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Wie entsteht biologische Vielfalt?
Zusammenfassung
Genetische Vielfalt ist die Grundlage der Evolution. Sie ist Voraussetzung für die Bildung neuer Arten. In diesem Kapitel werden verschiedene Aspekte der genetischen Vielfalt vorgestellt und die Faktoren und Prozesse erläutert, die Veränderungen in der genetischen Vielfalt bewirken. Es wird gezeigt, wie Mutationen, natürliche Selektion und genetische Drift zu Veränderungen in den Genfrequenzen der Populationen beitragen. Der Begriff «Art» wird erklärt und die speziellen Bedingungen werden dargestellt, bei denen eine Artbildung möglich ist.
Genetische Vielfalt
Zwischen den Individuen einer Population bestehen meistens genetische Unterschiede (Primack 1995). Gene sind aus Nukleotiden aufgebaut. Miteinander verbunden bilden Nukleotide lange Ketten, die sogenannten DNA-Stränge, die viele Gene enthalten und aufgeknäuelt als Chromosomen sichtbar sind. Ein Gen kann mehrere Proteine kodieren. Die genetische Variabilität ist darauf zurückzuführen, dass einzelne Gene der Individuen sich geringfügig voneinander unterscheiden. Die unterschiedlichen Ausprägungen eines Gens werden als Allele bezeichnet. Verschiedene Allele können in Struktur und Funktion unterschiedliche Formen von Proteinen produzieren, welche die Entwicklung und Physiologie des Organismus unterschiedlich beeinflussen. So können verschiedene Allele am Gen «Gehäusefarbe» bei der Hain-Bänderschnecke (Cepaea nemoralis) gelbe, rosa oder braune Gehäuse bewirken.
Die genetische Variabilität ist bei Arten mit sexueller Fortpflanzung besonders hoch, weil jedes Individuum durch die Rekombination der Gene seiner Eltern eine einzigartige Gen- und Chromosomenkombination erhält. Bei der meiotischen Zellteilung werden während des Crossing-over Gene zwischen Chromosomen ausgetauscht, das Erbgut wird umgeordnet und es entstehen neue Genkombinationen, wenn die |10◄ ►11| Keimzellen der Eltern sich zu einem genetisch einzigartigen Nachkommen vereinigen. Zwar liefern Mutationen das Ausgangsmaterial für die genetische Variabilität, aber die Fähigkeit von Arten mit sexueller Fortpflanzung, Allele nach dem Zufallsprinzip neu zu kombinieren, erhöht das Potenzial für genetische Variabilität enorm.
Die Gesamtheit der Allele einer Population wird als deren Genpool bezeichnet, die konkrete Allelkombination eines Individuums als dessen Genotyp. Als Phänotyp des Individuums werden seine morphologischen, anatomischen, physiologischen und biochemischen Eigenschaften bezeichnet, die sich aus der Ausprägung seines Genotyps unter bestimmten Umweltbedingungen ergeben.
Genetische Vielfalt ist sichtbar, wenn morphologische Eigenschaften genetisch festgelegt sind und Individuen in diesen Eigenschaften variieren, beispielsweise die Gefiederfarbe bei Wellensittichen. Viele morphologische Eigenschaften sind aber nicht vollständig durch Gene determiniert, sondern sind das Ergebnis der Wechselwirkung von Genen und Umwelt. Ähnlich wie bei der sichtbaren morphologischen Variation gibt es auch genetisch festgelegte Variation in Verhaltensweisen. Einige Schmetterlingsarten weisen populationsspezifische Präferenzen für bestimmte Pflanzenarten auf, auf denen sie ihre Eier ablegen (Kuussaari et al. 2000). Genetisch determiniert ist auch die Futterpräferenz bei der Strumpfbandnatter (Thamnophis elegans) in Nordamerika: Jungtiere aus küstennahen Populationen in Kalifornien, in deren Lebensräumen viele Nacktschnecken vorkommen, verzehrten in Wahlversuchen ausschließlich Nacktschnecken, während Jungtiere aus Inlandpopulationen Frösche und Fische bevorzugten (Arnold 1981). Schlüpfende Jungtiere der Gefleckten Schnirkelschnecke (Arianta arbustorum) zeigen je nach Population eine verschieden stark ausgeprägte Neigung zu Eikannibalismus (Baur 1994). Bei Eidechsen wurden genetisch festgelegte Unterschiede in physiologischen Eigenschaften, wie die Schnelligkeit des Wegrennens (sprint speed), nachgewiesen, und Taufliegen (Drosophila) zeigen genetisch determinierte Unterschiede in biochemischen Eigenschaften (z.B. bei Verdauungsenzymen).
