tibetische Mönche vor dem Potala-Palast auf Händen und Knien mühsam Würmer aus Bewässerungsgräben einsammelten, die lokale Bauern gerade gruben.
Auch Bodis Name spielte auf eine mythische Figur im Buddhismus an, den Bodhisattva, der, nachdem er die Erleuchtung gefunden hatte, dem Nirvana entsagte und stattdessen auf die Erde zurückkehrte, um anderen auf ihrem Weg zur Erleuchtung zu helfen. (Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich den Namen ursprünglich als Referenz an Patrick Swayzes Rolle als freiheitsliebender Surfer in „Gefährliche Brandung“, einem Bankräuberfilm aus Hollywood, vorgeschlagen hatte. Gleichzeitig fühlte sich Christine zur Bodhisattva-Tradition hingezogen, der Name gefiel also uns beiden.)
Eine halbe Stunde später blinzelte Bodi. Langsam öffnete er seine Augen, blieb aber noch eine Weile still sitzen.
„Ich habe vergessen, wo ich war“, flüsterte er schließlich. „Es fühlte sich an, als sei ich nirgendwo gewesen.“
Dann sprang er auf und rannte zu Taj, der gerade von seinem Ausflug ins Gebüsch zurückkam, und ich versuchte, Christine zu erklären, was ich gesehen hatte.
In einen Toyota Hilux gequetscht, brachen wir am nächsten Morgen ins circa achthundert Kilometer und fünf Tage entfernte Nepal auf. Wir folgten der einsamen Asphaltschleife des „Friendship Highways“, die sich über den südlichen Rand des tibetischen Hochlands schlängelte.
Nachdem wir den staubigen Außenposten Tingri erreicht hatten, kamen wir nach einem Umweg durch ein enges Tal unterhalb der Nordflanke des Mount Everest heraus, dessen wie Kristall glänzende Spitze den makellos blauen Himmel durchstieß.
Ich hatte den Berg schon einige Male von Süden aus besucht, aber der Anblick dieses Wahrzeichens überwältigte mich trotzdem – das war ein Ort, an dem so manches Kapitel der Bergsteigergeschichte geschrieben worden war. Bevor ich Vater wurde, war ich nicht besonders nah am Wasser gebaut. Doch nun stiegen mir beim geringsten Anlass die Tränen in die Augen: eine freundliche Geste, ein trauriges Lied im Radio oder sogar eine kitschige Fernsehwerbung. Auch jetzt konnte ich die Tränen nicht zurückhalten.
„Wie findest du das, Bodi?“, fragte ich mit zitternder Stimme.
„Ist okay.“
Okay – das war seine Standardantwort auf alles, was ich ihn fragte, und so war es zwischen uns schon zu einem Witz geworden.
„Okay? Ernsthaft? Das ist der Mount Everest! Wie müsste ein Tag für dich aussehen, damit er gut ist?“
„Ich müsste im Lotto gewinnen. Oder zum Präsidenten gewählt werden. Oder vielleicht heiraten. Wenn ich vorher lange Zeit auf der Suche war.“
„Und was wäre ein toller Tag?“
„Dad! Das weißt du doch“, rief er frustriert. „Wenn ich zum Mars fliegen würde, das wär ein toller Tag.“
„Naja, das dauert lange“, warf Taj ein. „Das wär nicht nur ein toller Tag, sondern auch eine tolle Nacht.“
Bodi verdrehte die Augen.
Am nächsten Morgen fiel der „Friendship Highway“ steil am Rande des tibetischen Hochlands ab und landete in der Sunkoshi-Schlucht. Vor uns lag die Wildnis Nepals und, dahinter, das verbrannte Flachland Indiens. Nach wenigen Kilometern wich die karge Ebene dichten Wäldern. Von oben stürzten Wasserfälle herab und hämmerten auf das Dach des Toyota ein, als wir unter ihnen vorbeifuhren.
