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DER KLEINE PROFESSOR

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Die „Hanjin Ottawa“ ging nach Mitternacht in Busan, Südkorea, vor Anker. Allmählich ließ die Morgendämmerung eine Armee spinnenähnlicher Kräne in Erscheinung treten, die die Container vom Schiff pflückten und sie auf eine Reihe wartender Lkws setzten. Lichter blinkten und Sirenen heulten auf, aber keine lebendige Seele war zu sehen. Wie alle großen Häfen – früher einmal wuselnde Bienenstöcke aus Opiumhöhlen, Bordellen, Söldnern und Märkten – war auch dieser zu einer industriellen Einöde geworden, blank geputzt durch die Einführung des Containertransports.

Nachdem wir als Einzige in der Messe zum letzten Mal Eier und Würstchen gefrühstückt hatten, trafen wir an Deck auf die versammelte Mannschaft, die schon darauf wartete, sich von uns zu verabschieden. Sogar die Mechaniker hatten den Bauch des Schiffes verlassen, wo der Motor gerade auf die Überfahrt nach Shanghai vorbereitet wurde. Klugscheißer begleitete uns die Gangway herunter und nahm uns in die Arme. Seine Augen waren feucht.

Dann betraten wir Asien.

Wes und die anderen des Fernsehteams warteten am Kai auf uns, sie trugen Schutzhelme und Warnwesten. Nachdem wir uns umarmt und abgeklatscht hatten, unterzogen Christine und ich uns einer Runde Interviews vor der Kamera. Auf Drängen von Wes gaben Bodi und Taj einige kindliche Aussprüche von sich. Nach der Einwanderungskontrolle brachte uns ein Taxi zu unserer Privatunterkunft, die wir schon vor Monaten von Kanada aus organisiert hatten.

Ein Hotel oder Hostel wäre zweifellos einfacher gewesen, aber solche Unterkünfte sind zunehmend an westliche Komfortstandards angepasst. Auf Reisen suchen Christine und ich aber regelmäßig nach dem anderen, und das wollen wir auch unseren Kindern vermitteln: sich an das Fremde anzupassen, anstatt es reflexartig zu etwas Vertrautem zu verbiegen.

Aus dem Taxi heraus erhaschten wir einen Blick auf eine Welt aus Zement, Plastik und Glas, erhellt von Neonlichtern und bevölkert von Menschen, die an ihren Smartphones und Selfiesticks klebten. Reihen von gnadenlos gleichförmigen Apartmenthäusern schossen wie Pilze aus grünen Hängen. Innerhalb von nur einer Generation hatte sich Südkorea aus der Asche eines verheerenden Bürgerkrieges erhoben und zu einer Wirtschaftsmacht aufgeschwungen.

Auf den Straßen staute es sich. Ausgerechnet als wir in der Mitte einer sieben Kilometer langen Hängebrücke standen, sagte Bodi, dass er auf die Toilette müsse – sofort! Er könne keinen Moment länger warten. Christine sah mich an, zuckte mit den Schultern und reichte ihm ihre Wasserflasche. Es pieselte in die Flasche, der Geruch von Urin verteilte sich im Minivan. Unser Fahrer verzog empört das Gesicht und öffnete wortlos sein Fenster.

Eine Teenagerin mit Engelsgesicht wartete vor einem hoch aufragenden, direkt am Wasser gelegenen Apartmenthaus auf uns. Trotz der erdrückende Schwüle trug sie eine Strickjacke und Hello-Kitty-Turnschuhe.

„Hallo, Familie“, gurrte Kim Na Young und verneigte sich tief.

„Annyeong haseyo“, antwortete Taj (ermuntert von Christine), was „Hallo“ bedeutete – oder wörtlich „Sind Sie friedlich?“

An Bord des Containerschiffes hatten wir den beiden die wichtigsten koreanischen Grußformeln beigebracht. Kim Na Young errötete.

Schnell und lautlos brachte ein Aufzug uns und die TV-Crew in den fünfundvierzigsten Stock, wo Kim mit ihren Eltern Sunny und Nikki lebte. Sunny war eine professionelle Windsurferin, Nikki ein Investmentbanker. Kim erklärte, dass ihr Vater heute extra für uns früher von der Arbeit gekommen sei. In einem Land, in dem die 60-Stunden-Woche noch die Norm war, wurde das nicht gern gesehen.

Nachdem wir unsere Seesäcke in einen mit Parkett ausgelegten Raum gebracht hatten, der abgesehen von Schlafmatten und Regalen voller Porzellankatzen leer war, bereitete uns unsere Gastfamilie ein traditionelles Mittagessen mit scharf angebratenem Rindfleisch, Lotuswurzeln und pikantem Kimchi zu.

Später begleiteten sie uns zum nahen Haeundae-Strand, dabei trugen alle drei bierdeckelgroße Sonnenbrillen. Es war drückend heiß. Unsere Söhne zogen sich bis auf die Unterwäsche aus, Christine und ich krempelten die Hosen hoch. Dann tollten wir inmitten einer Schar ausgelassener Einheimischer vergnügt in den aufschlagenden Wellen herum. Irgendwann glaubte ich ein Moskito zu hören, merkte dann allerdings, dass es sich dabei um eine Drohne der Fernsehcrew handelte, die nur wenige Meter über unseren Köpfen schwirrte.

