Читать книгу Über den Wolken ist der Himmel immer blau - Bruce Kirkby - Страница 8
LEINEN LOS
ОглавлениеKimberley
British Columbia
Wie ein Tiger, der sich an seine Beute anpirscht, schlich sich der dreijährige Taj vor Sonnenaufgang in unser Schlafzimmer. Lautlos bewegte er sich über den sonst knarzenden Boden. Dann setzte er zum Sprung an. Christines Schrei weckte Bodi auf, der daraufhin mucksmäuschenstill an der Tür erschien.
„Können wir unsere Fernsehzeit haben?“, bat er dringlich, und bezog sich dabei auf das 30-Minuten-Kontingent der beiden.
„Bi-itte!“, flehte Taj.
„Ihr wisst aber, das ist das letzte Mal, oder?“, fragte Christine. „Wir brechen in ein paar Stunden auf. Und ich will nichts hören, wenn es nachher Zeit ist, den Fernseher auszuschalten.“
„Okay, Mom. Danke.“
Christine schaltete den Fernseher ein, und die beiden machten es sich in unserem Bett bequem – zwischen ihnen erhob sich eine Art Gebirge aus Bettdecken, denn Bodi konnte Tajs Gezappel nur schwer ertragen. Als ich nach unten lief, um Kaffee zu machen, wurde mir klar, dass keiner der beiden eine Vorstellung von dem hatte, was vor uns lag. Wie auch?
Natürlich hatten Christine und ich die bevorstehende Reise mit ihnen besprochen, aber die zeitlichen und räumlichen Dimensionen lagen jenseits ihrer Vorstellungskraft. In den kommenden Monaten würden wir beide ihre einzige Orientierung sein.
Kurze Zeit später tauchte das Fernsehteam auf, mit Kaffee aus Pappbechern bewaffnet und frustriert, dass sie verpasst hatten, wie wir aufgestanden waren. Gemeinsam mit den ersten Rotkehlchen des Frühlings waren sie vor drei Tagen in Kimberley gelandet. Ihr Flug aus Los Angeles fiel mit dem Einsetzen der Schneeschmelze in den nahen Purcell Mountains zusammen. Sie waren jung und enthusiastisch – und zertrampelten die violetten Krokusse hinter unserem Haus, während sie rauchten und Wasser aus Plastikflaschen tranken. Die meisten hatte diese Reise nach Kanada zum ersten Mal ins Ausland geführt.
Die ganze Crew bestand aus für uns schockierend vielen Leuten – nämlich sechzehn an der Zahl: drei Kameramänner, zwei Tontechniker, vier Redakteure, zwei Produktionsassistenten, ein Datenmanager und vier, die weiß Gott was taten. Wes, ein junger Australier, war der Chef.
Obwohl er mit seinem gegelten Haar und dem schneidigen Outfit eher wie der Frontmann einer Boyband aussah, war er mir wirklich sympathisch, denn er strahlte echte Begeisterung aus.
Ich versammelte die Crewmitglieder in unserer Küche und legte jedem eine Khata um den Hals, einen traditionell buddhistischen Seidenschal, der im Himalaja bei Ankunft und Abreise überreicht wird. Die Schals hatten mir vor Jahrzehnten Sherpa-Gefährten auf dem Everest geschenkt. Damit hatten sie mir Glück und ein sicheres Vorankommen gewünscht, und in diesem Sinne gab ich sie nun weiter.
Danach wurden die schweren Kameras aufgestellt. Ein Tontechniker klebte uns schnurlose Mikrofone in die Innenseite unserer Hemden, während draußen eine Drohne wie ein riesiger Moskito von Fenster zu Fenster schwirrte.
„Tut einfach so, als ob wir nicht hier wären“, sagte Wes.
Im Ernst?
Bodi und Taj folgten diesen coolen Fernsehtypen auf Schritt und Tritt, fasziniert von ihren lässigen Mützen und ihren Chucks. Christine und ich waren zu beschäftigt, um dem Ganzen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wir widmeten uns schnell wieder den Listen, mit denen wir unsere Handflächen und Unterarme vollgeschrieben hatten: Es ging um unsere Ausrüstung für die Reise, die an der Hintertür unseres Zuhauses in Kimberley beginnen und uns in den Norden bis in den Polarkreis hinein, durch das subtropische Asien und schließlich hoch in den Himalaja bringen sollte.
Unsere Packstrategie war simpel. Wenn wir alles, was wir brauchten, in zwei riesige Seesäcke stopften, könnte ich beide tragen – einen auf dem Rücken und einen auf den Armen. So hätte Christine ihre Hände für die Kinder frei, und wir könnten uns durch jede Situation navigieren, die auf unserer Reise zu erwarten war: Bahnhöfe, Märkte, geschäftige Straßen und überlaufene Hostels.
Zwei Stunden später, nachdem wir die Füße der Jungs in winzige Wanderschuhe gequetscht hatten, bugsierte Christine sie zur Hintertür hinaus. Bevor ich die Tür abschloss, war meine letzte Tat, das iPhone auszuschalten und es in einer der Küchenschubladen zu versenken.
Jeder, der mir in den nächsten sechs Monaten eine E-Mail schreiben würde, bekäme diese automatische Antwort: Im November zurück. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.
Unter unseren Füßen knirschte der Frost, und eine dünne Decke aus spätem Schnee bedeckte die beiden auf unseren rostigen Pick-up geschnallten Kanus. Nach einer Stunde Autofahrt erreichten wir den Oberlauf des Columbia River, wo ich aus zwei jungen Bäumchen Spieren machte, um damit die beiden Kanus zu einem stabilen Katamaran zu verbinden. Als wir die Kanus beladen und unsere Schwimmwesten angezogen hatten, brannte die junge Maisonne auf uns herunter.
„Indien, zehn Kilometer!“, verkündete Taj und reckte seinen Arm gen Himmel.