Da wir in Grenznähe in einen Stau gerieten, verabschiedeten wir uns von unserem Fahrer und gaben ihm ein großzügiges Trinkgeld. Dann sprangen wir aus dem Auto und rannten los – auf unseren Rücken hüpften die Seesäcke und an unseren Händen stolperten die Kinder. Die Fernsehcrew konnte nur schwer Schritt halten, da sie einen Berg an eigener Ausrüstung mitschleppen musste. Wir erreichten die Grenzbrücke genau in dem Moment, als die Stahlschranken für die Nacht herabgesenkt wurden. Also schlüpften wir unter ihnen hindurch und betraten Nepal – schweißgebadet.
Ein gut gelaunter Zollbeamter stempelte die Visa in unsere Pässe und behängte uns dann mit Ringelblumenkränzen. Nur wenige Augenblicke später schoss eine Ziege unter einem Reisebus hervor, verbiss sich in den Blumenkranz um Tajs Hals und zog unseren armen Jungen fast davon.
Drei Tage verbrachten wir in dem dampfigen Kathmandu – wir schlenderten über Märkte, aßen Kuchen von deutschen Bäckereien, besuchten die Kultstätte des Bodnath-Stupa (ein massiver buddhistischer Schrein, verziert mit allsehenden Augen) und später ein örtliches Waisenhaus, wo unsere Söhne an einem Barfuß-Fußballspiel teilnahmen und sich beide hartnäckige Warzen einfingen.
Dann ging es weiter, Richtung Indien.
Zweiundfünfzig Tage nach unserer Abreise aus Kanada und 16 000 Kilometer später überquerten wir unsere letzte Grenze – wir betraten Indien in der Nähe von Lumbini, dem Geburtsort Buddhas.
Trotz fieberhafter Bemühungen waren der Fernsehcrew keine Arbeitsvisa ausgestellt worden. Somit sahen sie sich gezwungen, zurück nach Kathmandu zu reisen. Nur Wes und ein Kameramann schafften es, sich über die Grenze zu schleichen. Eine Ersatzcrew aus indischen Kameraleuten wurde organisiert, und die gut gelaunten Männer warteten weitab von der Grenze unter einem Mangobaum auf uns.
Wir mieteten zwei Autos – Wes und sein Kameramann quetschten sich bei uns mit hinein, die indische Filmcrew stieg in einen separaten Wagen – und folgten den Schotterpisten durch friedliche Dörfer, vorbei an Lehmziegelhäusern und Schatten spendenden Banyanbäumen. In der staubigen Luft lag ein Geruch von Kohle, Petroleum und Dung.
In Prayagraj bestiegen wir ein gebrechlich aussehendes Holzboot und fuhren den Ganges in Richtung der historischen Stadt Varanasi hinunter. Das war eine Reise von hundertfünfzig Kilometern, die zwei Tage dauerte. Während sich die Jungs auf dem mit Kissen ausgestatteten Deck oberhalb der Brücke eine Kissenschlacht lieferten, glitt das Boot an ausgemergeltem Vieh und weißen Reihern vorbei, an gleißenden Fischern, die auf ihren schmalen Booten durch das Wasser stakten, und an zarten Kochfeuern auf den Sandbanken. Eine ausgelassene Symphonie von Fröschen und Grillen verabschiedete die flammende Sonne.
Leider stanken unsere provisorischen Schlafkojen in dem engen Kielraum nach Diesel, und überall waren Stechmücken. Es war drückend heiß, das Thermometer neben dem Bett zeigte achtunddreißig Grad. Es wurde die ungemütlichste Nacht auf unserer Reise – vielleicht sogar die ungemütlichste Nacht meines ganzen Lebens.
Die Kinder schliefen wenig und wachten noch vor Sonnenaufgang schweißnass und mit roten Wangen auf. Auch Wes sah mitgenommen aus. Die indische Kameracrew allerdings, die an Deck geschlafen hatte, ganz ohne Laken, die sie vor Insekten hätten schützen können, schien die Nacht unbeschadet überstanden zu haben.