Wir hatten uns an die Anwesenheit der Crew gewöhnt. Und, auch wenn sich das wahrscheinlich schlimm anhört: Von morgens bis abends gefilmt zu werden, war weniger störend als ursprünglich befürchtet. Auf gewisse Weise fühlte es sich so an, als wären wir mit einer Gruppe Studenten – und unseren Kindern – auf einem (gut dokumentierten) Roadtrip.

Sogar Bodi, den fremde Menschen leicht verunsicherten, hatte die Crew mit der Zeit akzeptiert. Aber das hieß nicht, dass er ihnen das Leben leicht machte. Ständig drehte er den Kameras seinen Rücken zu. Und wenn ein Redakteur ihn bat, einen bestimmten Satz noch mal zu wiederholen, weigerte er sich und schnaubte zurück, er habe das schon gesagt. Immer wenn der Akku des Mikrofons, das an seine Hüfte befestigt war, heiß wurde, was ständig der Fall war, riss er ihn ab und warf ihn zur Seite. Dem Tontechniker blieb nichts anderes übrig, als die tausend Dollar teure Ausrüstung so schnell wie möglich wieder vom Boden aufzuklauben. Allerdings war Bodi nicht ein einziges Mal auf die Crewmitglieder selbst wütend, vielmehr konnte ich einen bei Menschen sehr seltenen Vorzug an ihm beobachten: Bösartigkeit schien ihm völlig fremd zu sein.

Auf einem Markt voller beißender Gerüche beobachteten wir, wie Aale bei lebendigem Leib gehäutet wurden, berührten die sandpapierartige Haut von Haien und hielten glibberige Seegurken in den Händen. Bodi und Taj probierten frittierte Mottenlarven, einen Streetfoodsnack, der nach Sportsocken müffelt und genauso schmeckt und vor allem von betrunkenen Männern geschätzt wird. Später blieb Bodi vor einer Auslage mit Perlenarmbändern stehen und fragte Christine leise, ob er ein pinkfarbenes haben könne.

„Natürlich“, antwortete sie.

Allerdings hatten wir kein koreanisches Geld, und der Automat in der Nähe akzeptierte meine kanadische Bankkarte nicht. Ich probierte es an fünf weiteren Geldautomaten, jedoch ohne Erfolg. Als ich mit leeren Händen zurückkam, liefen die Tränen in Strömen über Bodis Wangen. Schließlich warf er sich schreiend und nach Atem ringend auf den Bürgersteig. Während Christine unseren aufgebrachten Sohn beruhigte, versuchte ich instinktiv, den Kameras, die uns umschwebten, die Sicht zu verstellen.

Die Situation ließ sich schnell lösen. Sunny lieh uns zweitausend Won (ungefähr zwei US-Dollar), und wir kauften das pinkfarbene Armband. Bodi rieb sich die geröteten Augen, und der Gefühlssturm legte sich. Schließlich fand ich einen Bankautomaten, der meine Karte akzeptierte und ein Bündel an Scheinen ausspuckte, das so dick wie ein Taschenbuch war. Doch während wir uns vom Feierabendtrubel in Richtung eines Restaurants mitreißen ließen, das bulgogi, Feuerfleisch, servierte, erwischte ich mich dabei, wie ich wieder mit der Entscheidung haderte, die Christine und ich vor einigen Monaten getroffen hatten.

An einem Abend im tiefsten Winter hatten bei Christine die Wehen eingesetzt. Unser erstes Kind ließ schon zwei Wochen auf sich warten, und die Hebamme hatte geplant, am nächsten Morgen die Geburt mithilfe eines übelriechenden Gebräus aus Rizinusöl und Zitronenverbene einzuleiten. Aber bei einer Frau aus der Prärie, die in den Sportarenen kanadischer Kleinstädte groß geworden war, reichte schon die Aufregung während der Eishockeysendung „Hockey Night in Canada“.

Die ersten Wehen setzten während des letzten Drittels ein, und gegen Mitternacht war klar, dass es sich nicht um falschen Alarm handelte. Wir machten uns auf den Weg zum Krankenhaus im benachbarten Cranbrook. Während der rostige Toyota durch die Dunkelheit jagte und Schneeflocken gegen seine Windschutzscheibe flogen, fühlte es sich so an, als reisten wir mit Lichtgeschwindigkeit in eine ferne Galaxie. Auf gewisse Weise taten wir das vielleicht auch wirklich.

Achtzehn verschwommene Stunden, viele Schreie und den Einsatz all ihrer Kräfte später, wollte sich Christines Muttermund partout nicht weiter als acht Zentimeter öffnen. Irgendwann waren sich Hebamme und Entbindungsarzt dann einig: Das riesige Baby in Christines Bauch würde da nicht durchpassen.