In den meisten Fällen wird die genetische Vielfalt aber mithilfe von molekularbiologischen Methoden untersucht, die direkten Einblick in die Variabilität der Gene geben.
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Verschiedene Stufen der genetischen Vielfalt
In jeder Pflanzen- und Tierart können drei verschiedene Stufen von genetischer Vielfalt unterschieden werden:
• genetische Variation innerhalb von Individuen (Heterozygosität);
• genetische Unterschiede zwischen Individuen innerhalb einer Population;
• genetische Unterschiede zwischen Populationen.
Zur Schätzung der genetischen Vielfalt innerhalb eines Individuums werden die Allele an ausgewählten Genloci betrachtet. Befinden sich an einem Locus zwei identische Allele (ein Allel von der Eizelle der Mutter, das andere vom befruchtenden Spermium des Vaters), ist das Individuum an diesem Locus homozygot. Kommen aber zwei verschiedene Allele vor, dann ist das Individuum an diesem Locus heterozygot. Werden bei einem Individuum mehrere Loci beurteilt, so können die Häufigkeiten der homozygoten und heterozygoten Loci ermittelt werden. So ist beispielsweise ein Individuum an neun von zehn untersuchten Loci heterozygot (d.h. 90 % seiner Loci sind heterozygot), während ein anderes Individuum nur an zwei der zehn Loci heterozygot ist (20 % heterozygote Loci). Das erste Individuum weist eine deutlich höhere genetische Variabilität auf als das zweite. Im Extremfall sind alle Loci eines Individuums homozygot. Dies kommt bei Organismen mit klonaler Fortpflanzung oder Parthenogenese vor sowie bei der Vermehrung durch regelmäßige Selbstbefruchtung.
Innerhalb einer Population werden die verschiedenen Kombinationen von Allelen (Genotypen) betrachtet, die bei den Individuen vorkommen (Tabelle 1). Wenn alle Individuen am untersuchten Locus zwei gleiche Allele aufweisen, dann ist die Population an diesem Locus monomorph. Dies bedeutet, dass in der Population keine genetische Variation am betrachteten Locus vorhanden ist. Haben aber einige Individuen verschiedene Allele am untersuchten Locus, dann ist die Population polymorph. Mithilfe von Stichproben kann die genetische Vielfalt einer Population geschätzt werden. Dazu werden beispielsweise bei 20 Individuen je fünf Loci (variable Mikrosatelliten-Marker) untersucht. Zur Bewertung der genetischen Vielfalt werden die Anzahl der verschiedenen Allele, ihre Häufigkeiten, das Verhältnis «Anzahl Allele pro Locus» sowie die Anzahl (oder der Prozentanteil) polymorpher Loci beigezogen.
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Tabelle 1: Genetische Vielfalt in drei Kreuzotter-(Vipera berus)-Populationen.
Dargestellt sind die Allelhäufigkeiten von fünf variablen Loci (Mikrosatelliten-Marker) und die Anzahl der untersuchten Individuen (N). Die Population im Juragebirge ist am Locus Vb-B10 monomorph, während die beiden anderen Populationen am gleichen Locus polymorph sind (d.h. zwei bzw. drei Allele haben). Die Voralpenpopulation ist am Locus Vb-A8 monomorph. Die genetische Vielfalt ist in der Alpenpopulation am größten (Daten aus Ursenbacher et al. 2009).