Als wir Varanasi erreichten, wurden die Temperaturen unerträglich. Wir warfen unsere Seesäcke in ein Tuk-Tuk, eine Autorikscha auf drei Rädern, verhandelten den Preis und düsten dann in Richtung eines klimatisierten Gästehauses los, das Christine im Voraus gebucht hatte.
Aber anstatt uns zum Gästehaus zu bringen, fuhr uns der Tuk-Tuk-Fahrer mitten in ein Labyrinth aus engen Gassen, hielt dann holpernd an und verlangte mehr Geld. Erschöpft, schweißgebadet und mit dem verzweifelten Wunsch, die Kinder in einen kühlen Raum zu bringen, verlor ich die Beherrschung – das passiert zwar früher oder später auf einer langen Reise, aber vor den Jungen war es nichts, worauf ich stolz sein konnte. Ich riss die Seesäcke aus dem Tuk-Tuk und kämpfte mich zu Fuß durch die überfüllten Straßen, ohne Rücksicht auf entgegenkommende Menschen.
Christine rannte hinter mir her, an ihren Händen die weinenden Kinder. „Kirkby! Ich weiß, das ist alles blöd, aber du musst dich zusammenreißen. Bitte, lass uns keine schlechten Vorbilder sein.“
Sie hatte recht, und ihre Geduld wirkte entwaffnend. Beide wollten wir unseren Söhnen vermitteln, dass das Reisen, wie auch das Leben, unendliche viele Herausforderungen parat hält – und dass die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, uns zu dem macht, wer wir sind.
Aber als sie später entdeckte, dass die Klimaanlage in unserem Gästehaus, das wir dann über einige Umwege schließlich doch erreicht hatten, defekt war, bekam selbst Christine fast einen Nervenzusammenbruch. In unserer Verzweiflung drängten wir uns alle vier gleichzeitig in die kleine Dusche, sodass unsere Schultern und Hinterteile gegen die schimmeligen Kacheln drückten. Eine Gruppe von Affen, die in einem Würgefeigenbaum hockten, schaute uns neugierig durch das Fenster zu. Später ließen wir uns von riesigen Mengen Mangoeis, serviert auf einer luftigen Dachterrasse, wieder aufmuntern. Dann gingen wir auf Entdeckungstour.
Varanasi gilt unter den Hindus als weltweit bester Ort für eine Feuerbestattung. Viele schluchzende Männer zogen Leichen auf selbstgemachten Tragen durch die schmalen Straßen. Ein Taxi, das eine Leiche auf seinem Dach transportierte, fuhr ganz nah an uns vorbei. Der Gestank von verkohltem Fleisch war überall zu riechen.
Bei einem Scheiterhaufen blieben wir stehen und schauten zu, wie eine in ein Leinentuch gehüllte Leiche vom Feuer verschlungen wurde. Irgendwann riss die Schädeldecke auf und dampfende, pinke Gehirnmasse tropfte auf den Boden. Ich schob die Kinder instinktiv zum Weitergehen an. Aber sie ließen sich nicht hetzen.
„Was ist denn?“, fragte Bodi. „Jeder stirbt. Danach kommt man in den Himmel. Dann kommt man wieder.“
Ich warf einen Blick auf Christine, sie grinste. Sie hatte die beiden wohl Ideen ausgesetzt, die von meinen abwichen.
„Ich werde als Honigdachs zurückkommen“, erklärte Taj.
„Ach Taj, da kannst du nicht sicher sein“, erwiderte Bodi genervt. „Das entscheidest du nicht.“
„Doch, das entscheide ich“, insistierte Taj.
Bei sengender Hitze, beißendem Rauch und unter den gelegentlichen Schubsern von mit Lendentüchern bekleideten Männern, die Holzscheite von einem Kahn luden, stritten sich die beiden Jungen über Reinkarnation, bis sie ganz rot wurden und Tränen flossen.