„Sie brauchen einen Kaiserschnitt“, erklärte der Arzt. „Sofort, okay?“

Christine sah mich an. Ihr muskulöser Körper war erschöpft, ihr Haar zerzaust. Sie konnte keine Entscheidungen mehr treffen. Wir hatten im Vorhinein einen „Geburtsplan“ besprochen und waren uns beide einig gewesen, dass ein gesundes Baby das Wichtigste war. Die Art, wie unser Kind auf die Welt kommen würde, war nicht wichtig. Trotzdem zögerte ich. Der Arzt sah mich über seine Brillengläser hinweg an und wartete.

Ich nickte. Sofort setzte eine rege Betriebsamkeit ein. Ein Anästhesist, dessen fleischige Hände eher wie die eines Mechanikers als die eines Chirurgen aussahen, setzte Christine gekonnt eine PDA-Spritze. Dann wurde sie in einen OP geschoben, wo ihr der schockierende Anblick des Geburtsvorgangs durch ein aufgespanntes Laken erspart blieb.

Ich beobachtete, wie ein Ärzteteam Christines ausgedehnten Bauch mit Fäusten und Unterarmen bearbeitete, als drückten sie einen gigantischen Pickel aus. Eine Ewigkeit lang passierte gar nichts. Dann brach ein winziges Köpfchen hervor – dunkles Haar glitzerte im Licht, Augen starrten mich offen an. Abgesehen von dem Ticken einer Wanduhr war nichts zu hören. Dann zerriss ein lauter Schrei die Stille.

Es folgten die Schultern, und schließlich glitt der gesamte glänzende Körper wie ein Fohlen aus ihr heraus.

„Es ist ein Junge!“, rief jemand. „Ein gesunder Junge.“

Hinter der Abtrennung strömten Tränen aus Christines geröteten Augen.

Das erste Jahr verging in einem Nebel aus Baumwollwindeln, zarter Haut, neugierigen blauen Augen, Staunen und Liebe. Und Erschöpfung. Und Zeiten der Langeweile.

Nachbarn und Freunde hatten uns lange dazu ermutigt, Kinder zu bekommen. Ihr werdet großartige Eltern sein. Die Freude und Liebe, die ein Kind schenkt, hat man vorher noch nicht erlebt. Jetzt schlugen sie plötzlich andere Töne an. Eine Nacht durchschlafen? Ein entspanntes Abendessen? Sex? Hahaha! Manchmal fragte ich mich, ob diese Fieslinge ihr Leid nicht einfach nur mit jemandem hatten teilen wollen.

Die Geburt hatte unser Leben wie ein Erdbeben auf den Kopf gestellt. Und nach und nach erkannten Christine und ich, dass Elternschaft dem viel beworbenen Bild von weichen Decken, krähenden Babys und Einhörnern nicht ganz entsprach. Trotz dieser Herausforderungen fühlten sich diese ersten Jahre aber normal für uns an, und alles schien sich so zu entwickeln, wie es sollte – bis Bodi mit zweieinhalb Jahren urplötzlich begann, einerseits ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag zu legen und andererseits außergewöhnliche Fähigkeiten zu entwickeln.

Während andere Kinder seines Alters Zeichentrickserien ansahen, arbeitete er sich durch Lego-Anleitungen im Internet und überflog schematische Skizzen für Modelle, die er nicht einmal besaß.

Manchmal saß er auch allein in einer Ecke und reihte Spielzeugzüge auf, schnurgerade ausgerichtet, und tat das immer und immer wieder. Er war ungewöhnlich geräuschempfindlich und schrie jedes Mal auf, wenn das Gefrierfach beim Öffnen quietschte. Er reagierte extrem sensibel auf Berührungen und weigerte sich, kurze Hosen oder kurzärmelige Oberteile anzuziehen. Und er bestand darauf, dass Christine jedes Schildchen aus seinen Klamotten entfernte. Je nach Wochentag trug er ein bestimmtes Shirt („mein Montagsshirt“) und weigerte sich vehement, ein anderes anzuziehen. Als Christine damit begann, seine Sandwiches in der Mitte durchzuschneiden, flehte er sie an, damit aufzuhören. Als sie nach dem Grund fragte, erklärte er schluchzend, dass er sich dann nicht entscheiden könne, welche Hälfte er zuerst essen solle.

Im örtlichen Supermarkt wusste Bodi auswendig, wie viel Gramm Zucker pro Portion in jeder einzelnen Sorte Frühstücksflocken steckten. Das hatte er sich von Christine abgeschaut, die solche Angaben penibel studierte. Als er sah, wie eine Frau gerade eine Schachtel „Kellogg’s Smacks“ in ihren Wagen legte, sprach der kleine Bodi sie an.

„Da drin sind siebzehn Gramm Zucker!“, stieß er hervor. „Das ist nicht gut für Sie!“

Die Frau lief verwirrt davon, was unseren Sohn hysterisch machte.

„Warum hat sie es genommen, Mom? Warum?“, schrie er. „Ich habe ihr doch gesagt, dass es schlecht ist.“

Die kleinste Abweichung vom Gewohnten konnte einen Wutanfall auslösen: falsch angerichtete Apfelscheiben, ein nicht korrekt ins Regal einsortiertes Buch, ein spontaner Plausch mit einem Freund auf der Straße. Unsere Tage verkamen zu einem schrillen Tränenkonzert. Bodi weinte vor dem Frühstück, während des Frühstücks, auf dem Weg in den Kindergarten und wieder zurück, beim Einkaufen, während des Abendessens und beim Einschlafen. Er schluchzte sogar im Schlaf. Es waren eindringliche Schreie, die uns aus dem Bett springen ließen. Kerzengerade aufgerichtet und schweißdurchtränkt fanden wir ihn, die geballten Fäuste gegen die Dunkelheit gerichtet.