„Gibt es da unten auch Fische?“, fragte Bodi und schielte über das Dollbord, während ich versuchte, Sonnencreme auf seinen Wangen zu verteilen.
„Regenbogenforellen?“, mutmaßte Christine.
„Oh, ja!“, rief Bodi, sprang auf und schnappte sich seine Angel. „Heute Abend essen wir Regenbogenforelle.“
Wir paddelten gen Norden, dem trägen Fluss durch sumpfige Gebiete folgend. Akustisch wurden wir von dem Gesang der Rotschulterstärlinge begleitet, hier und da unterbrochen von dem knallartigen Aufklatschen eines Biberschwanzes. Die Fernsehcrew umkreiste uns in Motorbooten. Wie Hunde, die einen Park zum ersten Mal betraten, beschnupperten wir uns noch und loteten unsere Grenzen aus.
Christine wühlte in ihrer Tasche, reichte den Kindern Wasserflaschen und forderte sie zum Trinken auf. Ihren Wunsch ignorierend, nahm Bodi sein kleines Paddel und spritzte damit im Wasser herum. Taj schwang seine Angel hin und her und zog den Köder – ohne Haken – rasselnd über Bootsrumpf und Köpfe.
Nach der Mittagspause tauchten am Horizont Gewitterwolken auf und die Motorboote kamen schnell zu uns herangefahren. Kameras wurden geschultert, und eine der TV-Redakteurinnen setzte zu einem Spontaninterview an, wie es beim Fernsehen so schön heißt.
„Blitze!“, stieg sie in besorgtem Ton ein. „Sind die Kinder in Gefahr?“
Ich tat mich schwer damit, ernsthaft beunruhigt zu sein – wegen einer Handvoll dunkler Wolken in der Ferne –, aber die offensichtliche Besorgnis der Redakteurin löste bei Bodi Panik aus. Christine versuchte, ihn zu beruhigen. Taj schwang seine Angel, und ich paddelte schweigend voran. Unterdessen liefen die Kameras weiter.
An diesem Abend schlugen wir unser Zelt auf einem langen Sandstrand auf, den der Fluss bei niedrigem Wasserstrand freigab. Nachdem sie uns dabei gefilmt hatten, wie wir uns über einem Feuer aus Treibholz Pasta zum Abendessen kochten, machte sich die Filmcrew mit ihren Motorbooten in Richtung eines Motels davon. In der plötzlichen Stille – nachdem sie weg waren – bauten Christine und ich das Zelt auf. Vom indigoblauen Himmel hörten wir die Sterne flüstern. Wir putzten den Jungen gerade die Zähne, als es in der Nähe aufheulte.
„Wölfe!“, flüsterte Christine. „Sie segnen unsere Reise.“
„Scheiße!“, rief Bodi.
„Scheiße sagt man nicht, Bodi“, sagte Taj, fest an Christines Bein geklammert.
Das Rudel lief nah an unserem Zelt vorbei, wie Geister glitten sie zwischen den Erlen hindurch. Das flüchtige Auftauchen eines canis lupus hatte ich schon immer als gutes Omen betrachtet, etwa so, wie wenn man einen herzförmigen Stein findet oder das Nordlicht sieht. Also nickte ich dankbar in Richtung der vorbeiziehenden Schatten.
Nach fünf Tagen auf dem Columbia River erreichten wir die Holzfällerstadt Golden, wo wir die Kanus einlagerten, unsere Seesäcke zur transkanadischen Bahn schleppten und einen Zug in Richtung Küste bestiegen.
In Vancouver brachte uns ein Taxi zum Industriehafen, wir reihten uns ein in eine Schlange aus 18-rädrigen Lastwagen, die Frachtcontainer transportierten. Christine schluckte, als sie den schwarzen Rumpf der „Hanjin Ottawa“ erblickte – drei Fußballfelder lang und mehr als zehn Stockwerke hoch – und trotzdem war sie nach heutigen Maßstäben recht klein. Dieses Schiff würde 5000 Container – und uns – über den Pazifik bringen.
Am anderen Ende einer beängstigend langen Gangway wartete ein kleiner Mann in hellbrauner Uniform und mit orangefarbenem Schutzhelm auf uns. Vier goldene Balken zierten seine Schulterklappen.
„Gott sei Dank sind Sie keine Schweizer“, bellte er. „Heutzutage sind es meistens Schweizer, die per Containerschiff reisen. Aber Kanadier sind nicht ganz so pingelig, oder?“
Über seine Lesebrille hinweg schaute er uns prüfend an und stellte sich als Kapitän Huth vor, bestand aber im selben Atemzug darauf, dass wir ihn stattdessen mit dem deutschen Titel „Kapitän Klugscheißer“ anreden sollten. Er hielt inne, um unseren Söhnen die Hand zu schütteln, und fügte hinzu: „Ich glaube, hier haben wir noch zwei Klugscheißer, oder?“ Dann winkte er uns mit einer knappen Willkommensgeste die Gangway hinauf.
Nur vier Mitglieder der Fernsehcrew (zwei Kameramänner, ein Tontechniker und ein Redakteur) würden uns begleiten. Wes und die anderen wollten mit dem Flugzeug über den Pazifik fliegen und uns in zwei Wochen in Busan, Südkorea, treffen.
Als wir an Bord gingen, stieß einer der Kameramänner einen Pfiff aus, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Klugscheißer war außer sich. „Die einzigen Dinge, die an Bord dieses Schiffes pfeifen dürfen, sind der Wind und ich“, schimpfte er. Unter Seeleuten gilt Pfeifen als unheilvoll, denn es soll den Wind drehen, und außerdem munkelt man, es sei das Signal gewesen, mit dem die Meuterei auf der Bounty ihren Anfang nahm. Der Kameramann versprach also, nicht mehr zu pfeifen, solange er sich auf dem Boot befand.