Irgendwann gab Bodi nach, aber nur etwas.
„Also, wenn ich es entscheiden kann, was ich nicht glaube, dann möchte ich als Mensch zurückkommen. Oder als Kolibri.“
Zweieinhalbtausend Jahre zuvor – nur neun Kilometer von dem Flussufer entfernt, an dem wir gerade standen – hatte ein ausgemergelter Mann fünf Schüler um sich versammelt und eine Predigt gehalten, die die Welt verändert hatte.
Siddhartha Gautama wurde ungefähr im 5. Jahrhundert vor Christus als Sohn eines Fürsten geboren, in einer Zeit, in der das Eisen Vorderindien eroberte und noch Elefanten für den Transport eingesetzt wurden. Nachdem er eine ausschweifende Jugend am Hof seines Vaters verbracht hatte, sagte sich Siddharta im Alter von neunundzwanzig Jahren von seinem privilegierten Leben los und beschloss, das indische Flachland als Bettelmönch zu bewandern und Mystiker und Yogis um spirituelle Führung zu bitten.
Doch sechs Jahre der strengen Askese führten ihn nicht zu der erhofften Erkenntnis, und schließlich verließ Siddhartha, dem körperlichen Zusammenbruch nahe, seinen Pfad der Enthaltsamkeit. Diese Kämpfe und Herausforderungen wurden zur Grundlage eines späteren buddhistischen Schlüsselprinzips, nämlich des Mittleren Pfades. Er lehrt, dass weder extreme Selbstkasteiung noch Maßlosigkeit zur Erkenntnis führen. Nachdem er ein Bad im Fluss genommen hatte, trank er eine Schale Milch, die ihm ein Dorfbewohner angeboten hatte, und setzte sich dann unter eine Pappelfeige. Der Mond ging im Osten auf und Siddharta schwor, sich so lange nicht zu bewegen – selbst wenn es seinen Tod bedeutete –, bis er die höchste Erleuchtung erlangt haben würde.
Wie lange er in diesem meditativen Zustand verharrte, ist zu einem Stoff zahlreicher Legenden geworden. Manche Berichte sprechen von Stunden. Andere behaupten, es seien neunundvierzig Tage gewesen. Aber nach einer langen und beschwerlichen Suche erhaschte er einen Blick auf das, was er als „die wahre Natur der Realität“ beschrieb.
Sofort suchte er seine früheren asketischen Begleiter in der Nähe von Varanasi auf und erzählte ihnen von seiner Vision: Wenn wir die Gewohnheiten unseres Geistes ändern können, können wir auch die Art und Weise verändern, wie Leben erfahren wird. Er formulierte eine Lehre des Mitgefühls, der Nichtanhaftung und der Vergänglichkeit, die das Leid der Menschen in diesem Leben beenden sollte.
Genauer gesagt predigte Buddha die vier edlen Wahrheiten: Leben ist Leiden; Leiden entsteht durch Verlangen; Leiden vergeht, wenn es kein Verlangen mehr gibt; und das Leiden vergeht, wenn man den achtfachen Pfad einschlägt (rechte Einsicht, rechte Absicht, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebensunterhalt, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit, rechte Konzentration).
Siddharta vertraute nicht auf einen unsichtbaren Gott, sondern schlug vor, dass alles, was zähle, das Hier und Jetzt sei. Schließlich bat er seine Schüler inständig darum, seine Lehren nicht blindlings anzunehmen, sondern sie selbst auszuprobieren.
In den darauffolgenden fünfundvierzig Jahren wanderte der Mann, der unter dem Namen Shakyamuni (Weiser aus dem Geschlecht der Shakya, das ist der Stamm, dem Siddhartha Gautama entstammte) oder einfach als Buddha (der Erwachte) bekannt werden sollte, durch die Ebenen Indiens und unterwies alle, die zu ihm kamen – Reiche, Arme, Adlige oder Diebe.