Weder Strenge noch Einfühlsamkeit schienen seinen Tränen Einhalt gebieten zu können. Seine Ausbrüche zu ignorieren, machte die Situation nur noch schlimmer, und wir fühlten uns zunehmend machtlos. In den Einkaufszentren und Supermärkten wurden Christine und ich unter den vernichtenden Blicken anderer ganz klein. Bekommen Sie Ihr Kind mal unter Kontrolle.

In meiner jugendlichen Unbekümmertheit hatte ich immer angenommen, dass ich einmal ein toller Vater sein würde. Witzig und weise, jemand, mit dem man Spaß haben kann und der seine Kinder selbst an den grausten aller Tage aufzuheitern versteht. Aber betrachtete man allein diese ersten Jahre, schien ich meine Fähigkeiten deutlich überschätzt zu haben.

Und das Schlimmste war, dass an Christine und mir das vage Gefühl nagte, dass Bodi sich immer mehr von uns entfernte. Wann immer wir es uns neben ihm gemütlich machten, auf dem Sofa oder im Bett, rückte er von uns ab und bestand auf einem Abstand zwischen unseren Körpern. Wenn ich mich für einen Kuss zu ihm herunterneigte, schaute er weg. Wenn ich meine Arme ausstreckte, um ihn zu umarmen, drehte er sich um und schob sich dann langsam rückwärts zu mir hin. Als wenn ihn meine Liebe zu stark blendete, um sie direkt von vorn zu ertragen.

Diese Symptome sind so klassisch – so „lehrbuchmäßig“ –, dass, wer so etwas schon einmal erlebt hat, sofort Bescheid weiß. Ansonsten wirkt dieses Verhalten auf alle anderen wahrscheinlich genauso irritierend und mysteriös wie auf Christine und mich.

Von außen betrachtet, sahen wir vermutlich glücklich aus. Unser Kind war gesund, wir lebten in einer Gemeinde, in der man sich gegenseitig unterstützte, und wir waren mit einem wunderbaren Freundeskreis gesegnet. Wir trieben beide weiter Sport – beim Joggen war Bodi im Kinderwagen mit dabei und beim Skilanglauf in einer Kindertrage. Abends verfolgte Christine nach wie vor ihre akademische Karriere. Der Rundfunksender CBC hatte mir kurz zuvor die Moderation einer Abenteuerserie angeboten, außerdem schrieb ich für immer renommiertere Blätter. Alles lief bestens, hätte man meinen können.

Doch in Wahrheit verloren wir den Boden unter den Füßen. Es war eine Qual, Bodi zu gesellschaftlichen Ereignissen jeglicher Art mitzunehmen. Während die anderen Kleinkinder bei Gartengrillpartys oder Nachbarschaftstreffen in Rudeln umherrannten, klammerte sich der weinerliche Bodi an unsere Beine und wollte sofort nach Hause.

„Nie wieder“, schluchzte Christine, nachdem wir auf der Geburtstagsfeier eines Nachbarn gewesen waren. „Warum rede ich mir immer ein, dass es beim nächsten Mal besser wird?“

Da uns alles soziale Miteinander allmählich zu anstrengend wurde, blieben wir lieber zu Hause, wo sich jeder Tag, den wir schon übermüdet begannen, zwischen dem Kaffee am Morgen und den immer größer werdenden Mengen Wein am Abend wie eine Ewigkeit hinzog. In dieser Zeit lagen Christine und ich uns häufig wegen Kleinigkeiten in den Haaren. Schließlich besuchten wir eine Therapie und stritten doch ständig weiter.

Unsere elterlichen Instinkte prallten aufeinander. Christines Impuls war es, unseren Sohn mit Liebe zu überhäufen, egal, wie er sich verhielt. Ich hingegen antwortete auf Bodis Ausbrüche intuitiv mit Strenge. Keiner der beiden Ansätze funktionierte, und je frustrierter wir wurden, desto eher geriet auch ich in Wut und brachte manchmal die ganze Familie zum Weinen. Gemeinsam besuchten wir dann einen Kurs für Eltern – keine besonders romantische Art, unsere ersten Abende zu zweit seit der Geburt Bodis zu verbringen –, aber es nützte nichts.

Die ersten Jahre als Eltern sollen angeblich zu den glücklichsten Zeiten im Leben gehören, aber je tiefer wir in den Abgrund der Verzweiflung rutschten, desto größer wurde die Diskrepanz zwischen dem, was ich dachte, fühlen zu müssen, und dem, was ich tatsächlich fühlte. Schuldgefühle, Kummer und gelegentlicher Groll waren die Folge.

Ein Rettungsanker blieb uns jedoch noch. Christine und mir waren unsere gemeinsamen Ausflüge in die Wildnis immer sehr wichtig gewesen. Und nachdem Bodi zur Welt gekommen kam, machten wir damit weiter – und nahmen ihn einfach mit.