„Das ist kein Boot“, brüllte Klugscheißer. „Es ist ein Schiff!“
Ein Aufzug brachte uns auf Ebene 6 des Überbaus, an eine Tür, auf der „Kajüte des Eigentümers“ stand. Christines Augen leuchteten, als sich die Tür öffnete und eine Suite mit Teppichboden, Sofas, Holzvertäfelung und gedämpftem Licht zu sehen war.
„Einen solchen Luxus habe ich nicht erwartet“, gab sie zu. „Ich dachte irgendwie immer, dass wir auf harten Pritschen schlafen würden. In einem feuchten Kielraum oder so. Voller Ratten.“
Am nächsten Morgen legte die „Hanjin Ottawa“ ab. Bugstrahlruder stießen den turmhohen Rumpf von der Anlegestelle ab, dann schwang sich der riesige Zehnzylindermotor des Schiffes – der eine Kleinstadt mit Strom hätte versorgen können – in einen tiefen, donnernden Rhythmus ein, der bis zu unserer Ankunft in Asien unverändert bleiben würde.
Ein paar Stunden später pflügten wir an der Stadt Victoria vorbei, und ein kleines Schnellboot legte längs der „Hanjin“ an. Eine Strickleiter wurde heruntergelassen und ein Mann in Marineuniform, der Hafenlotse, tauchte neben uns auf dem Deck auf. Nachdem er unseren Söhnen zum Abschied die Haare verwuschelt hatte, schwang er sich über die Reling, kletterte ein Stück herunter und federte sich mit den Füßen am Rumpf ab, während das Schiff weiterstampfte. Schließlich sprang er mit einem Manöver, das eines James Bond würdig gewesen wäre, in das wartende Schnellboot und jagte davon.
Kurz darauf verschwand das Land hinter uns. Und es wurde kälter. Meer, Himmel, Nebel und Wellen verschmolzen ineinander, und wir tauchten in ein Kaleidoskop von Grün und Blau ein.
Zehn Jahre zuvor waren Christine und ich nach Kimberley gezogen, eine schläfrige Kleinstadt mit nur einer Ampel, im Herzen der Interior Mountains in der Provinz British Columbia, wo man noch mit Kaminholz heizt und Gefrierschränke mit Elchfleisch befüllt. Wir kauften ein heruntergekommenes Bergarbeiterhaus, fuhren einen rostigen Pick-up und sorgten nicht für das Alter vor. Geld spielte in unserem Leben keine zentrale Rolle, und ganz bestimmt waren wir nicht reich – zumindest nicht in den Augen unseres Steuerberaters.
Nachdem ich, noch ein paar Jahre zuvor, 1990 meinen Abschluss in Technischer Physik gemacht hatte, kündigte ich nach nur vier Monaten meinen Job als Datenbankprogrammierer. Es war ungleich befriedigender, Schlauchboote durch die wilden Untiefen des nahen Ottawa River zu lenken. Dass ich auf diese Weise 95 Prozent meines Einkommens einbüßte, kümmerte mich nicht.
Es folgten herrliche, sorgenfreie Sommer in der Arktis, in denen ich Kanuausflüge und Raftingtouren auf den Flüssen des hohen Nordens leitete. Im Winter paddelte ich an den Küsten der Karibik entlang, fuhr Ski in den Alpen und radelte durch Asien. Nach und nach nahmen meine Expeditionen dann immer größere Ausmaße an: Auf einem Kamel durchquerte ich die arabische Wüste, fuhr in einem Raft durch die Schlucht des Blauen Nils in Äthiopien und begleitete ein kanadisches Team auf den Everest, wobei ich dafür zuständig war, Satelliten-Updates an die Sponsoren zu senden.
Als ich beschloss, ein Buch über diese Reisen zu schreiben, schien das ein zweifelhaftes Unterfangen zu sein, da ich in der Schule nicht nur in Englisch, sondern auch im Maschinenschreiben eher schlecht gewesen war. Doch ein Verlag kaufte das Manuskript, Lektoren feilten mit mir an meinen Sätzen, Kritiker lobten das Buch, und zu meiner Überraschung wurde es tatsächlich gelesen. Ein paar Jahre später schrieb ich ein zweites. Schon bald schickten mich Zeitschriften ins Ausland. Ich begann, eine wöchentliche Reisekolumne für die Tageszeitung „The Globe and Mail“ zu schreiben. Jeden Sommer kehrte ich als Guide in die Arktis zurück, ansonsten floss nur in unregelmäßigen Abständen Geld, mein Einkommen war unsicher. Selten wusste ich, woher das Geld zum Leben als Nächstes kommen würde – und es war mir, ehrlich gesagt, auch egal. Ich war glücklich.
1999 traf ich Christine in einem Fitnessstudio in Calgary, wo sie als Personal Trainer arbeitete. In einer kleinen Präriestadt, von einem Schweißer und einer Rodeo-Queen aufgezogen, war sie eine außergewöhnlich talentierte Athletin, was sie auch bei unseren ersten Dates unter Beweis stellte, indem sie mich in Grund und Boden joggte. Trotz gänzlich unterschiedlicher Kindheiten – in ihrer hatte es Schneemobilrennen, Muscle Cars, Industriebrot und Frühstücksfleisch gegeben, in meiner dagegen eine Mutter, die Alfalfasprossen auf der Fensterbank zog und einen Vater, der als Nuklearphysiker arbeitete – war es klar, dass uns beiden Erfahrungen wichtiger waren als Geld. Von Anfang an war es einfach, mit ihr zusammen zu sein.