Als er achtzig Jahre alt wurde, versammelte Buddha seine Anhänger um sich und beschwor sie, ihre eigene Vergänglichkeit anzuerkennen und gleichzeitig nach Erlösung zu streben. Dann legte er sich auf eine Seite und versetzte sich in einen meditativen Zustand, aus dem er nicht wieder erwachte.
In den darauffolgenden Jahrhunderten eroberten seine Lehren Indien und Südostasien, zogen dann nordwärts über den Himalaja (wo sie im tibetischen Buddhismus aufgingen), erreichten schließlich China und die Mongolei und schwappten sogar über das Meer nach Japan.
Heute folgt mehr als eine halbe Milliarde Menschen den einfachen Prinzipien, die in diesen schattigen Hainen bei Varanasi vorgetragen wurden, nur wenige Kilometer flussabwärts von der Stelle entfernt, an der unsere Söhne über Reinkarnation stritten.
In laut rumpelnden Zügen setzten wir unsere Reise fort. Die Hitzeperiode hatte die Ebene fest im Griff. In den überfüllten Abteilen saßen wir eingepfercht auf harten Bänken und lasen den Kindern aus zerfledderten Büchern immer wieder die gleichen Geschichten vor. Der Schweiß tropfte uns von den Nasen, und ein neugieriger Pulk aus Mitreisenden spähte über unsere Schultern.
Die Kinder gingen insgesamt heldenhaft mit all dem Geschubse, der Hitze und den beißenden Gerüchen um. Und sie fanden großes Vergnügen an der einheimischen Form der Klimaanlage: hochgezogene T-Shirts, die die kugelförmigen Bäuche der Männer entblößten.
„Dad! Das tut wirklich gut“, sprudelte es aus Taj hervor, als er und Bodi ihre nackten Bäuche gegen das vergitterte Fenster drückten. „Mein Bauch fühlt sich eiskalt an.“ Also leistete ich meinen beiden rotgesichtigen Jungen Gesellschaft, zog unter den ungläubigen Blicken des gesamten Waggons mein Shirt hoch und streckte den Bauch heraus.
Alle paar Stunden sorgten die Bahnhöfe, die wir passierten, für eine kleine Erfrischung. Schlanke Hände reichten uns für ein kleines Bündel Rupien Pappbecher mit Chai durch die offenen Türen, und unsere Söhne stürzten dieses süße, cremige Getränk herunter. Viel schwieriger gestaltete es sich, Essen zu finden, das sie vertrugen. Nur mit Unterhemden bekleidete Männer drängten sich durch die Gänge und verkauften fettiges Curry auf Pappe, aber Bodi schnappte entsetzt nach Luft, nachdem er nur einen einzigen Bissen probiert hatte. „Viel zu scharf!“ Die ortsübliche Version von Kartoffelchips – scharfe Linsen und Spalterbsen in Zellophan – trieb den beiden Tränen in die Augen. Also griffen wir auf kleine Bananen zurück, die Christine mit köstlicher Erdnussbutter abrundete, die sie aus ihrem Rucksack zauberte.
In Agra legten wir einen Zwischenstopp ein, um Tajs Namensvetter, das Taj Mahal, zu besuchen.
Der Name Taj lässt sich aus dem Sanskrit frei mit „das Juwel in der Krone“ übersetzen. Und auch hier kamen Christines Affinität für die indische Kultur und meine Liebe zum Surfen zusammen, denn zu der Zeit, als unser zweiter Sohn geboren wurde, war Taj Burrow ein aufsteigender Stern am Surf-Himmel.
Natürlich kannten wir das Marmormausoleum bereits von Bildern, doch eine solche Pracht hatten Christine und ich nicht erwartet. Bedauerlicherweise waren unsere Söhne wenig beeindruckt. Ihre Gleichgültigkeit, gepaart mit der mörderischen Hitze, sorgte dafür, dass unser Aufenthalt nicht lange dauerte. An diesem Abend entbrannte zwischen mir und Christine ein Streit. Und nachdem sie die Tür zu dem Raum, in dem sie mit Taj schlief, zugeworfen hatte, lauschte ich reuevoll im angrenzenden Zimmer neben Bodi dem Tropfen des Wasserhahns und verbrachte eine unruhige, einsame Nacht.
