Читать книгу Jahre des Hungers - Burkhard Friese - Страница 6
2
ОглавлениеVor der Nikolaikirche zimmerte eine Schauspieltruppe ihre Bühne zusammen, um nach der Rathserneuerung und der Verkündung der Burspraken mit dem Spiel zu beginnen. Die Burspraken waren von jeher eine Angelegenheit der Männer. Nur Männer sprachen Recht, setzten es durch und waren berechtigt, die Rechtsverkündung zu hören. Nun vereinte sie die Bürgerpflicht und ihre Neugier. Gespannt starrten sie auf das Rathhaus, eines der wenigen Gebäude mit starken Brandmauern.
Der Auftritt des Bürgermeisters wurde wie jedes Jahr mit dem Schlag der bronzenen Glocke angekündigt. Und nicht nur sein Pelzmantel unterschied ihn von denen auf dem Platz, in ihren klammen Wollumhängen. Jeder war sich selbst der Nächste, doch versuchte auch jeder, die Wärme seines Nachbarn zu erhaschen.
Wo sonst die Händler und Kaufleute hinter ihren gezimmerten Scharren auf dem Marktplatz hockten und die wenigen Waren feilboten, die sie besaßen, drängten sich nun die Bürger von Kyl. Der klirrenden Kälte trotzend standen sie da, wärmten sich gegenseitig und ihre gemeinsame Not ließ sie zusammenhalten. Dann wurde der Mittelpunkt des bürgerlichen Lebens auch ein Tummelplatz für Beutelschneider und Gaukler. Mit ihren flinken Fingern hatten sie keine Schwierigkeiten, unter den dicht gedrängten Bürgern reiche Beute zu machen.
Das Rathsfest ging zu Ende. Die letzten Nahrungsreste wurden verteilt und geteilt. Schauspieler begeisterten mit Mysterienspielen und Darstellungen aus der Liturgie.
Die Stimme von Hans Boyenhusen, dem Bürgermeister, drang vom Marktplatz herüber auf den Kirchhof und verfing sich in den dunklen Gassen. „Im Namen des Vaders, des Sönes, des hylgen Ghestes, Amen.“
„Amen“, antwortete die Menge.
„In den Jahren unsers Herren Jhesu Christi, im neuen Jahr dreizehnhundertsiebenundvierzig, dankt der Rath der Stadt Kyl all denen, die zum Besten der Stadt willig und gehorsam sind, und verspricht lieber ihnen Hilfe, als den Ungehorsamen. Und nun höret, was der Rath Euch als Recht heißt: Bei Todesstrafe verboten ist es, in den Brunnen zu scheißen, und Unflat in Brunnen und Pferdetränken zu werfen. Auch Wäsche darf dort nicht gewaschen werden. Jeder Bürger wacht für Kyl bei zehn Schilling Strafe. Er hat zur Wachtpflicht zu erscheinen und bei drei Mark Silber dort zu harren, wo er hingestellt wurde.“
Zustimmendes Gemurmel.
„Bier muss zwei volle Nächte in den Keller!“
„Jawohl, richtig so“, riefen die dicht gedrängt stehenden Bürger, wie aus einer Kehle.
„Nie gegen die Ehre einer Jungfrau sprechen! Bei zehn Schilling Strafe“, drang die Stimme des Bürgermeisters vom Marktplatz.
Hinrich musste schon genau hinhören, um die Worte Boyenhusens in der Gasse noch verstehen zu können.
„... der Rath sähe es gerne, wenn sich die öffentlichen Frauen bessern. Wir haben aber, um die anständigen Frauen zu schützen, beschlossen, dass die Tändelfrauen einen roten Strich an der Kapuze oder rote Schuhe tragen sollen. Weiterhin ...“
Die Worte des Bürgermeisters vermischten sich mit den Stimmen seiner Stadt. In den Gassen zwischen den Häusern wurde es ruhiger. Es war auch weniger Volk unterwegs. In der engen düsteren Gasse in die ihn der Probst geschickt hatte, standen weder Türen noch Fenster offen. Hinrich scheute sich, an ein Tor zu klopfen. Er schlenderte weiter.