Bevor wir uns trafen, war Christine viel gereist, als Backpackerin durch Australien, auf die Fidschi-Inseln, nach Europa und Nepal. Und obwohl sie noch nie in einem Zelt geschlafen hatte, ließ sie sich von unserem ersten Ausflug nicht abschrecken: eine 24-tägige Seekajaktour entlang der Westküste Kanadas. Es folgten immer abenteuerlichere Reisen: Wir wanderten vierzig Tage von einer Küste Islands zur anderen, ritten zwei Monate durch die mongolische Steppe (für uns beide das erste Mal auf einem Pferd), schipperten in einem Faltkajak entlang der Nordküste Borneos, erforschten die Regenwaldinseln in Myanmars Mergui-Archipel (wo man uns für kurze Zeit sogar ins Gefängnis warf) und paddelten drei Monate lang durch die mit majestätischen Eisbergen übersäten Fjorde der schroffen Ostküste Grönlands.
Viele bezeichneten es als unfair von mir, Christine auf solche Reisen mitzuschleppen.
Oder sie haben mir zu verstehen gegeben, was ich doch für ein Glückspilz sei, eine Partnerin gefunden zu haben, die meine „Urlaube“ aushielt. Dahinter steckte die ziemlich beleidigende Unterstellung, dass Christine sich niemals aus freien Stücken in die Wildnis aufgemacht hätte.
Sie ging mit einer bemerkenswerten Bescheidenheit an unsere Reisen heran. Ganz im Gegensatz zu der Angeberei und dem Gehabe, das Outdoorsportler heutzutage oft an den Tag legen, schienen unsere Touren für Christine keine große Sache zu sein. Wenn ich mitbekam, wie sie ihren Freunden von einer Reise erzählte, klang es eher so, als hätten wir im Garten gezeltet. Für mich war klar, dass sie sich aus einem ganz simplen Grund in die Wildnis wagte: Sie liebte es einfach, dort draußen zu sein.
Und dafür liebte ich sie umso mehr.
Die Vorstellung, mit unseren Söhnen in einem buddhistischen Kloster im Himalaja zu leben, hatte schon seit Jahren in unseren Köpfen herumgespukt – das war ein vager Plan, ein Luftschloss, das Christine und ich aus verschiedenen Perspektiven betrachteten.
Christine war eine von Natur aus spirituelle Frau – schon seit Langem meditierte sie und machte Yoga. Ihr Interesse reichte von Parapsychologie und Wahrsagerei über Schamanen und Auren bis hin zu den gesundheitsschädlichen Folgen eines rückläufigen Merkur – alles Konzepte, die mein wissenschaftliches Gemüt eher beunruhigten. Hermann Hesses „Siddhartha“ war in der Mittelstufe ihr Lieblingsbuch gewesen. Ihren Nachttisch zierten Kristalle und Traumfänger. Nicht selten besuchte sie Aschrams und Yoga-Schweige-Retreats. Wenn die Wochenendausgabe der Zeitung kam, blätterte sie als Erstes auf die Seite mit den Horoskopen.
Ich wiederum war schon immer ein Skeptiker gewesen, der sich reflexartig gegen alles stemmte, was Übersinnliches betraf. Meine geistige Nahrung bestand aus datenbasierten Artikeln, die von Fachkollegen geprüft worden und in wissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen waren. Manchmal wünschte ich mir, Christines bedingungslosen Glauben an das Unerklärliche zu teilen, da es mir ein Gefühl von Unzulänglichkeit gab, mich nicht „gehen lassen“ zu können. Aber insgeheim wusste ich, dass ich es einfach nicht verstand. Abgesehen davon, dass mich manchmal das Gefühl von etwas Göttlichem überkam, wenn ich die Wunder der Natur bestaunte, blieb ich ein überzeugter Ungläubiger.
In Sachen Spiritualität tat sich zwischen Christine und mir also ein Abgrund auf, und hin und wieder stritten wir uns auch deswegen. Ich behauptete, Wiedergeburt sei nicht einfach nur unwahrscheinlich, sondern völlig unlogisch. Im letzten Jahrhundert war die Weltbevölkerung um weitere fünf Milliarden Menschen gewachsen. Von wo sollten denn all diese neuen Seelen gekommen sein?
„Oh, Bruce. So funktioniert das nicht. Ich kann es nicht erklären, aber tief in mir drinnen weiß ich einfach, dass es wahr ist.“
Solche Diskussionen konnte man nicht gewinnen, und mit der Zeit lernten wir, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir unterschiedlicher Ansicht waren.
Interessanterweise stand ich dem tibetischen Buddhismus jedoch schon immer offen gegenüber. Während meiner zahlreichen Reisen in den Himalaja habe ich mich in der Gesellschaft von Nepals fröhlichen und kameradschaftlichen Sherpas, den berühmten Höhenträgern und Bergsteigern dieser tibetisch-buddhistischen Volksgruppe, immer sehr geborgen gefühlt. Anstatt herumzuschreien oder zu verzweifeln, wenn auf einer Expedition etwas schieflief – was unweigerlich passierte –, lachten die Sherpas und gingen weiter. Selbst angesichts schwierigster Situationen schien ihre Lebensfreude unverwüstlich. Egal mit welchem Geheimrezept sie auch brauten, ich wollte es kennenlernen.
Die Kernlehren des Buddhismus – Toleranz, Mitgefühl, das Streben nach Nichtanhaftung, ein Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Dinge – waren für mich im Grunde nichts anderes als gesunder Menschenverstand. Ganz unerwartet fühlte ich mich zum geistigen Oberhaupt des tibetischen Buddhismus hingezogen, dem äußerst populären vierzehnten Dalai Lama, dessen vergnügte Art mich entwaffnete und dessen grenzenloses Mitgefühl Demut in mir auslöste. In seinen Worten schwangen einfache Wahrheiten mit. „Wir brauchen keine Tempel. Wir brauchen keine komplizierte Philosophie. Unser eigenes Gehirn, unser eigenes Herz ist unser Tempel, und Freundlichkeit unsere Philosophie.“
Oft träumte ich davon, dass dieser alternde Mönch für ein politisches Amt kandidieren würde – sein Programm der Liebe und des praktischen Denkens würde ich sofort unterstützen.