Rückblickend gebe ich zu, dass ich zumindest teilweise davon getrieben wurde, die Miesmacher eines Besseren zu belehren, ihnen zu zeigen, dass unser abenteuerlicher Lebensstil mit der Geburt der Kinder nicht einfach der Vergangenheit angehörte. Ja, Sicherheit war unsere höchste Priorität, und ja, wir schraubten unsere Ambitionen etwas herunter, aber ohne Zweifel überschritten wir die Grenzen dessen, was als „normal“ betrachtet wird.

Als Bodi gerade drei Monate alt war, bestiegen wir mit ihm die Hochgebirgsgipfel der kanadischen Bugaboos. Kurz darauf ging er mit uns einen Monat lang an der windgepeitschten Küste von Vancouver Island campen. Mit sieben Monaten fuhr er mit uns vor der Küste Argentiniens Kayak. Mit acht Monaten hüpfte er auf unseren Rücken mit, als wir durch die Torres del Paine in Südchile trekkten. Mit achtzehn Monaten hatte Bodi bereits ein Viertel seines Lebens in einem Zelt verbracht.

Wenn jemand unsere Entscheidungen in Frage stellte, ließ ich die üblichen Argumente von der Leier: Wie wertvoll frische Luft sei, wie sehr es die Abwehrkräfte stärke, mal ein bisschen Dreck zu sich zu nehmen, und wie wunderbar die Nächte unter dem Sternenhimmel seien. Der wahre Grund, warum wir diese langen, herausfordernden Reisen planten – und Bodi mitnahmen – war jedoch im Rückblick rein egoistischer Natur: Die Wildnis war unsere einzige Rettung.

Was auch immer uns anfangs dazu motiviert hatte – recht schnell wurde deutlich, dass diese Fluchten unserer Familie mehr als guttaten. Denn indem wir uns aus unserem hektischen Leben ausklinkten, konnten wir eine Verbindung zu Bodi (und zu uns) herstellen, wie sie uns zu Hause nie gelang. Auf diesen Reisen erhaschte ich wieder einen Blick auf die Frau, in die mich verliebt hatte: zuversichtlich, selbstbewusst, glücklich. Und vielleicht machte sie bei mir die gleiche Erfahrung. Am auffälligsten war aber, wie beruhigend diese Reisen auf unseren ängstlichen Sohn wirkten. Vielleicht lag es an dem einfachen täglichen Tagesablauf: mit der Sonne aufstehen, Zelte abbauen, Bewegung, Zelte aufbauen, dicht an dicht in einem Zelt schlafen – und alles wieder von vorn.

Also machten wir weiter. Mit dem Rad durch Frankreich, Wandern in Wales, im Kajak die kanadische Westküste entlang, im Kanu durch den Canyonlands-Nationalpark und mit Packziegen sogar hundertsechzig Kilometer lang durch die Uinta Mountains in Utah.

Auch die Geburt von Taj stellte für uns kein Hindernis dar. Als unser Winzling gerade erst acht Monate alt war – und Christine noch heldenhaft stillte –, flogen wir nach Georgien, kauften zwei Packpferde und trekkten sechzig Tage den Kaukasus entlang, wo wir ein Kriegsgebiet umgehen und uns von dem Joghurt, Honig und Brot ernähren mussten, das uns vorbeiziehende Hirten gaben. Vielleicht waren es die Dauer und die Herausforderungen, die diese Reise besonders nachwirken ließen. Denn noch ein Jahr nach unserer Rückkehr blickte ich meinen Jungs in die Augen und freute ich mich an einer zuvor nicht gesehenen Lebendigkeit.

Aber der Glanz solcher Tage verfliegt, und alte Gewohnheiten schleichen sich wieder ein. Ich kaufte ein iPhone. Ich richtete eine Seite auf Facebook ein. Ich begann zu twittern. Bodi schlief immer weniger und flippte immer mehr aus. Wir rutschten immer weiter ab.

In dieser Abwärtsspirale begann ich irgendwann, Bodi als „Stressbiber“ zu bezeichnen.

Dieser Begriff stammte noch aus meinen Tagen als Raftingführer, und Christine hasste ihn. Im hohen arktischen Norden kann einem der tagelang erbarmungslos wehende Wind stark zusetzen. Heftige Böen peitschen die Rafts kreuz und quer über den Fluss. Im Lager purzeln Zelte herum und Hüte werden vom Kopf gerissen. Ein Feuer zu entfachen wird zur echten Herausforderung. Sand und Dreck durchdringen jede Mahlzeit. Teller und Besteck werden von den Serviertischen gefegt. Nachts schlägt der Wind so laut gegen die Zelte, dass Schlaf unmöglich wird. Nach nur wenigen Tagen geht die ganze Mannschaft auf dem Zahnfleisch, zermürbt vom „Stressbiber“.