Die Genfrequenzen einer Population können sich durch natürliche Selektion, Ein- und Auswanderung, Genfluss und Zufallsprozesse wie genetische Drift verändern (siehe Evolutionsprozesse). Die in Tabelle 1 aufgeführten Werte zeigen, dass die Kreuzotterpopulation in den Alpen eine größere genetische Vielfalt aufweist als die beiden Populationen im Juragebirge und in den Voralpen. Die genetischen Unterschiede zwischen Populationen sind von großer Bedeutung für die genetische Vielfalt der Art (Genpool der Art). Genetisch vielfältige Populationen haben eine größere Wahrscheinlichkeit, sich an veränderte Umweltbedingungen|13◄ ►14| anpassen zu können als «genetisch verarmte» Populationen. Bei extremen Umweltveränderungen besitzt möglicherweise eine Population die geeigneten Gene um dem neuen Selektionsdruck widerstehen zu können und somit das Überleben der Art zu ermöglichen. So kann beispielsweise die Sortenvielfalt von Nutzpflanzen – eine Form der genetischen Vielfalt – zur Überlebensfrage werden: In den 1970er-Jahren vernichtete ein aggressives Virus die Reisernten von Indien bis Indonesien. Als Folge wurden 6273 Reissorten auf ihre Resistenz gegen das Virus getestet. Nur eine einzige Sorte besaß Gene, die die Pflanze gegen die Viruskrankheit immun machten. Diese Sorte konnte dann weiter gezüchtet werden. Im Allgemeinen kann genetische Vielfalt auch als «Lebensversicherung» der Population oder Art betrachtet werden.
Fortpflanzungssystem und genetische Vielfalt
Natürliche Populationen haben eine räumliche wie auch eine zeitliche Struktur. Beide beeinflussen die räumliche Struktur der genetischen Vielfalt der Art, zusammen mit weiteren Faktoren wie das Fortpflanzungssystem, die Ausbreitungsdistanzen der Männchen und Weibchen und die Fähigkeit der Weibchen, die Spermien, welche sie von verschiedenen Männchen erhalten haben, zu speichern. Das Fortpflanzungssystem spielt dabei die wichtigste Rolle. In der Regel ist die genetische Vielfalt am geringsten bei Arten mit klonaler Fortpflanzung. Populationen von Pflanzen, die sich ausschließlich vegetativ fortpflanzen, können aber aus verschiedenen Klonen bestehen. Bei Arten mit häufiger oder obligater Selbstbefruchtung (z.B. gewisse zwittrige Landschnecken) ist die genetische Vielfalt eher gering. Bei Säugetieren spielt das in den Populationen vorherrschende Paarungssystem eine wichtige Rolle für die genetische Vielfalt. Sie ist am größten bei Arten mit herumstreifenden Männchen, gefolgt von Arten mit Revierverhalten. Bei Populationen mit Harems-Bildung (z.B. See-Elefanten) und Balzplatz-Fortpflanzungsverhalten ist die genetische Vielfalt geringer, weil die Gene von einigen wenigen Männchen überdurchschnittlich häufig im Genpool vertreten sind.
Evolutionsprozesse
Verschiedene Prozesse tragen zu Veränderungen der genetischen Vielfalt innerhalb und zwischen Individuen sowie zwischen Populationen |14◄ ►15| bei. Mutationen bedeuten eine Veränderung im genetischen Material. Durch Mutationen können neue Varianten (Allele) der Gene entstehen, die veränderte oder neue Merkmale verursachen. Mutationen können spontan auftreten oder durch äußere Einflüsse wie radioaktive Strahlung oder erbgutverändernde Chemikalien (Mutagene) verursacht werden. In der Evolution sind Keimbahnmutationen von Bedeutung. Dies sind Mutationen, die an die Nachkommen über die Keimbahn weitergegeben werden. Sie betreffen Eizellen oder Spermien sowie deren Vorläufer. Mutationen können unter anderem durch Fehler bei der Replikation der DNA und bei Reparaturvorgängen sowie durch falsche Zusammenlagerung von DNA-Sequenzen bei der Meiose entstehen. Bei Punktmutationen wird nur ein Nukleotid im genetischen Code verändert (z.B. eine Base ausgetauscht). Mutationen können negative Auswirkungen für den Organismus haben, oder ohne Fitnesskonsequenzen für das betroffene Individuum sein. Nur in sehr seltenen Fällen hat eine Mutation positive Folgen für den Organismus.
