Читать книгу Jahre des Hungers - Burkhard Friese - Страница 7
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ОглавлениеMühsam öffnete Hinrich die Augen. Im zwielichtigen Schein des frühen Morgens drangen ungewohnte Geräusche aus der Diele laut durch die Bodenbretter in Hinrichs Kammer.
Sein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Seine Augen brannten. Er bekam kaum Luft durch die Nase. Schwer atmete Hinrich durch den Mund. Der war trocken, die Lippen rissig. Mit einem Stöhnen wälzte sich der Schreiber von seiner Strohschütte. Seine Zunge fuhr immer wieder über seine geschwollenen Lippen. Er griff zum Tonkrug. Die Molke darin war gefroren. An der kleinen Butzenscheibe hatten sich Eiskristalle gebildet.
Hinrich wankte fiebertrunken und musste sich am Türpfosten festhalten, um nicht zu stürzen. Seine Stirn fühlte sich wie die Wand einer heißen Herdstelle an. Schwindelig, und mit den Gedanken an seine neue Aufgabe, öffnete er die Kammertür und torkelte die ausgetretene Holzstiege nach unten.
Mit jedem Schritt wurde es wärmer. Je wärmer es wurde, desto häufiger musste sich Hinrich die Nase am Rockärmel abwischen. Er war es gewohnt, krank zu sein. Mindestens zweimal im Jahr, doch er erholte sich auch schnell wieder. Deshalb war es auch diesmal für ihn kein Grund auf der Schütte zu bleiben.
Ein Knecht schlurfte durchs hintere Dielentor in den Stall. Eine dickliche Magd zischelte „für Euch, mein Herr“, und zeigte mit krummen, harten Fingern auf den großen Esstisch. Ein Napf voll Gerstenbrei und einen Fladen Roggenbrot sah er dort. Daneben ein Krug mit warmem Bier. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, packte die Magd ein quiekendes Ferkel, das um ihre Beine schlich, und folgte dem Knecht nach hinten zum Vieh. Hinrich nahm einen Schluck vom Bier, setzte sich erschöpft auf die Bank und kaute appetitlos auf seinem Brot. Er entschloss sich, doch noch einmal nach oben zu gehen.
Kraftlos fiel er zurück auf seine Schütte, und da es noch dunkel war, schlief er sofort ein.
Hinrich blinzelte. Die Sonne schien freundlich durch die dreckige Butzenscheibe - die staubige Kammer wirkte heller.
Hinrich blieb liegen, bis sein Wille die nötige Kraft hatte, den Körper zu befehligen. Die Geräusche von vorhin waren geschäftigen Lauten gewichen. Eilig griff er sein Schreibzeug und hetzte auf die Schuhmacherstrate. Tausende von kleinen Sternen glitzerten im unberührten Schnee. Hinrich schloss geblendet seine Augen. „Wie göttlich“, dachte er. „Der Dreck der Straten weicht dem Weiß der Gedanken.“ Alle sonst so lauten und hektischen Geräusche flüsterten nur mehr durch die Luft. Hinrich lächelte: „Ein friedliches Bild in der bedrohlichen Kälte.“
Er rannte trotz seiner Erkältung wie im Rausch durch den feinen Schnee. Immer wieder strebte er danach, die unberührten Flächen zu betreten.
Auf dem Markplatz verlangsamte Hinrich seine Schritte. Die Menschenmassen von gestern waren verschwunden und das Handeln, Feilschen und Hoffen hatte wieder Einzug gehalten.
Auf der breiten, steinernen Rathhaustreppe nahm Hinrich zwei Stufen auf einmal.
„Wie ich hörte, habt Ihr eine Unterkunft bei Merten von der Heide gefunden“, donnerte Boyenhusen, der Bürgermeister, in der gleichen Lautstärke, wie er gestern die Burspraken verkündet hatte. Und ohne eine Antwort abzuwarten: „Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht. Obwohl, Ihr seht sehr mitgenommen aus. Vielleicht solltet Ihr Gottfried den Bader aufsuchen. Seine Badestube ist gegenüber dem Haus von Merten.“
„Ich danke für die Fürsorge“, näselte Hinrich, „es wird schon gehen. Könnt Ihr mir nun das mir zugedachte Pult zeigen?“
Der Bürgermeister führte Hinrich am Saal des Obergerichts vorbei, in einen kleinen und schmucklosen Raum. Reihen voll Bücher an der Wand neben der Butzenscheibe. Zwei Stehpulte, einer war leer. Sonst gab es nur noch einen groben Eichentisch mit zwei Sitzbänken. Auf dem Eichentisch standen zwei Ölleuchten. An der Mauer, gegenüber der Bücherwand, hing ein Teppich. Ein Edelmann auf ihm abgebildet, daneben, an einem Waldrand, ein Bettelmönch. Beide hatten dieselben Gesichtszüge.