Am nächsten Morgen, beim Frühstücksbüfett, umarmten wir uns und alles war vergeben. Dann lachten wir sogar, denn keiner konnte sich so richtig erinnern, über was genau wir eigentlich gestritten hatten. Indien ist zwar dafür berühmt, dass es seine Reisenden zermürbt, aber die Hitze des Vormonsuns, gepaart mit zwei Monaten ununterbrochener Dreharbeiten, nagte auch an uns.
An diesem Abend war uns eine unerwartete Verschnaufpause vergönnt, denn Wes erhielt nicht die Erlaubnis, entlang der strategisch wichtigen Nordgrenze Indiens zu filmen. Es folgte eine Woche in einem schicken Hotel in Delhi, in der er fieberhaft versuchte, die Genehmigung der Behörden einzuholen. Während wir warteten, organisierten die TV-Redakteure – die gesamte Truppe war wieder zu uns gestoßen – eine endlose Reihe an Aktivitäten: Christine machte private Kochkurse, die Jungen nahmen Bollywood-Tanzstunden, und auf einem geschäftigen Gewürzmarkt bekamen wir alle Henna-Tattoos aufgemalt. Trotz der Herausforderungen – die mit sich brachten, dass wir ständig gefilmt wurden – war mir klar, dass uns die TV-Crew Erlebnisse ermöglichte, die wir allein niemals in Betracht gezogen (oder uns geleistet) hätten.
Danach ging es weiter zu den schnurgeraden Straßen und grünen Boulevards von Chandigarh, einer Planstadt, die nach der Teilung Indiens im Jahr 1947 erbaut worden war. Von dort aus brachte uns eine Schmalspurbahn in die verhangenen Gebirgsausläufer des Himalaja. Nach zwei Tagen in einem ruckeligen Bus erreichten wir schließlich Manali, und zwar genau in dem Moment, in dem der Monsunhimmel über uns seine Schleusen öffnete.
Wir waren gerade dabei, jene anfangs geschilderten zwei Haufen – mit den notwendigen und den überflüssigen Dingen – immer höher werden zu lassen, als es an der Tür unseres Steincottages klopfte. Ein kleiner Mann mit kupferfarbener Haut und aufgesprungenen Wangen stand im Platzregen, sein T-Shirt war durchnässt, die Baseballmütze trug er verkehrt herum.
Es war Sonam Dawa.
Er stammte aus Zanskar und hatte bereits einige meiner Freunde auf Trekkingtouren in die Region begleitet. Schon vor vielen Monaten hatte ich arrangiert, dass Sonam uns auf einer hundertfünfzig Kilometer langen Wanderung über die große Gebirgskette des Himalaja nach Zanskar führen würde.
Er war so sanft und still wie die meisten Menschen tibetischer Abstammung, dass ich mich diesem reservierten Mann sofort verbunden fühlte.
Wir hatten den Start unserer Trekkingtour um fast zwei Wochen nach hinten verschieben müssen, aufgrund von Verspätungen in Delhi. In dieser ganzen Zeit hatte Sonams Team aus Trägern und Pferdehirten an dem entlegenen Ausgangspunkt des Pfades gewartet – und das Team wartete noch immer darauf, dass wir dort gemeinsam mit ihm zu ihnen stießen. Ängstlich fragte er in gebrochenem Englisch, ob wir diese zusätzlichen Tage zahlen würden. Anstatt sich darauf einzulassen, feilschte die Fernsehcrew um den sowieso schon mickrigen Tageslohn der Träger, und Christine und ich hörten peinlich berührt zu. Später rieten wir Sonam, nicht nachzugeben.