Die von Charles Darwin (1809 – 1882) entwickelte Evolutionstheorie stellt natürliche Selektion als Mechanismus in den Vordergrund. Survival of the fittest bedeutet nach Darwin, dass diejenigen Individuen überleben und sich vermehren können, welche an die vorherrschenden Bedingungen (extreme Temperaturverhältnisse, Prädatorendruck, verändertes Nahrungsangebot, usw.) am besten angepasst sind. Individuen mit bei den vorherrschenden Bedingungen vorteilhaften Merkmalen (z.B. Farbe, Größe oder Verhalten) können mehr Nachkommen produzieren als Individuen ohne diese Merkmale. Die vorteilhaften Merkmale kommen deshalb in der nächsten Generation häufiger vor, während die nachteiligen seltener werden, vorausgesetzt, dass diese Merkmale vererbbar sind. Über viele Generationen betrachtet, können durch diesen Prozess unterschiedliche Anpassungen an verschiedene Umweltbedingungen entstehen. Wenn sich zwei oder mehrere Populationen von Lebewesen immer stärker in ihren Merkmalen unterscheiden, d.h. immer größere genetische Differenzen auftreten, kann sich die Art in neue Arten aufspalten (siehe: Wie entstehen neue Arten?). Eine wichtige Voraussetzung für Anpassungen durch natürliche Selektion sowie für Artbildung ist das Vorhandensein von genetischen Unterschieden zwischen Individuen (genetische Vielfalt).
Der englische Biomathematiker Ronald Fisher (1890 – 1962) kombinierte das Evolutionsmodell von Darwin und nachfolgende Beiträge von verschiedenen Genetikern zur einheitlichen Synthetischen Theorie der Evolution (oder Neodarwinismus). Er entwickelte damit die Grundlage|15◄ ►16| für quantitative Untersuchungen, welche auf Allelfrequenzen basieren (Fisher 1930). Evolution findet statt, wenn sich die Häufigkeiten von Allelen in einer Population verändern. Durch Mutationen können neue genetische Varianten entstehen. Durch Rekombination werden Allele in neuen Kombinationen an die Nachkommen weitergegeben.
Das zufällige Weitergeben von Allelen an die nächste Generation wird genetische Drift genannt. Dabei spielt die Populationsgröße eine wichtige Rolle. Das Allel-Set, das eine Generation an die Nachfolgegeneration weitergibt, ist statistisch gesehen immer eine Zufallsstichprobe. In großen Populationen werden auch Allele, welche in geringen Häufigkeiten vorkommen, an die nächste Generation weitergegeben, während bei kleinen Populationen seltene Allele verloren gehen. Durch genetische Drift kann sich die Nachfolgegeneration in den Allelhäufigkeiten deutlich von der Vorgängerpopulation unterscheiden.
Beim Gründereffekt besiedeln wenige Individuen einen neuen Lebensraum, etwa eine Insel. Diese Tiere repräsentieren nicht die ganze Bandbreite der in der Ausgangspopulation vorhandenen Allele. Wegen der geringen Vielfalt an mitgebrachten Allelen kann die neu entstandene Inselpopulation sich unter den veränderten Bedingungen anders entwickeln als die Ausgangspopulation. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass auf der Insel eine neue Art entstehen kann (siehe: Wie entstehen neue Arten?).
Was ist eine Art?
Diese auf den ersten Blick triviale Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. In verschiedenen Artkonzepten wird mithilfe eindeutiger Kriterien versucht, die Vielfalt der Lebensformen auf unserem Planeten in diskrete Einheiten aufzuteilen. Da Evolution aber ein ständig fortschreitender Prozess ist, gibt es viele unterschiedlich stark ausgeprägte Übergangsformen zwischen Arten, die kaum durch eine gängige Definition taxonomisch zweifelsfrei abgegrenzt werden können. Die beiden am häufigsten verwendeten Definitionen für eine Art lauten:
• Eine Art ist eine Gruppe von Individuen, die sich in morphologischer, physiologischer oder biochemischer Hinsicht von anderen Gruppen unterscheidet (morphologische Definition einer Art, Morphospezies).
• Eine Art ist eine Gruppe tatsächlich und potenziell kreuzbarer Individuen, die sich mit Individuen anderer Gruppen unter natürlichen |16◄ ►17| Bedingungen nicht fortpflanzen (biologische Definition der Art, Biospezies).