„Hier könnt Ihr Euch in Ruhe niederlassen“, sagte der Bürgermeister knapp. „Am Tag nach den Burspraken ist recht wenig zu schaffen. Peter Vysch, unser Stadtschreiber, wird nachher noch erscheinen und Euch genauer in die Aufgaben einweisen.“ Damit verließ er die Schreibstube. Mit einem Blick zurück: „Ich hoffe, der Probst hat nicht übertrieben, als er Euch angepriesen hat.“
Noch bevor Hinrich antworten konnte, schnappte die Tür zu.
Hinrichs Finger fuhren über die Buchreihen. Lose Dielen knarrten unter seinen Füßen. An der groben Eichenplatte des Tisches stehend, blätterte er unschlüssig zwischen einigen Papieren. Lustlos schob er sie beiseite, als sein Blick auf einen ledergebundenen Umschlag fiel. Nur eine Ecke schaute unter dem Stapel loser Blätter hervor.
Die Tür war immer noch verschlossen.
Vorsichtig legte Hinrich einige Rollen Pergament zur Seite. Noch einen Stapel Papiere, wobei er sich die Reihenfolge genau merkte, dann zog er den Ledereinband nach oben. Behutsam zog er das Band auseinander, das den Stoß Papiere zusammenhielt. Es hatte Ähnlichkeiten mit seinem Tagebuch.
Hinrich lauschte.
Unsicher nestelte er am Einband. Es knarrte – Bodendielen!
Hastig knotete Hinrich den Einband wieder zusammen, legte ihn auf den Eichentisch und stapelte Papiere darauf. Lag die Lederecke so? Dann noch die Rollen Pergament …
„Was machst Du hier?“
Hinrich fuhr herum.
„Verschwinde sofort! Du hast hier nichts zu suchen.“
Hinrich zog seine Schultern höher, doch er stand noch immer leicht gekrümmt da und zitterte innerlich. Die Worte stammten von einem gichtigen und zahnlosen alten Mann. Der junge Kerl dahinter war in Hinrichs Alter. Er ballte seine Hände.
„Nimm die Finger von den Rollen“, schrie der Alte mit kräftiger Stimme. Dabei humpelte er erstaunlich schnell zum Eichentisch. Hinrich wich einige Schritte zurück. Dann stieß er mit dem Rücken gegen die Buchreihen.
„Ich, ich bin Hinrich, der neue Schreiber.“
„Pah!“
„Der Bürgermeister hat mir diesen Raum angewiesen.“
„Pah, das kann jeder behaupten. Verschwinde!“
„Vater, Vater, wenn es nun tatsächlich der neue Schreiber ist?“
„Dann wird er morgen wiederkommen“, unterbrach der Alte seinen Sohn. Dabei verfolgte sein Blick jeden von Hinrichs flüchtenden Schritten, zurück auf die Rathhaustreppe.
Unschlüssig stand Hinrich oben auf der Treppe und beobachtete die Bürger auf dem Markt. Die Bürger beachteten ihn nicht. Es schneite. Seinen Wollumhang hatte der junge Schreiber in der Schreibstube gelassen. Ihn quälten seine Glieder und Kopfschmerzen. Er wollte keinen Menschen treffen. So schlich er mit eingezogenem Kopf in seine Kammer und schlief, kaum dass er auf der Schütte lag, ein.
Am nächsten Morgen war der Schnee dem Matsch gewichen. Hinrich hatte den ganzen Tag und auch die Nacht durchgeschlafen. Nun stand er frisch gestärkt vor der Nikolaikirche. Ein Bote des Probstes hatte ihn bei Merten aufgesucht, und in die Kirche gebeten.
Er freute sich auf seinen Freund, er freute sich auf Gespräche mit dem Probst und er hatte eine Menge Fragen.