Ganz so wie diese arktischen Winde schien Bodi, ohne es zu wollen, sogar die einfachsten Dinge zu einer Herausforderung zu machen. Abends wollte er nicht zur Ruhe kommen, er stand schon lange vor Sonnenaufgang auf und schien nur dann fest zu schlafen, wenn er wach sein sollte. Zu den Mahlzeiten nie hungrig, fing er immer gleich an vor Hunger zu weinen, wenn gerade nichts Essbares zu bekommen war. Im Winter weigerte er sich, eine Mütze zu tragen, im Sommer wehrte er sich gegen Oberteile mit kurzen Ärmeln. Die Liste lässt sich noch ewig weiterführen. Einzeln betrachtet wirken diese Sachen trivial – es scheint pingelig, sie überhaupt zu erwähnen –, doch zusammengenommen erdrückten sie uns. Und obwohl wir es nur widerwillig zugaben, etwas fühlte sich einfach nicht richtig an.

Wenn sich Christine den Ärzten anvertraute, bekam sie ausnahmslos die gleiche Antwort: „Sie sind überängstlich. Bodi geht es gut. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Jahrelang versuchten wir, diesen Ratschlag zu befolgen, und mühten uns weiter ab. Doch mit Taj hatten wir plötzlich einen neuen Maßstab. Der Kleine brachte viele Dinge in unser Leben – eine spitzbübische und sture Natur, ein ansteckendes Lachen –, aber gleichzeitig verkörperte er unverkennbar das Neurotypische, auch wenn wir diesen Begriff damals noch nicht kannten. Sahen wir in seine Augen, erwiderte er unseren Blick. Anstatt Körperkontakt zu vermeiden, suchte er ihn. Er sagte aus eigenem Antrieb zu Fremden „Hallo“ und „Tschüss“ und wand sich nicht am Boden, wenn man davon sprach, das Haus zu verlassen. Taj forderte nur einen Bruchteil der Energie ein, die wir als Eltern für Bodi aufwenden mussten. In seiner Gegenwart wurde noch deutlicher, dass es mit Bodi „anders“ war.

Stark vereinnahmt von meiner Arbeit, war ich einfach – und ohne Grund – zuversichtlich, dass sich alles schon irgendwie und irgendwann ergeben würde. Aber Christine ließ sich nicht beirren und nahm die Dinge selbst in die Hand: Sie durchforstete das Internet, rief Universitätskollegen an und vertiefte sich in wissenschaftliche Abhandlungen. Nach und nach nahm eine Theorie Form an. Um ihren Verdacht zu überprüfen, glitt Christine eines Tages beim Mittagessen von ihrem Stuhl, krabbelte unter den Küchentisch und war nicht mehr zu sehen – obwohl Bodi gerade mit ihr gesprochen hatte. Als er nicht ins Stocken geriet oder sie fragte, was sie da tat, wusste sie es.

Einen Monat später fuhren wir ins benachbarte Cranbrook, wo Bodi im Zentrum für Kindesentwicklung von einem Team aus Experten getestet wurde. Später, während er mit Plastikdinosauriern spielte, riefen sie Christine und mich zu sich und bestätigten behutsam, dass Bodi an einer Autismus-Spektrum-Störung litt. Seine genaue Diagnose lautete PDD-NOS (Pervasive developmental disorder, not otherwise specified), eine nicht näher spezifizierte, tiefgreifende Entwicklungsstörung. Das klingt zwar beunruhigend, bündelt allerdings eine Bandbreite von Symptomen, die früher dem Asperger-Syndrom zugesprochen wurden.

Eine Flut weiterer Wörter folgte noch, aber ich erinnere mich an keines mehr.

Während wir nach Hause fuhren, war ich wie benommen. Verdammt. Und dann verwirrt. Was zum Teufel ist Autismus überhaupt? Und schließlich hoffnungsvoll. Ich werde Bodi so sehr lieben, dass alles andere egal ist.

Neben mir schluchzte Christine so sehr, dass ich daran zweifelte, dass sie überhaupt noch etwas sah. Noch bevor die Trauer nachlassen konnte, schaltete sie in den Schutzmodus. „Niemand darf davon erfahren“, schluchzte sie. „Niemals.“

Sie war in einer Kleinstadt aufgewachsen. Sie wusste, wie sich Gerüchte verbreiten.

Kennt man niemanden mit einer autistischen Störung in der Familie oder im Freundeskreis, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass man genauso viel darüber weiß wie ich, als Bodi diagnostiziert wurde: nämlich fast nichts.

Grob gesagt, die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) umspannen eine ziemlich breite Palette an neuronalen Entwicklungsproblemen, die von nicht offensichtlichen Eigenheiten (wie einer Aversion gegen Augenkontakt oder der Tendenz zu repetitiven Verhaltensweisen) bis zu komplett nonverbalem Verhalten reichen (eingeschränkte Motorik, Sinneswahrnehmungsstörungen und selbstverletzende Verhaltensweisen wie das Anschlagen des Kopfes.)

Obwohl viele von einer modernen „Epidemie“ sprechen, ist Autismus keine Krankheit, sondern vielmehr ein Syndrom, beziehungsweise eine Gruppe von Symptomen.