Das Morphospezies-Konzept ist nützlich zur Unterscheidung der großen Zahl von lebenden, aber auch ausgestorbenen und nur fossil überlieferten Pflanzen- und Tierarten. Die folgenden Fakten zeigen aber die Grenzen dieses Konzeptes auf:
• Innerhalb einer Art können die Merkmale kontinuierlich variieren. Ein Phänotyp ist nicht vollständig durch den Genotyp determiniert, sondern ist das Ergebnis der Wechselwirkung von Genotyp und Umwelt. Ein und derselbe Genotyp kann je nach Lebens- und Umweltbedingungen unterschiedliche Formen und Größen bewirken. Viele Arten zeichnen sich durch eine hohe phänotypische Plastizität aus. So variiert beispielsweise die Blattform und Größe des Löwenzahns (Taraxacum officinale) stark in Abhängigkeit von der Niederschlagsmenge, Sonneneinstrahlung und Jahreszeit zum Zeitpunkt der Blattbildung.
• Innerhalb einer Art können Merkmale diskret variieren (intraspezifischer Polymorphismus). Individuen der Hain-Bänderschnecke (Cepaea nemoralis) weisen eine gelbe, rosa oder braune Gehäusefarbe auf. Zusätzlich können die Gehäuse mit einem bis fünf, manchmal zusammenhängenden dunkelbraunen Bändern verziert sein. Alle diese Merkmale sind genetisch determiniert (Murray 1975). Das sehr variable Aussehen der Hainbänderschnecke verleitet zu einer Zuordnung von Individuen in verschiedene Arten.
• Viele Arten durchlaufen während der Individualentwicklung verschiedene Stadien (z.B. Larvenstadien bei Fliegen, Raupen und Puppe bei Schmetterlingen). Larvenstadien lassen sich oft nur mit großen Schwierigkeiten einer bestimmten Art zuordnen. Es ist auch vorgekommen, dass Larven einer schon bekannten Art als eigene, neue Art beschrieben wurden.
• Bei zahlreichen Arten sehen weibliche und männliche Individuen unterschiedlich aus (z.B. Stockente, Auerhuhn, Rothirsch, zahlreiche Insekten). Dieser sogenannte Sexualdimorphismus hat in verschiedenen Fällen dazu geführt, dass Weibchen und Männchen derselben Art ursprünglich verschiedenen Arten zugeordnet wurden.
• Biologisch völlig verschiedene Arten können aufgrund ähnlicher Selektionsbedingungen in ihrem Phänotyp konvergieren, sodass sie rein äußerlich kaum mehr zu unterscheiden sind.
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Das biologische Artkonzept basiert auf der Annahme, dass die Isolationsmechanismen zwischen den einzelnen Arten auf biologischen Eigenschaften der Organismen beruhen. Zwischenartliche Kreuzungen werden durch ethologische, morphologische, physiologische oder genetische Isolationsmechanismen verhindert. Dadurch bilden die Individuen einer Art eine Fortpflanzungsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Genpool. Aber auch das biologische Artkonzept hat seine Grenzen:
• Arten, die sich nur ungeschlechtlich vermehren (klonal oder durch Parthenogenese), werden durch die Definition des biologischen Artkonzeptes nicht erfasst. Zu diesen gehören alle Prokaryoten (Mikroorganismen), einige Pilze und Pflanzen, verschiedene Insekten und Echsen.
• Viele Pflanzen- und Tierarten kreuzen sich auch in der Natur (z.B. Steinkorallen, Orchideen). Nach dem biologischen Artkonzept sind einige Orchideenarten keine getrennten Arten.
• Individuen, die sich nie in einer Population fortpflanzen können (z.B. Arbeiterinnen bei Bienen oder Ameisen) werden vom biologischen Artkonzept nicht erfasst, obwohl sie zum Genpool beitragen.
Trotz dieser Einschränkungen findet das biologische Artkonzept als «vorstellbares Modell» häufig Verwendung in der Ökologie und Naturschutzbiologie.
In neuerer Zeit werden immer mehr molekularbiologische Methoden zur Unterscheidung einzelner Arten eingesetzt (Exkurs: DNA-Taxonomie und DNA-Barcoding). DNA-Taxonomie ermöglicht die Entdeckung und Beschreibung neuer Arten, ist aber kein Ersatz für die klassische Taxonomie. DNA-Barcoding funktioniert nicht ohne die Taxonomie- und Systematik-Fachleute der einzelnen Organismengruppen. Entscheidende Fortschritte in der Biodiversitätserfassung wird es nur durch den komplementären Einsatz von klassischen und molekularen Methoden geben.