Christine und ich waren also gespannt darauf – jeder auf seine Art –, mehr über diese Religion zu erfahren. Oder Philosophie. Oder was auch immer – denn ob es sich beim Buddhismus um eine Religion oder eine Philosophie handelt, ist umstritten. Für beide Sichtweisen gibt es überzeugende Argumente. Beide hatten wir nicht die Absicht, kleine Buddhisten aus unseren Söhnen zu machen. Aber wir glaubten, dass es ihnen nicht schaden könne, in das einfache Leben im Kloster einzutauchen. Möglicherweise würde es ihnen sogar ausgesprochen guttun.
Trotzdem blieb die Idee, alles stehen und liegen zu lassen, um in einem buddhistischen Kloster zu leben, eher ein ferner Traum. Etwas, was wir vielleicht irgendwann mal machen würden.
Bis zum Tag der Cheerio-Offenbarung.
Aber wohin im Himalaja sollten wir denn gehen? Und wie, zum Teufel, wollten wir es hinbekommen, in einem Kloster wohnen zu dürfen?
Christine und mich zog es nach Bhutan, das weithin dafür bekannt ist, das Bruttonationalglück dem Bruttoinlandsprodukt vorzuziehen. Vor einigen Jahren hatte mich eine Fotoreportage in dieses Land geführt, und ich war von seinen sanftmütigen Menschen und ihren fest verankerten Traditionen ganz bezaubert gewesen. Da es sich jedoch im Süden des Himalaja befindet, trifft Bhutan die volle Breitseite des Monsuns. Mein Interesse schwand, als ich von den dichten Wäldern erfuhr, die Trekking und Erkundungstouren erschwerten. Bei Christine genügten die Geschichten über aggressive Blutegel, um sie von Bhutan abzubringen.
Als Nächstes warfen wir unser Auge auf Tibet, den Ursprungsort des Himalaja-Buddhismus. Nach der Invasion Chinas vor etwa fünfzig Jahren werden Reisen in die Region noch immer streng reguliert, und Ausländer benötigen einen von der Regierung zugewiesenen Führer, wenn sie sich außerhalb der Hauptstadt Lhasa bewegen wollen. Es war klar, dass man es uns niemals erlauben würde, ohne Einschränkungen in einem Kloster zu leben.
Wir zogen auch die lebhaften indischen Bergstädtchen Sikkim und Darjeeling sowie Tibets alte Enklaven in Nepal, Mustang und Dolpo, in Betracht, aber nichts schien richtig zu passen.
Dann schlug ein alter Freund, der seit Jahrzehnten im Himalaja Berge besteigt, Ladakh vor. Normalerweise eher wortkarg, schwärmte er in höchsten Tönen von der uralten Kultur und den warmherzigen Einwohnern.
„Was aufrichtige Freundlichkeit angeht, können Ladakher sogar den Sherpas den Rang ablaufen“, erging er sich. „Sie bekommen 9,5 von 10 Punkten. Ehrlich. Da müsst ihr hin.“
Das war ein großes Lob für ein Land und seine Leute, von denen ich fast nichts wusste.
Ladakh – oder La dags auf Tibetisch, was „Land der hohen Pässe“ bedeutet – befindet sich im hohen Norden Indiens, am äußersten Rande des tibetischen Hochlands, eingezwängt zwischen den umstrittenen Grenzen von Pakistan und China. Die karge, abweisende Landschaft ist von bröckelnden Bergen, unablässigem Wind und einer unbarmherzigen Sonne geprägt – eine Wüste in Höhenlage, im Regenschatten des Himalaja.
Früher einmal eine verschlafene Karawanserei an der Route quer durch Zentralasien, wurde Ladakh 1947 nach der Teilung von Indien und Pakistan für ausländische Touristen abgeriegelt und öffnete erst 1974 wieder in Teilen seine Pforten.
Zwei hastig fertiggestellte Militärstraßen brachten erste Anzeichen von Veränderung in die Region. Die erste Straße, von Osten nach Westen verlaufend, verband die ladakhische Hauptstadt Leh mit der Hauptstadt Kaschmirs, Srinagar. Sie wurde 1963 in den Fels gehauen, nachdem man entdeckt hatte, dass sich chinesische Truppen bereits zehn Jahre zuvor über die nebligen Grenzen gestohlen und unbemerkt eine Infrastruktur auf indischem Boden errichtet hatten. Ein Akt, der verdeutlichte, wie weitläufig und unbevölkert der westliche Himalaja war. In den 1980ern baute man eine zweite Straße, vom Norden in den Süden, von Leh nach Manali, damit indische Truppen und Waffen schnell zu den sensiblen Grenzen gelangen konnten.
Mit den Straßen schlich sich unvermeidlich die Moderne ein – Traditionen gingen verloren und sozialer Zusammenhalt erodierte. Am stärksten traf es die Hauptstadt Leh, die heute jedes Jahr über eine Million Touristen beherbergt.
Weite Teile von Zentral-Ladakh sind jedoch weiterhin für Coca-Cola-Stände und abgasreiche Laster unerreichbar, und als ich die Karten studierte, entdeckte ich zum ersten Mal Zanskar. Jahrhundertelang war dieses entlegene Tal – eingebettet zwischen dem Großen Himalaja und der Bergkette von Zanskar – dafür bekannt, dass es nur schwer zu erreichen war. Und noch heute lebt man dort in relativer Abgeschiedenheit.
Im Jahr 1976 wurde ein Feldweg über den Pensi-La-Pass geebnet, der dem Tal die Vorboten der Moderne und ganze Wellen neugieriger Touristen bescherte. Aber da er sich in der Nähe der pakistanischen Grenze befindet, ist der Pfad nur schwer zu erreichen und sechs Monate im Jahr vom Schnee versperrt.