Während Pauschalisierungen gefährlich sind, gibt es eine Eigenschaft, die viele Menschen im Autismus-Spektrum gemein haben: die Schwierigkeit, soziale Signale zu verstehen. Tony Attwood, Autor des Standardwerks „Leben mit dem Asperger-Syndrom“, verwendet diese Analogie: Stellen Sie sich einen Autofahrer vor, der Ampelsignale nicht versteht. Während er ohne Probleme allein die Straßen befahren kann, wird es für ihn verheerend, sobald andere Autos hinzukommen. Genauso läuft ein Kind, das soziale Signale – das grüne Licht eines Lächelns, das Mach mal langsam verschränkter Arme, das Hör auf im „Ähm“ eines Lehrers – nicht versteht, Gefahr, zahlreiche Missgeschicke, Missverständnisse und letzten Endes Isolation zu erleben.

Das US-amerikanische Zentrum für Krankheitskontrolle („Center for Disease Control“) schätzt, dass eines von neunundfünfzig Kindern unter einer Autimus-Spektrum-Störung leidet. ASS kommt heute doppelt so häufig vor wie noch vor sieben Jahren.

Entgegen der grassierenden Verschwörungstheorien hat diese Zunahme allerdings nichts mit der Impfung von Kindern zu tun. Vielmehr erklärt sie sich mit der Erweiterung der Diagnosekriterien (das Raster ist deutlich feiner geworden) und weitaus besseren diagnostischen Möglichkeiten (immer weniger Kinder rutschen durch das Raster).

Das alles bedeutet, dass auch jemand in Ihrem Leben mit großer Wahrscheinlichkeit an ASS leidet. Und genauso wahrscheinlich ist es, dass Sie das nicht wissen.

Alle Eltern hegen still und heimlich Wünsche für das Leben ihrer Kinder: Glück, Freiheit, einen liebevollen Partner, eine spannende und bedeutungsvolle berufliche Laufbahn.

In den Tagen nach Bodis Diagnose verwarfen Christine und ich diese Träume und überlegten zum ersten Mal, ob er bescheidenere Ziele erreichen könnte: eine Freundschaft schließen, einen Job finden und selbstständig leben. Manchmal fühlte es sich so an, als balancierte unser Leben am Rande eines Abgrunds.

Aber seltsamerweise war diese Diagnose auch eine Quelle der Hoffnung.

Denn es erklärte nicht nur unsere Probleme, sondern gab Christine und mir vor allem auch etwas, an dem wir arbeiten konnten – gemeinsam. Möglicherweise rettete die Diagnose sogar unsere Ehe. Oder sollte ich fairerweise sagen, Bodi rettete uns? Plötzlich standen wir vor der größten und verwirrendsten Herausforderung unseres Lebens.

Ein Kind im Autismus-Spektrum großzuziehen, war nicht intuitiv zu bewältigen, zumindest nicht für mich. Der Familienberater, der uns unterstützte, erklärte uns erst einmal, dass Lärm, viele Menschen und unregelmäßige Tagesabläufe Bodi in große Angst versetzten. In solch hochemotionalen Zuständen war er nicht in der Lage, angemessen auf die einfachsten Anforderungen zu reagieren. Unsere erste Aufgabe war es also, Wege zu finden, die Bodis Angst reduzierten und die Nerven beruhigten, die durch das laute Chaos und die Unsicherheit der modernen Welt unter ständiger Anspannung standen. Wir mussten etwas Gewissheit in sein Leben bringen. Dann, und nur dann, würden wir auch Fortschritte im Verhalten und in zwischenmenschlichen Beziehungen erzielen können.

Damit begann für uns auch ein Wettlauf gegen die Zeit, denn Studien lassen darauf schließen, dass früh ergriffene Maßnahmen, insbesondere vor dem fünften Lebensjahr, große Vorteile für Kinder im Spektrum haben können. Bodi war inzwischen viereinhalb.

Während ich zwar mein Bestes gab, um unserem Sohn zu helfen, wurden meine Bemühungen aber von der wilden Entschlossenheit, mit der Christine diese Herausforderung anpackte, in den Schatten gestellt. Sie verschlang Bücher, abonnierte Wissenschaftsjournale und besuchte Konferenzen. Schnell wurde sie so zu einer Expertin in Sachen Sozialtheorie und Verhaltensmodellierung.

Sie suchte professionelle Hilfe und fuhr unseren Sohn von Termin zu Termin. Ihr Laminiergerät arbeitete pausenlos, um für jeden Abschnitt von Bodis Tag visuelle Zeitpläne vorzubereiten – kleine Bilder mit Klettband auf der Rückseite teilten sein Leben in eine Reihe von separaten und machbaren Ereignissen ein. So klebten auf einem Klettbandstreifen im Badezimmer Schilder für 1. Toilette, 2. Hände waschen, 3. Gesicht waschen und 4. Zähne putzen. Wenn Bodi vor dem Schlafengehen alle Aufgaben erledigt hatte, klebte er die Quadrate nacheinander in die Erledigt-Spalte. Wir nutzten eine Fünf-Punkte-Skala, damit er sowohl den Lärm von außen als auch Emotionen von innen besser verstehen konnte und damit umgehen lernte. Wochenlang übten wir mit Bodi, jemanden zu begrüßen und zu verabschieden.