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DNA-Taxonomie und DNA-Barcoding
Zur Unterscheidung einzelner Arten werden zunehmend molekularbiologische Methoden (vor allem Sequenzierung geeigneter DNA-Abschnitte) angewendet (Tautz et al. 2003). Bisher wurden DNA-Sequenzen meistens als Zusatzkriterien zur sicheren Artbestimmung angewendet. Seit geraumer Zeit gibt es aber Bemühungen, alle bekannten Arten auch molekularbiologisch zu charakterisieren. Dabei wird nicht das ganze Genom sequenziert, sondern nur Abschnitte (oft die Cytochrom-Oxidase Untereinheit I).
DNA-Barcoding ermöglicht die Identifizierung von bereits bekannten Arten mittels eines arttypischen DNA-Fragmentes durch den Abgleich mit einer bestehenden Datenbank (www.barcodinglife.com). Das funktioniert ähnlich wie das Barcoding (Streifencode) auf Verkaufswaren im Supermarkt, nur dass hier nicht schwarze Streifen, sondern DNA-Basenabfolgen zur Identifizierung dienen (Streit 2007). Sequenziergeräte dürften in Zukunft kleiner und preiswerter werden, was charakteristische Zuordnungen von DNA-Proben zu konkreten Taxa vermutlich sogar im Freiland ermöglichen wird. Bis zur Etablierung einer weltweit auch nur annähernd vollständigen Barcoding-Datenbank ist der Arbeitsaufwand allerding sehr groß.
Wie entstehen neue Arten?
Der entscheidende Schritt einer potenziell neuen Art erfolgt mit der vollständigen Trennung des Genpools einer Population von anderen Populationen. Dies ist der Fall, wenn sich die Individuen der betrachteten Population nicht mehr mit den Individuen der anderen Populationen kreuzen. Ist der Genpool einer Teilpopulation einmal isoliert, folgt er einer eigenen, unabhängigen Entwicklung, die durch natürliche Selektion, genetische Drift und Mutation beeinflusst wird. Verschiedene Prozesse können zur Artbildung führen:
• Allopatrische oder geografische Artbildung,
• sympatrische Artbildung (Polyploidie und Artbildung durch Konkurrenz).
Allopatrische (geografische) Artbildung kann eintreten, wenn das Verbreitungsgebiet einer Art durch äußere Prozesse in zwei oder mehr Teile aufgespalten wird. Eine Population wird durch die Neubesiedlung einer
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Insel, durch Austrocknung von Gewässern, durch Vergletscherung, Vulkanausbruch oder durch Landhebung vom Hauptverbreitungsgebiet der Art abgetrennt. Zunächst wird sich der Genpool von der isolierten Population kaum vom Genpool der Art im Hauptverbreitungsgebiet unterscheiden. Falls es aber Unterschiede in den klimatischen Bedingungen und anderen selektiven Faktoren zwischen dem abgetrennten Gebiet und dem Hauptgebiet gibt, werden sich die Genfrequenzen durch natürliche Selektion, genetische Drift und Mutation verändern. Das abgetrennte Gebiet ist beispielsweise wärmer und beherbergt eine andere Prädatorart. Dann wird die natürliche Selektion diejenigen Individuen bevorzugen, die am besten an ein wärmeres Klima angepasst sind und den neuen Prädatoren ausweichen können. Aufgrund der unterschiedlichen Selektionsdrucke auf die beiden Populationen werden sie sich nun langsam genetisch auseinanderentwickeln. Es können Veränderungen im Verhalten, in der Physiologie und der Morphologie zwischen den beiden Populationen entstehen, die keine erfolgreiche Fortpflanzung mehr zulassen und somit zur reproduktiven Isolation führen.
Es gibt zahlreiche Beispiele von allopatrischer Artbildung. In den bewaldeten Bergketten der Insel Oahu (Hawaii) konnten 41 endemische Baumschneckenarten der Gattung Achatinella nachgewiesen werden (Hadfield 1986). Getrennt durch Bergrücken beherbergte jedes Tal ihre eigene Art von diesen Baumschnecken, die sich von auf Blättern wachsenden Pilzen ernährten. Durch Zerstörung des Lebensraumes, dem Aussetzen von nicht-einheimischen Schneckenprädatoren und übermäßige Sammeltätigkeiten sind in den letzten Jahrzehnten aber über 30 Arten ausgestorben (Kapitel 8).