Vielleicht waren es diese Reibereien, die ihm zu schaffen machten, oder ihn plagten andere Sorgen, auf jeden Fall ging eine gewisse Schwere von dem Zweiundvierzigjährigen aus.
Ein Computer in der Lobby unseres „Feriencottages in Hanglage“ erlaubte es mir, zum ersten Mal seit Monaten meine E-Mails zu checken. Was für ein Fehler! Unter einem Haufen Spamnachrichten las ich, dass ein Bauunternehmer aus Calgary vor Kurzem den Wald hinter unserem Haus in Kimberley gekauft und bereits angefangen hatte, ihn für die Grundstücksteilung zu roden. Außerdem hatten irgendwelche Anwälte ohne Namen für den Travel Channel einen Vertrag geschickt, der so fern von jeglicher Menschlichkeit war, dass er sich eher wie eine achtzigseitige Zwangsjacke las.
Christine und die Jungs kauften auf Manalis historischer „Mall Road“ Schulsachen für das Kloster ein, und ich begleitete sie. Bei meinem Besuch vor zwanzig Jahren war der Basar noch voller Esel, Straßenverkäufer und übermütiger Händler gewesen. Die karnevaleske Atmosphäre war zwar noch immer zu spüren, aber die Straße wurde nun von Fast-Food-Ketten, Luxushotels, Nachtklubs und exklusive Modeläden gesäumt. Das Gleiche hatten wir in jeder kleinen oder großen Stadt gesehen, die wir auf unserer Reise über Kontinente und Ozeane hinweg besucht hatten. Ist es lächerlich, dass uns dieser Wandel Kopfschmerzen bereitet? Sieht so wirklich Fortschritt aus?
Historische Viertel wurden abgerissen, gemütliche Gässchen betoniert und alte Bäume gefällt, um Platz für Glastürme zu schaffen. In hohem Tempo wichen autarke Dörfer Betonstädten voller emsiger Arbeiter. In diesem Sog wirbelte ein unverkennbares Gefühl von Verlust mit. Eine Gezeitenwelle überflutete das Land – das hatten wir überall gesehen – und brachte genau die Dinge mit sich, für die wir unser Zuhause verlassen hatten. War unsere Reise etwa umsonst?
„Offensichtlich steht heutzutage in Asien alles zum Besten“, schreibt Tiziano Terzani, ein Langzeitkorrespondent des „Spiegel“, der selbst ein Jahr auf Landwegen durch Asien und Europa gereist war, „[…] und überall ist nur noch von Wirtschaftswachstum die Rede. Doch eben jetzt wird diese alte, große Welt der Vielfalt vom Untergang bedroht. Das trojanische Pferd ist die Modernisierung.“
Am nächsten Morgen stopften wir unsere leichter gewordenen Seesäcke in den Kofferraum eines zerbeulten Minivans. Der Fahrer, ein ernster Mann mit einem roten, auf seine Stirn gemaltem tilaka (drittem Auge), ließ den Motor aufheulen und raste nach Norden, der Leh-Manali-Militärstraße in Richtung des Rohtang-Passes folgend, was, aus dem Tibetischen übersetzt, Leichenfeldpass bedeutet.
In steilen Serpentinen ging es bergauf, die Straße schlängelte sich durch die monsungetränkten Wälder aus Pinien, Eichen, Kastanien und Rhododendren. Teestände an der Straße boten von der Sonne verblichene Schneeanzüge an. Sie waren zum Ausleihen und warteten auf die Horden an Flachlandindern, die diesen Pass jeden Sommer erklimmen, um einen ersten, flüchtigen Blick auf den Schnee zu erhaschen.
Während sich der Minivan weiter nach oben quälte, teilten sich die Nebelschwaden und gaben den Blick auf steile Felswände und jadegrünes Berggrasland frei. Auf dem windgepeitschten Gipfel erhitzten zwei geschäftstüchtige junge Männer mit einem Gasbrenner einen Bottich süßen Kaffees, den sie an erschöpfte Fernfahrer verkauften. Christine und ich stellten uns in die Schlange.
