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MYTHOS UND GESCHICHTE

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Unlängst während einer Führung durch das Parlamentsgebäude in Bern: Die Besucher stehen vor den drei mächtigen Eidgenossen in der Haupthalle und hören zu, wie von den Gründervätern erzählt wird. Sie hätten 1291 auf dem Rütli den Bundesbrief, den sie in ihren Händen halten, beschworen, woraus die Eidgenossenschaft und die Schweiz hervorgegangen sei. Ein Geschichtsbild, in dem sich Mythos, Geschichte und Gegenwart aufs Engste verwoben haben, und das im wahrsten Sinn des Wortes in Stein gemeisselt ist. Wenn man heute Menschen nach der Bedeutung des Jahres 1291 für die Geschichte der Schweiz fragen würde, die Antwort der Mehrheit wäre mit Sicherheit, dass es das Gründungsjahr sei. 1291 gilt in der Schweiz nach wie vor als Beginn der Eidgenossenschaft. Es wird politisch verbunden mit Werten wie Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität. Grund dafür ist der sogenannte Bundesbrief, der Ende des 19. Jahrhunderts neu bewertet und zum Gründungsdokument der Schweiz gemacht wurde, obwohl er über Jahrhunderte hinweg ohne Verwendung beziehungsweise unbekannt war.

Die allgemeine Bedeutung dieser Jahreszahl und des damit verbundenen Nationalfeiertags kontrastiert stark mit dem Wissen über das Jahr und den Umständen, in denen ein solches Dokument entstehen konnte. Bekannt ist der Tod von →König Rudolf von Habsburg im Sommer 1291. In der Folge hätten sich die drei Innerschweizer Länder zu einem Bund zusammengetan, um sich in der unsicheren Zeit gegenseitig beizustehen. Und daraufhin habe man die bösen Vögte vertrieben und die Freiheit errungen. Der neu bewertete Bundesbrief wurde mit der mythischen Befreiungsgeschichte verbunden, deren Überlieferung im späten 15. Jahrhundert einsetzt. Dieses Geschichtsbild ist im Nachgang von 1891 entstanden und hat in der Zwischen- und Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts seine grösste Bedeutung erlangt. Und es ist bis heute fest in der DNA der Schweiz verankert.

Wenn man nun ein Buch über das Jahr 1291 schreibt, muss man nicht mehr die historiografischen Verwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts erklären. Sie sind bekannt. Dass sich der 1848 neu gegründete Bundesstaat eine Gründungsgeschichte zugelegt und – allerdings erst nach Jahrzehnten – einen Nationalfeiertag festgelegt hat, ist mehr als plausibel. Es gehörte zum Selbstverständnis der entstehenden Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Ein Buch über 1291 muss auch nicht mehr eine tiefschürfende Analyse des Bundesbriefs leisten, die ist längst gemacht. Ein Buch über 1291 soll hingegen genau hinschauen, das Verständnis für historische Prozesse und Zusammenhänge wecken, die Eindimensionalität der Geschichtsbetrachtung hinterfragen. Schlicht: erzählen, was man weiss. Die Methode dazu ist einfach, es ist die klassische Methode der Geschichtsschreibung: die Analyse, Auswertung und Interpretation der vorhandenen Quellen, ihre Einordnung in die grösseren Zusammenhänge, die Berücksichtigung der Vorgeschichte, die Auswirkungen auf die Folgezeit. Der Rahmen des Buches ist der Jahreslauf, Monat für Monat. Die Betrachtung darf sich dabei nicht auf den engeren Raum der heutigen Schweiz beziehen, sondern muss den damaligen politischen Rahmen ins Blickfeld nehmen, das Heilige Römische Reich und seine Nachbarn. Der Raum zwischen Genfersee und Bodensee ist früher wie heute Teil von Europa und kann nicht unabhängig von der Verflechtung mit aussen beschrieben werden.

Da wir aus den spärlichen Quellen wenig über die Ereignisse von 1291 wissen, braucht es Rückblenden, um die Geschehnisse des Jahres verstehen zu können. Und es braucht einen Ausblick, nur so lässt sich die Bedeutung des Jahres für die Entstehung der Eidgenossenschaft in den nachfolgenden Jahrzehnten einordnen. Hinzu kommt: Die Beschränkung auf das Jahr selbst ist willkür lich. Die Ereignisse rund um den Tod von Rudolf von Habsburg bedingen eine Öffnung des Blicks auf die Zeit in etwa zwischen Frühling 1290 und Herbst 1292. Das Buch beginnt denn auch mit dem Ende eines Konflikts, der sich im Lauf des Jahres 1291 aufgebaut und in den ersten Monaten des Folgejahres entladen hat.

1291 hat die Funktion eines Dreh- und Angelpunkts innerhalb all jener Ereignisse und Verflechtungen, welche die damalige Zeit prägten und in den weiteren Verlauf der Geschichte der sich langsam bildenden Eidgenossenschaft hineinwirkten. 1291 ist ein Jahr ohne Schwurbrüder, aber das Jahr, in dem König Rudolf von Habsburg stirbt, in dem es um seine Nachfolge, um Macht und Einfluss zwischen Elsass und Innerschweiz, Bodensee und Genfersee geht.

Gewiss, die Geschichte der drei Eidgenossen, die sich einst die Treue geschworen haben sollen gegen die fremden Vögte und die Besucher und Parlamentarier heute in Stein gemeisselt über der grossen Treppe im Bundeshaus empfangen, hat ihren Reiz. Sie ist einfach und plakativ, lässt sich geradlinig erzählen. Es ist eine gute Geschichte, nicht mehr. Die tatsächlichen Begebenheiten rund um das Jahr 1291 – soweit wir aus Quellen davon wissen – sind komplexer, verschlungener, aber aus der Nähe betrachtet nicht weniger spannend.

1291

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