In den Alpen isolierte die wiederholte Vergletscherung während der Eiszeiten zahlreiche Pflanzen- und Tierarten auf wenigen eisfreien «Inseln». In Perioden zwischen den Eiszeiten konnten sich manche Restpopulationen nur beschränkt wieder ausbreiten. Viele Populationen entwickelten sich während der Isolation zu neuen Arten. Allein in den österreichischen Alpen kommen 103 endemische Pflanzenarten und -unterarten vor, die auf diese Weise entstanden sein dürften (Essl et al. 2009; siehe Exkurs «Endemische Arten», Seite 32).
Sympatrische Artbildung erfolgt ohne geografische Trennung. Im Pflanzenreich ist sympatrische Artbildung durch Chromosomenverdoppelung oder -vervielfachung (Polyploidie) häufig. Durch Unregelmäßigkeiten in der Chromosomenpaarung oder -verteilung während der Reduktionsteilung (Meiose) können die Nachkommen doppelte Chromosomensätze haben. Eine Kreuzung von Individuen mit einer |20◄ ►21| unterschiedlichen Anzahl von Chromosomensätzen führt in der Regel zu sterilen Hybriden, die keine normale Meiose mehr durchführen können. Ein polyploider Organismus hat somit über die Verdoppelung des Chromosomensatzes einen reproduktiven Isolationsmechanismus gegenüber den ursprünglichen Individuen aufgebaut. Im Vergleich zur allopatrischen Artbildung ist Polyploidie ein sehr schneller Artbildungsprozess.
Bei Autopolyploidie stammen die Gameten von der gleichen Elternart. Autopolyploidie ist beispielsweise beim Mittleren Wegerich (Plantago media; Populationen mit Chromosomenzahl 12 und 24) gut untersucht. Bei Allopolyploidie stammen die Gameten von verschiedenen Elternarten, die häufig nahe verwandt sind. Allopolyploidie spielt bei der Entstehung von vielen Kulturpflanzen eine wichtige Rolle. Bei Tieren ist Polyploidie seltener, kommt aber bei Arten vor, die sich durch Parthenogenese fortpflanzen, beispielsweise beim Salinenkrebs (Artemia salina).
Sympatrische Artbildung kann auch als Ergebnis einer disruptiven Selektion auftreten, die zwei oder mehr Phänotypen innerhalb einer Population begünstigt. Wenn unterschiedliche Eigenschaften ähnlich gut geeignet sind, um Nahrungsquellen zu erschließen (beispielsweise zwei verschiedene Schnabelformen) oder andere Bedürfnisse zu erfüllen, kann natürliche Selektion auch unterschiedliche Phänotypen innerhalb einer Population begünstigen. Eine Voraussetzung ist allerdings, dass sich Organismen nur mit dem gleichen Phänotyp paaren (assortative mating). Diese Form der Artbildung konnte bisher allerdings nur in wenigen Studien nachgewiesen werden, eine davon bezieht sich auf Landschnecken mit rechts- und linksgewundenen Gehäusen.
Die Entstehung neuer Arten ist normalerweise ein langsamer Prozess, der Hunderte bis Tausende von Generationen erfordert (Ausnahme: Polyploidie). Die Evolution neuer Gattungen und Familien verläuft sogar noch langsamer. Generell ist die Artbildungsrate auf Inseln größer als auf dem Festland. Dies ist unter anderem auf die Isolation der Inseln, den Gründereffekt (siehe oben) und das Fehlen gewisser Selektionsfaktoren zurückzuführen (fehlende Prädatoren, reduzierte Konkurrenz). Ein klassisches Beipiel für Artbildung auf Inseln sind die Darwin-Finken auf den Galapagos-Inseln.
Eine neuentdeckte Form von Lebewesen gilt als wissenschaftliche Art, wenn sie nach den geltenden Nomenklaturregeln beschrieben wurde.