Hinter dem Rohtang-Pass wurde das Land trockener. Wacholdersträucher sprenkelten die felsigen Berghänge und weiter unten zeichneten grüne Pappeln das Ufer des tosenden Flusses Chenab nach, in dem vereiste Gipfel gen Norden trieben. Der Fahrer schaltete den Motor aus, um Benzin zu sparen, und wir rollten lautlos abwärts. Die Kinder schliefen ein. Christine und ich starrten aus dem Fenster, ganz gefesselt von der enormen Tragweite dessen, was dort vor uns lag.
Im Dorf Keylong, in einem Gästehaus aus der Kolonialzeit, duschten wir vielleicht zum letzten Mal für die nächsten sechs Monate. Später tranken wir ein Kingfisher-Bier auf einer Veranda, die mit bunten Lichterketten behängt war.
Am nächsten Tag fuhr unser Minivan in eine verdorrte Landschaft ohne jeglichen Baumbestand hinein. Es war später Nachmittag, als der militärische Kontrollpunkt Darcha inmitten der Ödnis auftauchte – eine Ansammlung von Steinhütten, olivgrünen Zelten und Sandsäcken. Ein Soldat mit Sturmhaube blätterte durch unsere Reisepässe und winkte uns dann weiter.
Einem schadhaften Pfad folgend, fuhren wir in ein karges Tal hinunter, das von dunklen, Schnee durchzogenen Gipfeln umgrenzt wurde. Irgendwann kam der Minivan hüpfend zum Stehen. Neben uns gab es einen ein Tupfer Grün – eine kleine Quelle. Auf der Wiese standen zwei Steilwandzelte, aus denen ein Dutzend oder mehr Männer mit abgewetzten Pullovern und Kakihosen herausgestürmt kamen, als sie unseren Motor hörten. Obwohl sie zwei Wochen gewartet hatten, begrüßten uns die Träger mit ihren schwieligen Händen und funkelnden Augen so herzlich, als wären wir ihre längst verloren geglaubten Verwandten.
Christine und ich bauten unser Zelt auf, während Bodi und Taj Unmengen an Stöcken auf dem flachen Quellwasser treiben ließen. In der Bachmitte stand auf einem großen Stein eine seltsame, handgemalte Botschaft: BAD 5 RUPIEN BITE. Doch an wen wir diese Gebühr inmitten dieser Einöde entrichten sollten, ging nicht daraus hervor.
Als sich Schatten über das Tal legten, döste Christine im Zelt ein. Da die Jungen fröhlich zusammen spielten, wanderte ich allein das Tal hinauf. Nichts regte sich in dieser ausgetrockneten Ebene, nicht einmal ein Vogel. Mich überkam ein Gefühl von großer Einsamkeit.
Vor mir tat sich ein Abgrund auf, der mir den Weg versperrte. Aus der Tiefe hörte ich Wildwasser tosen. Neben mir befand sich ein kleiner Hinduschrein; auf dem Altar stand, begraben unter Klumpen von Weihrauch und geschmolzenem Kerzenwachs, eine kleine Bronzestatue von Ganesha, dem elefantenköpfigen Beseitiger von Hindernissen.
Eine windschiefe Brücke aus rostenden Trägern führte zur gegenüberliegenden Seite, wo ein weiß getünchter Chörten aufragte: ein domartiger Kultbau, wie er für den Himalaja typisch ist, und der symbolisieren soll, wie Buddha das gesamte Universum in seinem erleuchtetem Geist trägt. Seinen Unterbau schmückten viele Bergkristalle und Steinbockhörner, oben flatterten verblichene Gebetsfahnen.
Nach siebenundachtzig Tagen standen wir endlich an der Schwelle zu Zanskar und dem himalajischen Buddhismus.