Es ist die Heimat von rund 15 000 Seelen, die auf vierzig kleine Dörfer und ein Dutzend Klöster verteilt leben – eine uralte Agrargesellschaft, die Jahretausende lang fast unverändert überdauert hat.
Zufälligerweise waren Freunde aus Kimberley vor Kurzem erst von einer Trekkingtour in der Region zurückgekehrt. Da sie unterwegs von einem ungewöhnlich starken Schneesturm überrascht worden waren, hatten sie Zuflucht im Karsha Gompa gesucht, dem größten buddhistischen Kloster in Zanskar.
Gom ist das tibetische Wort für „Meditation“, und gompa bezeichnet einen Ort der Meditation. Heutzutage benutzen Reisende diesen Begriff für jede Form von buddhistischem Kloster, allerdings versteht man darunter eigentlich eine befestigte buddhistische Klosteranlage.
Der oberste Lama des Klosters hatte die beiden aufgenommen, ihnen Kost, Logis und Unmengen an Tee angeboten, und als Gegenleistung sollten sie eine Woche lang Schnee schaufeln. Zwischen den Begriffen „Mönch“ und „Lama“ wird in Zanskar – und in diesem Buch – nicht unterschieden, obwohl es gewiss subtile Bedeutungsabweichungen gibt. Ein Mönch ist jemand, der religiöse Askese praktiziert, wohingegen ein Lama, der im Sanskrit guru heißt, ein buddhistischer Lehrer mit größeren spirituellen Errungenschaften ist.
„Oh, er fände es bestimmt großartig, wenn ihr zu Besuch kämt“, versprachen unsere Freunde.
Aber da es keine Telefone oder Internet im Kloster gab, wie sollten wir anfragen?
Wir machten den Neffen des Lamas ausfindig, der in Südindien studierte, und erkundigten uns bei ihm, ob wir seinen Onkel besuchen, vielleicht für ein paar Monate bleiben und Englisch unterrichten könnten.
Wochen später erreichte uns diese kryptische Antwort: Sehr großzügigerweise. Probleme gibt es keine.
Und jetzt gibt es da noch die Fernsehcrew zu erklären.
Ein paar Jahre vor Bodis Geburt kehrte Christine an die Universität zurück. Sie machte zunächst einen Master in Beratungspsychologie und promovierte im Anschluss daran. Bei der Verteidigung ihrer Arbeit war sie mit Taj schwanger. Sie empfing ein paar Patienten in einer Privatpraxis, aber den Großteil ihrer Energie widmete sie unseren Kindern – eine gemeinsame Entscheidung, die ich mit ganzem Herzen unterstützte.
Das bedeutete aber auch, dass mein sporadisches Einkommen vier Münder zu stopfen hatte. Ich ging also jeder Möglichkeit nach und sagte zu allem Ja, egal, wie unqualifiziert ich sein mochte. Ich vertraute darauf, dass sich die Details später schon klären ließen.
Seit einigen Jahren stand ich in Kontakt mit einem ehrgeizigen, jungen Fernsehproduzenten, einem Australier, dem ich regelmäßig Ideen für eine Abenteuer-Fernsehserie zuspielte. Zwar schien nichts jemals richtig zu passen, aber wir blieben in Kontakt.
Kurz nachdem wir angefangen hatten, unsere Reise zu planen, rief mich Wes an. Ich fiel ihm mit meiner Entschuldigung ins Wort, dass ich für den Rest des Jahres weg sei, da ich mit meiner Familie in den Himalaja reisen und dort unter buddhistischen Mönchen in einem abgelegenen Kloster leben wolle. Ich versprach, mich sofort nach meiner Rückkehr bei ihm zu melden, um weitere Ideen zu besprechen. Eine lange Pause auf der anderen Seite folgte.
„Warte mal, mate. Vielleicht ist es das? Die ultimative Familienumsiedlung!“
Nachdem er die Serie schnell skizziert hatte, brachte er den Vorschlag unter Fernsehprogrammdirektoren in Los Angeles in Umlauf. Nachdem ich schon einige Fernseh-Pitches hatte scheitern sehen, hielt ich das Ganze für utopisch und kümmerte mich weiter um die Vorbereitungen: die Kinder impfen lassen, Visa beantragen, packen und nochmal leichter packen.
Eines Abends, nur wenige Monate vor unserer Abreise, klingelte zu später Stunde das Telefon. Es war Wes.
„Setz dich mal besser hin, Großer. Der Travel Channel findet die Idee super. Ich glaube, wir bekommen grünes Licht.“
Vor meinen Augen tat sich ein Meer an Möglichkeiten auf. Was meiner Familie mit einer solchen Produktion zugemutet werden würde, bedachte ich dabei nicht. Christine reagierte verhalten auf die Idee. Sie befürchtete, dass das Fernsehteam genau die Ruhe, die wir suchten, zerstören würde. Ich argumentierte, dass wir immer noch alle digitalen Verbindungen kappen und unseren Zusammenhalt als Familie stärken konnten – trotz der Kameras um uns herum. Und vor allem hatte Wes versprochen, dass man uns von dem Augenblick an in Ruhe lassen würde, in dem wir das Kloster erreichten.
Letztlich war es, wie so häufig, das Geld, das den Ausschlag gab. Mit den Produktionshonoraren könnten wir während der Reise unsere Rechnungen begleichen. Also sagten wir mit einer Mischung aus Beklommenheit, Aufregung und etwas Widerwillen zu.
In der Hoffnung, eine überzogene Realityshow zu vermeiden, schlug ich vor, nur einen einzigen Kameramann einzusetzen und ihn so in unsere „Reisefamilie“ zu integrieren, dass er unsere Erfahrungen auf ungeschminkte, authentische Weise einfangen könnte.