Das grundlegende Ziel, erklärte unser Familienberater, war, Bodi wie einen Ballon aufzublasen, immer und immer wieder –seine Grenzen also sanft zu erweitern, um ihn dann wieder einen kleinen Schritt zurückgehen zu lassen. Gleichzeitig wollten wir Bodi auf eine Gesellschaft vorbereiten, die ihn mit seinen Eigenheiten wahrscheinlich verunsichern und manchmal vielleicht sogar scharf verurteilen würde. In dieser zunehmend geschäftigen und abgelenkten Welt – ich bin der Erste, der zugibt, ein Paradebeispiel unserer Gegenwart zu sein – verlangt alles, was „anders“ ist, zusätzliche Aufmerksamkeit und ist somit eine potenzielle Zumutung oder ein Störfaktor. Die Folge ist, so meine Vermutung, dass wir uns am Homogenen gar nicht sattsehen können. Alles soll vorhersehbar sein, im Café, im Hotelzimmer und bei den Menschen um uns herum. Es kann die kollektiven Fähigkeiten einer Gesellschaft übersteigen, die nötige Zeit und Empathie aufzuwenden, um Differenzen zu überbrücken.

Aber in diesem Wirrwarr aus Therapiesitzungen, Selbsthilfegruppen, Behandlungen und Beratungen konnten wir unmöglich sagen, ob unsere Bemühungen Bodi geholfen haben. Alles, was wir tun konnten, war, alles zu tun.

Doch es gab etwas, was wir in den ersten Jahren nicht getan haben: nämlich Bodi seine Diagnose mitzuteilen. Unser Familienberater war der Meinung, dass er zu jung war, um zu begreifen, was damit einherging. Es sei besser zu warten, vielleicht bis zum siebten oder achten Lebensjahr.

Als unsere große Reise jedoch immer näher rückte, stellte uns die Anwesenheit der Fernsehcrew vor ein Dilemma. Sie würden sicherlich merken, dass an Bodi etwas anders war, und wir wollten, dass ein faires Bild von unserem Sohn gezeichnet wurde. Der Crew von seiner Diagnose zu erzählen, bedeutete allerdings, sie auch der Welt mitzuteilen. Mit dieser Entscheidung hatten wir schwer zu kämpfen.

Freunde und Verwandte bedrängten uns, Bodis Autismus geheim zu halten. Wir würden unserem Sohn einen Stempel verpassen, meinten sie, ihn zur Zielscheibe seiner Altersgenossen machen. Er solle selbst entscheiden, wann und wo er über seine Diagnose sprechen wolle, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben – wenn überhaupt.

Christine und ich hatten zunächst auch so gedacht, fingen in den Jahren nach Bodis Diagnose allerdings damit an, die Sache anders zu betrachten. Dabei lag unserem Denken eine simple Überzeugung zugrunde: Wir neigen dazu, Dinge zu verheimlichen, für die wir uns schämen. Und Bodi musste sich für nichts schämen. Warum es also geheim halten?

Seitdem wir die Anzeichen eines Spektrum-Verhaltens kannten, sahen Christine und ich überall Autismus-Symptome – im Kino, auf der Eislaufbahn, in der Schule. Überall um uns herum fielen Kinder und Erwachsene durch das Raster der „Normalität“. Wenn unsere Fernsehserie dabei helfen konnte, das Stigma von ASS aufzulockern, oder wenn sie zu mehr – oder sogar nur einer – Frühdiagnose führte, dann wäre es uns das wert.

Also erzählten wir Wes einen Monat vor der Abreise davon und erklärten, dass Bodi bestimmte Symptome zeige, unter anderem eine starre Denkweise, eine Vorliebe für Routinen und die Vermeidung von Augenkontakt. Ich erzählte ihm allerdings nicht von meiner Vermutung, dass eine Kameralinse für Bodi eventuell wie ein riesiges Auge aussah.

Am Tag nach dem Vorfall mit dem pinken Armband verließen wir Busan in einem Hochgeschwindigkeitszug in Richtung Seoul. Bodi saß neben mir und zeichnete detailgetreu die „Hanjin Ottawa“ in sein Tagebuch. Unterdessen flog die üppige grüne Halbinsel mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Kilometern pro Stunde an uns vorbei. Während er arbeitete, betrachtete ich liebevoll unseren Sohn, der gerne Sushi aß, dessen Lieblingsfarbe „funkelndes Lila“ war, und der mich eines Tages mit Sicherheit überragen würde.


Diese Bleistiftskizze, so wie alle anderen in diesem Buch, stammt aus Bodis Tagebuch.

Mit seiner Tiefgründigkeit, seinem Schwarz-Weiß-Denken und seiner schonungslosen Ehrlichkeit veränderte Bodi meinen Blick auf die Welt – auf positive Weise. Um es mit den brillanten Worten von Mary Temple Grandin, einer führenden Expertin für Autismus, zu sagen: Er war „anders, aber nicht weniger“. Mein einziger Wunsch war es, dass Christine und ich ihm dabei helfen konnten, seine Autismus-Spektrum-Diagnose nicht als Fluch, sondern eher als einen wichtigen Teil dessen zu begreifen, was ihn besonders machte.

Über den Wolken ist der Himmel immer blau

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