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Abb. 1: Adaptive Radiation bei den Darwin-Finken auf den Galapagos-Inseln. Die unterschiedlichen Schnabelformen sind Anpassungen an verschiedene Nahrungsweisen. Alle Arten gehen auf eine einzige Stammart zurück (aus Darwin 1845, mit Bewilligung von van Wyhe J. (ed.) The Complete Work of Charles Darwin Online, www.darwin-online.org.uk).
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Binäre (binomiale) Nomenklatur und Artbeschreibung
Carl von Linné (lateinisch Linnaeus; 1707 – 1778), ein schwedischer Arzt und Naturwissenschaftler, entwickelte das System der binären Nomenklatur der Pflanzen und Tiere. Der zweiteilige Name setzt sich zusammen aus dem Namen der Gattung, der stets als Nomen mit einem Großbuchstaben beginnt, und einem kleingeschriebenen Epitheton (häufig ein Adjektiv), welches in Kombination mit der Gattung die Art charakterisiert. Jede solche Kombination von zwei Namen darf nur einmal – also nur für eine Art – vergeben werden. Diese Namen entstammen gewöhnlich der lateinischen oder griechischen Sprache. Nichtlateinische Namen werden lateinisiert. So setzt sich beispielsweise der wissenschaftliche Name der Amsel aus den lateinischen Bezeichnungen turdus (Gattung Echte Drosseln) und merula zusammen und lautet vollständig Turdus merula Linnaeus, 1758. Die zur gleichen Gattung gehörende Singdrossel heisst Turdus philomelos Brehm, 1831. In der wissenschaftlichen Literatur wird der zweiteilige Artname in kursiver Schrift dargestellt, oft gefolgt vom Autorzitat, d.h. dem Namen (oder Namenskürzel) der Person, welche die erste gültige wissenschaftliche Beschreibung der Art verfasst hat. Darauf folgt noch das Jahr der Veröffentlichung dieser Beschreibung. In der Systematik werden die Gattungen in die nächsthöhere Stufe der Familie zusammengefasst und verschiedene Familien wiederum in die nächsthöhere Stufe der Ordnung. Eine Klasse umfasst verschiedene Ordnungen.
Zur Beschreibung und Benennung von Arten wurden spezielle, weltweit geltende Nomenklaturcodes entwickelt, die sich zwischen Pflanzen (www.ibot.sav.sk/icbn) und Tieren (www.iczn.org) geringfügig unterscheiden. Durch diese Regeln sollten wiederholte Beschreibungen der gleichen Art sowie der Gebrauch desselben Namens für mehr als eine Art vermieden werden. Ein wichtiger Bestandteil einer Artbeschreibung ist das Festlegen eines Referenzexemplars oder -musters (Holotyp oder Holotypus). Das Typus-Exemplar muss in einem Museum aufbewahrt werden, damit es zu Vergleichszwecken zugänglich ist.
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Adaptive Radiation bedeutet die Auffächerung einer wenig spezialisierten Art in viele stärker spezialisierte Arten. Dies erlaubt beispielsweise die Nutzung eines breiteren Spektrums von Nahrungsressourcen. Bekannte Beispiele für die Radiation von Tiergruppen sind wiederum die Darwin-Finken mit ihren unterschiedlichen Schnabelformen (Abb. 1, S. 22) sowie die Kleidervögel auf Hawaii, die Buntbarsche in den großen Seen von Afrika und die marinen Kegelschnecken (Conidae). Diese Schnecken sind hochspezialisierte, nachtaktive Prädatoren, die zum Nahrungserwerb eine Art Harpune benutzen, welche sich aus einem Zahn der Radula (Raspelzunge) entwickelt hat. Durch den nadelspitzen, hohlen Zahn injiziert sie ein Gift ins Beutetier. Es gibt rund 600 rezente Arten von Kegelschnecken. Viele fressen Borstenwürmer; andere sind aber auf Mollusken spezialisiert, wiederum andere jagen ausschließlich Fische oder erbeuten Krabben, denen sie im Sand vergraben auflauern. Alle töten ihre Beute aber mit Gift.
Weiterführende Literatur
Darwin C. (1859) (Übersetzung 1981) Über die Entstehung der Arten. Reclam, Stuttgart.
Steinke D. & Brede N. (2006) DNA-Barcoding: Taxonomie des 21. Jahrhunderts. Biologie unserer Zeit 36: 40 – 46.
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