„Tut mir leid, mate, aber der Sender hat da eine andere Vorstellung“, erklärte Wes. „Sie sind auf der Suche nach einem Kinoerlebnis. Es wird eine Fernsehcrew aus sechzehn Leuten, mindestens. Sogar Helikopter sind im Budget. Das wird episch, mein Freund. Episch!“
Zum ersten Mal beschlich mich das Gefühl, dass wir uns etwas übernommen hatten.
Die „Hanjin Ottawa“ machte einen großen Bogen auf ihrer Reise über den Pazifik und hinein in den Polarkreis, sie folgte dabei den gleichen Routen, die auch Flugzeuge einschlagen: nach Norden an Alaska und der Inselkette der Aleuten vorbei, durch stahlgraues arktisches Gewässer, dann gen Süden hinunter bis zur russischen Halbinsel Kamtschatka und weiter in Richtung der geschäftigen Häfen Asiens. An Bord befanden sich zweiunddreißig Seelen: acht deutsche Offiziere, sechzehn philippinische Matrosen, vier Fernsehcrewmitglieder und wir. Wir alle sahen uns zwei Giganten gegenüber: dem unendlichen Ozean und einem Übermaß an Zeit.
Die Zeit wurde durch ein straffes Programm gezähmt.
Frühstück gab es um Punkt 7 Uhr 30, dann eine Teepause um 10 Uhr, Mittagessen um 12 Uhr, Nachmittagstee um 15 Uhr und schließlich Abendessen um 17 Uhr 30. Die Offiziere aßen europäisches Essen in der einen Messe, den Matrosen servierte man asiatisches Essen in der anderen. Wir gingen mal hierin und mal dorthin. Bodi, der großen Wert auf Pünktlichkeit legte, blühte angesichts dieses strengen Marineprotokolls geradezu auf.
Nur zu gern hätte ich den Rest des Tages damit verbracht, in einem der Deckstühle zu liegen und die wechselhaften Farben und Launen des Ozeans zu betrachten. Aber das war mit zwei Jungen, die ständig Aufmerksamkeit brauchten, nicht möglich. Also entwickelten auch wir einen strengen Tagesablauf.
Jeden Morgen nach dem Frühstück legten wir Rettungswesten an und liefen einmal das gesamte Schiff ab, eine Tour von mehr als einem Kilometer. Zwischendurch spielten wir auf dem ausladenden Bug Verstecken. Danach gingen wir in den Karaokeraum, wo die Filipinos, die gerade freihatten, Bodi ausgelassen zujubelten, während er südkoreanische Pophymnen schmetterte. Nach dem Mittagessen lasen wir den Jungen Geschichten vor. Dann, wenn die beiden in ihre Tagebücher malten, machten Christine und ich abwechselnd für eine Stunde Sport. Entweder liefen wir auf dem Schiff Runden oder gingen in den kleinen Gymnastikraum, wo es Gewichte, einen Boxsack und eine Tischtennisplatte gab.
Der Swimmingpool auf dem Schiff war leer – das Meerwasser in nördlichen Breitengraden ist unfassbar kalt –, aber die Sauna funktionierte und wir nutzten sie regelmäßig. In einem kleinen Kino gab es Videokassetten mit Filmen aus den Achtzigerjahren. Die Regale der Bibliothek bogen sich unter Wälzern über die Schifffahrt. In der Vorratskammer gab es Wein und Bier, doch sie war verschlossen und Klugscheißer besaß den einzigen Schlüssel.
Wenige Tage bevor wir aufgebrochen waren, hatten wir unser erstes Familien-iPad gekauft. Es war ein Zugeständnis an unsere Kinder, damit sie sich in den unzähligen Stunden in Zügen, Bussen und Autos die Zeit vertreiben konnten. Voller Optimismus hatten wir viele Lernspiele heruntergeladen, mit denen man Rechnen, Schreiben sowie soziale Fähigkeiten trainieren konnte. Aber innerhalb weniger Tage hatte die TV-Crew unsere Jungs mit zahlreichen anderen Möglichkeiten vertraut gemacht, die so ein Gerät zu bieten hatte: „Fruit Ninja“, „Cartoon Wars“ und „Pflanzen gegen Zombies“. Widerstand erwies sich als zwecklos.
Die Versuchung, das Tablet auf der „Hanjin“ als eine Art Reiseberuhigungsmittel für Kinder zu nutzen und so die endlosen Stunden zu füllen, war zwar groß, aber angetrieben aus einer Mischung aus Schuldgefühlen und Prinzipienreiterei bestanden Christine und ich auch weiterhin auf der beschränkten Bildschirmzeit von dreißig Minuten pro Tag. Das hinderte unsere zwei jungen Verhandlungsführer natürlich nicht daran, uns ununterbrochen zu bearbeiten, um ein längeres Pensum herauszuschlagen. Und schon bald hatte es den Anschein, als drehte sich ihr ganzer Tag um dieses teuflische Gerät – eine Sucht, die mich unbehaglich an meine eigene Beziehung zum Smartphone denken ließ.
Nach einer Woche auf See wurde ein Schwein auf einem großen Metallstab aufgespießt, mit Zitronengras gefüllt und dann über einem Kohlebett geröstet. Die Matrosen wechselten sich dabei ab, das röstende Tier per Hand zu drehen.
„Ich freu mich schon so auf das Schwein, das wir gleich essen“, Taj klatschte in die Hände und sah zu.
An diesem Abend hingen bunte Lichter auf einem der oberen Decks und daneben die Flaggen all der an Bord der „Hanjin“ vertretenen Nationalitäten: philippinisch, polnisch, deutsch, tschechisch und kanadisch. Feierlich machte Klugscheißer den Anschnitt, dann wurde serviert. Kästen voller San-Miguel-Bier tauchten auf, und aus den Lautsprechern ertönte dumpf und blechern Housemusik. Ermutigt von den Zurufen der Schiffscrew tanzten unsere Söhne ausgelassen über das Deck.