Hier und dort sah man einige Weiber. Unehrliche und Bettler, die sich im Schatten der Buden verkrochen, verfolgten Hinrich mit Blicken.
„Meine Mitschüler hatten Recht“, erinnerte er sich, „Kyl ist doch nur ein zusammengewürfelter Haufen von armseligen Hütten und Buden.“
Dennoch spürte Hinrich den Geist und den Willen dieser Stadt, aus Lübecks Schatten heraustreten zu wollen. Dabei wollte er helfen. Er wollte den Bürgern die Schrift nahebringen, sie Lesen und Schreiben lehren, wollte einfach nur von Nutzen sein.
Weißsilbrige Möwen kreischten am blauen Himmel und lockten Hinrich den gefrorenen, verharschten Weg durch die Schuhmacherstrate entlang, an den Fjord.
Kyl war von drei Seiten vom Wasser umgeben. Der breite, sumpfige Uferstreifen war gefroren. Ein Palisaden- und Plankenwerk schützte die Stadt zur Seeseite hin. Im tieferen Wasser dümpelten zwei Koggen. Kyl hatte keine Kaimauer. Flache Ruderboote paddelten zu den Koggen und entluden die Waren. An der schmalen Seite überquerte eine fünfzig Fuß lange, grob gezimmerte Holzbrücke das Wasser.
Hier lagen allerhand Holzwaren, Steine und Werkzeuge zum Bau der Stadtmauer. Vom Stadtgraben war sie schon bis zur Marienkapelle hin errichtet worden. Im sumpfigen Untergrund waren dicke Stützpfeiler verankert. Sie sollten die Mauer vorm Absacken bewahren. In der anderen Richtung bestand der Schutz der Stadt nur aus bemoosten, schwarz verwitterten Holzplanken, die feucht im Tageslicht glänzten. Hier tummelten sich Scharen von Krähen. Hinrich schaute aufs Wasser.
In unzähligen kleinen Lichtern spiegelte sich die Sonne auf den Wellen. Geblendet kniff er die Augen zusammen. Der beißend scharfe Nordostwind schaukelte kleine Wellen auf, die schnell wieder zusammenfielen. Möwen tummelten sich mit ihnen auf und ab. Mal schauten die Köpfe vorwitzig aus dem Wasser, dann waren nur die heiseren Schreie zu hören. Mit dem Wind kamen Schnee und Eis.
Ein Lächeln huschte über Hinrichs Gesicht. Er war fremd hier aber er fühlte sich wohl und freute sich über den Entschluss, Lübeck verlassen zu haben. Hier konnte er Gott, hier konnte er den Menschen dienen und ihnen helfen, Gott zu verstehen. Mit diesen Gedanken drehte er sich um und ging zurück in die Schuhmacherstrate.
„Eingesperrt war ich in der Klosterschule“, sinnierte er. Die kühle Seeluft drang durch Hinrichs feuchte Kleidung und ließ ihn frösteln. Es roch nach Winter und Algen. „Eingesperrt mit den Lehren von Aristoteles und Albertus; sicherlich alle erbauend, dennoch engen sie den Geist, das Denken und vor allem das Handeln ein.“ Hinrich hatte Lübeck nie als Heimat empfunden. So fiel ihm der Abschied nicht schwer. Er holte tief Luft, schloss die Augen und sog den Duft des Meeres noch einmal ein.
Das Wasser war für ihn schon immer ein Ort stiller Übereinkunft. Jeder Schritt knirschte unter seinen Fußlappen.
Die Gedanken an seine Aufgabe ließen das Herz Hinrichs höher schlagen und beflügelten seinen Schritt. Um sich herum nahm er nichts mehr wahr, wollte er doch gleich mit der Aufgabe beginnen.