Trotz dieser schönen Momente war ich mir jederzeit darüber im Klaren, dass wir in dieser industriellen Umgebung Eindringlinge waren. Vor dem Maschinenraum hingen Reihen von fettverschmierten Schraubenschlüsseln, so groß wie Pferdebeine. Sobald sich das Schiff nur ein bisschen neigte, ächzten die riesigen Container. Dampf zischte aus versteckten Abzügen, schwere Türen wurden zugeknallt – und unsere zarten Jungs tänzelten mittendurch.
Die Relings an Deck machten mir und Christine die größten Sorgen, denn sie waren das Einzige, was sich zwischen unseren Söhnen und dem Abgrund befand. Dafür entworfen, einen ausgewachsenen Mann vor einem Sturz über Bord zu bewahren, sah es so aus, als könnten Bodi oder Taj leicht durch die weit auseinanderstehenden Stangen der Reling rutschen. Und in diesem Fall gäbe es kaum Überlebenschancen.
„Das darf niemals passieren“, antwortete Klugscheißer, als ich ihn fragte, ob er es in seinen Jahrzehnten auf See schon einmal erlebt habe, dass jemand über Bord gegangen war.
Die „Hanjin Ottawa“ sei mit einundzwanzig Knoten (achtunddreißig Kilometern pro Stunde) unterwegs, erklärte er, und brauche neun Minuten, um die Geschwindigkeit zu drosseln und umzudrehen. Dann wäre sogar ein großes Rettungsboot bereits außer Sichtweite. Eine im eiskalten Wasser des Nordpazifik treibende Person wäre für immer verloren.
Also bestanden wir darauf, dass die Kinder jedes Mal Rettungswesten anlegten, wenn sie durch die Sturmtüren zu den Außendecks gingen – nicht unbedingt, weil sie sie an der Wasseroberfläche halten würden, sondern der Greifschlaufen an ihren Kragen wegen, die Christine und ich niemals außerhalb unserer Reichweite ließen.
Nach zwölf Tagen auf See zog ein Orkan auf, und die Vulkangipfel der russischen Halbinsel Kamtschatka wurden schwankend am Horizont sichtbar. Beißender Wind peitschte die Gischt über das schwarze Wasser. Container rissen an ihren Befestigungen. Gurtschnallen protestierten lautstark. Ein Schwarm aus Sturmtauchern und Sturmschwalben suchte im Windschatten des Überbaus Zuflucht. In der Messe schwang ein Wandkalender wie eine Pendeluhr hin und her.
Am Nachmittag rief ein schriller Probealarm zum Verlassen des Schiffes auf und wir beeilten uns, um uns der Crew auf dem regengepeitschten Deck anzuschließen. Der Erste Offizier bellte zum Appell. Einunddreißig von zweiunddreißig Seelen antworteten „Aye“. Nur Klugscheißer fehlte. Nach alter Seefahrtstradition blieb er auf der Brücke. Er wäre im Katastrophenfall der letzte, der das Schiff verließ – wenn überhaupt.
Dann öffnete der Erste Offizier eine orangefarbene Rettungskapsel (nicht größer als ein Ruderboot) und alle stapelten sich hinein. Bodi stieg als Erster ein und klagte bitterlich über die abgestandene Luft. Taj folgte mit großen Augen. Das Letzte, was ich sah, bevor ich mich hineinduckte, war das auf das Dach schablonierte Rufzeichen der „Hanjin“, dass sich auch als falschgeschriebene ironische Botschaft lesen ließ: DANM.
An diesem Abend tauchte Klugscheißer an unserer Kabinentür auf. Müde wies er uns an, uns in dieser Nacht quer ins Bett zu legen. „So fallen Sie nicht aus dem Bett, wenn das Schiff stark stampft.“
Als ich später in der Dunkelheit Tajs sanftem Schnarchen lauschte, während draußen der Sturm tobte, fragte ich mich, ob der Kapitän mehr wusste als wir.
Als sich der gigantische Anker der „Hanjin“ aus seiner Winde schälte, wachte ich auf. Ich warf einen Blick aus unserer Luke und sah eine vollkommen ruhige See. Nicht weit entfernt hob sich eine grasbedeckte Landspitze von dem schwarzen Gewässer ab. Grün! Nach zwei Wochen des eintönigen Blaus und Graus wirkte diese Farbe wie ein Elektroschock und erfüllte mich mit unerwarteter Freude. Leben, da war es wieder.
Ein Funkruf am späten Abend hatte den Kapitän zu einem Abstecher ins russische Nachodka veranlasst, wo Treibstoff zu stark vergünstigten Preisen zu bekommen war. Als Zollbeamte an Bord gingen, riet mir Klugscheißer, alle Wertsachen zu verstecken. Also stopfte ich einen Stapel 100-Dollar-Scheine hinter die Rohre in der Decke unserer Kajüte. (Wir hatten viertausend US-Dollar in bar dabei, mit denen wir unsere Zeit in Zanskar bestreiten wollten, einem Land fern aller Geldautomaten). Dank internationaler Seeabkommen müssen Schiffsmannschaften beim Einlaufen in einen Hafen keine Visa vorzeigen. Aber die Fernsehcrew und uns, die wir keine russischen Visa besaßen, brachte man in einem Schlepper an Land, nahm unsere Fingerabdrücke und ließ uns eine Strafe von sechshundert Dollar zahlen. Drei Tage später, mit vollem Bauch, tuckerte die Hanjin wieder zurück ins grenzenlose Blau.
An Tag siebzehn pflügten wir durch die dampfige Luft Asiens. Wir schälten uns aus unseren dicken Jacken und tauschten sie durch kurze Hosen und T-Shirts ein. Ein Reiher tauchte auf und schwang sich majestätisch in unsere Richtung. Krächzend landete er auf dem Überbau.
Wie ein außer Kontrolle geratenes Buschfeuer brannten die Lichter des modernen Korea bei Einbruch der Nacht in intensivem Orange am Horizont.