Aus dem Augenwinkel sah er eine schwere schwarze Eichentür aufschlagen. Hinrich sprang zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Inhalt einer Pütz, die voll dampfender menschlicher Notdurft war, vor ihm auf den Boden klatschte. Dabei rutschte er auf einer gefrorenen Pfütze aus. Kaum lag Hinrich am Boden, kam auch schon jemand mit flinken krummen Beinen und half ihm auf.
„Oh, oh, verzeiht mein Herr! Ich habe Euch nicht kommen sehen“, nuschelte der alte Mann zahnlos, die Pütz noch in der Hand.
„Lasst gut sein. Es ist nichts geschehen.“ Hinrichs Herz schlug bis zum Hals. „Außer einigen blauen Flecken, die mich morgen an diesen Fehltritt erinnern werden, habe ich mir nichts getan.“
„Doch, doch, verzeiht noch einmal. Kommt herein und wärmt Euch. Ich bin Gottfried der Bader.“ Die kleinen blauen Augen lugten neugierig und listig unter einer Wollkappe hervor. „Und, und gegen Eure Blessuren habe ich ein Kraut in meinem Haus.“
„Nein, aber für das Angebot habt Dank. Ich muss weiter.“
„In meinem Haus findet Ihr auch allerlei Vergnügungen“, nuschelte der kleine dickliche Bader verschmitzt. „Ich, ich habe Euch zu Fall gebracht und möchte es wiedergutmachen.“
„Nochmals vielen Dank für das Angebot“, wiederholte Hinrich.
„Seid, seid Ihr neu in der Stadt?“
Hinrich war nicht groß, doch der Bader war noch einen halben Kopf kleiner und mit jedem neuen Satz kam er einen Schritt näher.
„Ja.“ Hinrich wich zurück. Aus der Badestube drangen große Wasserdampfwolken. „Wollt Ihr mir sagen, wo ich das Haus von Merten finde?“
„Sein, sein Haus ist das hier gegenüber, mein Fremder“, nuschelte Gottfried, drehte sich um und verschwand in der Diele. Den Dampf, mit den Wohlgerüchen der Verführung, nahm er mit sich.
Hinrich schämte sich. Einmal, weil er die Einladung abgelehnt hatte und zum anderen, weil sein Rock mit Schlamm bedeckt war. Mit einem letzten Blick auf die Badestube drehte er sich um und klopfte an die Eichentür gegenüber.
„Ich bin der Schreiber Hinrich und auf Geheiß von Probst Paul an Eurem Tor“, begrüßte er den Hünen, der das Tor öffnete.
„Sagt, was begehrt Ihr“, brummte Merten, „sagt, und verschwindet.“
„Der Probst schickt mich, um nach einer Kammer zu fragen.“
„Ich habe keine Kammer, schon gar nicht für einen Günstling vom Probst“, erwiderte Merten barsch und war im Begriff die Tür zuzuschlagen. Aus dem Dunkel der Diele hörte Hinrich die Stimme einer Frau. „Es ist Unrecht. Sei nicht so gottlos und bitte den Frierenden herein.“
Merten drehte sich um. „Verzeiht meine Ungastlichkeit“, knirschte er und trat zur Seite. Zögernd betrat Hinrich die hohe, dämmrige Diele. Sie war warm und rauchfrei. Es roch nach Geräuchertem und geheimnisvollen Gewürzen. Auf den Wandbetten für das Gesinde lag frisches Stroh. In einer großen Feuerstelle knisterten wärmende Flammen. Sie schafften es kaum den Raum zu erhellen, warfen nur bizarre Schatten an die Wände. Überall lagen kleine verschnürte Pakete herum.
Hinrich war kleiner und bestimmt auch nur halb so breit, wie Merten von der Heide. Die unruhigen Schatten machten den Kaufmann noch bedrohlicher.
„Ihr könnt Gott danken, dass Eure Diele rauchfrei und trocken ist“, sagte Hinrich.
„Es waren meine Hände, nicht die von Eurem Gott, die die Feuerstatt so errichteten.“
„Verzeiht, ich wusste nicht, dass Euch mein Anliegen derart ungehalten macht. Ich bin fremd und durch ein Bittschreiben vom Rath und der Kirche nach Kyl gekommen.“
„Ihr müsst meine Ungastlichkeit verzeihen. Ich kann Euch keine Kammer anbieten. Aber wenn Ihr Hunger habt? Mein Weib hat gerade eine heiße Biersuppe über dem Feuer“, knurrte Merten. Hinrich folgte seinem Stolz und nicht dem Hunger und dem Verlangen nach Wärme. „Nein, herzlichen Dank. Ich will Eure Gastfreundschaft nicht noch mehr in Anspruch nehmen.“
„Aber er kommt doch vom Probst“, hörte Hinrich gerade noch. Die Kälte der Gasse empfing ihn wie einen alten Freund. Verletzt und nachdenklich schlich Hinrich zum Markplatz zurück.
„Schreiber!" rief eine kräftige Stimme. „Schreiber?“ Hinrich drehte sich um. In seiner breiten Tür stand Merten. „Schreiber, wenn Euch eine kleine Kammer genügt?“
Hinrich wollte einfach weitergehen, doch die Kälte kroch seine feuchten Füße hinauf und nahm ihn ein. Der Gedanke an eine warme Schlafstätte, ließ ihn umdrehen.
Wortlos führte ihn Merten durch die anheimelnde Diele, hin zu einer steilen durchgetretenen Holztreppe, die hinter der Vorstube nach oben führte. Sie kletterten die Holzstiege nach oben, quetschten sich an wohlduftenden Paketen vorbei und stiegen über zwei Ballen Stroh. „Die vordere Kammer ist die Eure.“ Damit ließ Merten Hinrich auf dem Speicher stehen und stapfte zurück in die Hauptstube.
Die Tür zu seiner Kammer hatte keinen Schlüssel und schloss auch nicht richtig. Der Dielenboden war zerschlissen. Ohne, dass Hinrich die Worte verstehen konnte, drang die Stimme von Merten durch die Ritzen der Bodenbretter hindurch, zu ihm in die Kammer.
Hinrichs Kammer war leer aber warm. In der einen Ecke ein Haufen Stroh für die Nacht. Auf einer Tonschale stand eine Wachslichte und in einem Krug fand sich fad schmeckende Molke. Neben der Kerze ein Löscheimer; halb voll Wasser. Die Diele war direkt unter ihm und die Wärme der Herdstelle erreichte eine Wand. Eifrig schob Hinrich das Stroh an diese Wand und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Der Stein des Kamins wärmte seinen Rücken und mit einem Seufzer sackte er müde zusammen. Die kurze Wachslichte war am erlischen, und mit ihr verlor auch der junge Schreiber die Kraft sich aufrecht zu halten. Je dunkler es wurde, desto lauter wurden die Geräusche des fremden Hauses, der fremden Stadt. Als wollten sie ihn einhüllen und in den Schlaf begleiten. Vornübergebeugt, auf dem Stroh hockend, kritzelte Hinrich noch einige Worte aufs Papier, sein Federkiel schrieb unsauber. Die Stimmen um ihn herum verstummten. Irgendwo scharrte ein Huhn, die schnellen Pfoten einer Ratte vernahm er noch, und das tiefe Schnauben eines Ochsen. Die Begleiter für die Nacht.
„Ich muss der Frau von Merten danken. Anscheinend habe ich diese Kammer nur durch ihre Nächstenliebe“, kratzte Hinrich mit dem letzten Licht aufs Papier. Die Lichte flackerte nur noch wenige Lidschläge lang. „Ich hoffe, dass der Geist des Schlafes mich fortholt und mir die Erquickung des Erwachens am Morgen schenkt.“
Dann wurde es dunkel.