In der Nicolaikirche stürzte er an den Bankreihen vorbei in die Sakristei. Erst in der Mitte der Bankreihen mäßigte Hinrich seinen Schritt. Er kniete in Höhe des ersten Säulenpaares nieder, bekreuzigte sich und schritt weiter. Beim zweiten Säulenpaar blieb Hinrich stehen und sah hinauf. Durch siebzehn Fensterluchten brach sich das Licht in bunten Glasbildern. Hammerschläge, von den Kupferschlägern, die auf dem Dach arbeiteten, begleiteten seinen Weg in die Sakristei. Der Probst saß bei einer warmen Biersuppe, als Hinrich in die Stube stolperte. Sein Gesicht glühte trotz des vielen Schlafes weiter fiebrig. Sein Atem rasselte und noch bevor er eine Begrüßung stammeln konnte, ließ der Probst einen zweiten Napf auf den Tisch stellen.
„Wie ich sehe, habt Ihr gut geschlafen“, begrüßte der Probst seinen Zögling fröhlich. „Verschlafen“, lachte er.
„Ich bin sofort in tiefen Schlaf gefallen. Mir geht es heute besser. Mein Kopf ist nicht mehr so heiß und meine Glieder schmerzen nicht. Auch bekomme ich wieder Luft durch die Nase.“
„Ihr habt also die Kammer bei Merten bekommen?" fragte der Probst fast beiläufig. Er schaute von seinem Napf auf.
„Ja, aber sagt“, Hinrich setzte sich, „warum habt Ihr mir Merten empfohlen? Mir scheint, es ist ihm nicht recht.“ Hinrich wärmte seine Hände am heißen Teller und begann seine Suppe zu schlürfen.
„Merten ist ein knurriger Vogel. Knurrig aber gut. Seine Frau ist gottesfürchtig und ehrlich. Dort seid Ihr gut aufgehoben.“
„Dann habe ich die Kammer wohl mehr seiner Frau zu verdanken.“
Der Probst hörte kaum zu und widmete sich stumm seiner Suppe. Hinrich tat es ihm gleich.
„Ich möchte Euch eine Freude machen“, unterbrach der Probst das gefräßige Schweigen nach einer Weile, und wischte sich den Mund am Ärmel seiner Kutte ab. „Ich kann mir denken, dass der Empfang nicht besonders einladend war. Manchmal vergessen die Menschen hier die Tugenden der Gastfreundschaft. Es sind jedoch alles rechtschaffene, ehrliche Menschen. Ich selbst bin schon viel zu lange hier. Von Zeit zu Zeit lasse ich mich von ihnen anstecken. Doch wenn sie einen Fremden in ihr Herz geschlossen haben, gehört man zu ihnen.“
„Ihr sagtet was von einer Freude?“
„Ja, gewiss doch. Ich werde Euch Eure neue Heimat zeigen. Ihr sollt auch einige Bürger kennenlernen.“
„Damit macht Ihr mir eine Freude.“ Hinrich wischte sich die Hände an seiner engen Lendenhose ab und folgte dem Probst auf die Strate.
„Damit macht Ihr mir wirklich eine große Freude. Wie Ihr Euch denken könnt, ist auch dies ein Grund, warum ich Lübeck verlassen habe. Menschen und Landschaften kennenlernen. Den Menschen helfen, ihnen beistehen, Sorgen und Nöte von ihnen abwenden, sie vielleicht etwas lehren. Das alles wird den Geist erlaben. Und außerdem“, fügte Hinrich leise hinzu, „vielleicht wird dies hier wahrhaftig meine Heimat.“
„Nicht, dass Ihr Euch verwirren und beeinflussen lasst.“
Auf dem Marktplatz holte Hinrich tief Luft und schaute sich um. Hier tummelten sich die Bürger von Kyl um die Buden und Scharren der Händler. Allmählich erwachte in ihm das Gefühl des Neuen, eine Aufgabe zu haben. Das Gefühl, etwas erreichen und bewirken zu können. Langsam schlenderten beide durch die Gänge.
An einem Tisch strich Hinrich über dicke Pelze aus Russland. Der Kaufmann hinter dem Stand bot Probst Paul einen Stiel mit Honig an. Dieser lutschte kurz daran und reichte ihn im Gehen an Hinrich weiter. Der Honig verbreitete einen herben Duft nach Tannen und Moos.
„Kostet, nur zu.“
Im Mund von Hinrich zerfloss der Honig in eine feine aromatische Süße. Ein Aroma von Wald und Beeren. Doch je mehr er lutschte und saugte, desto holziger wurde der Geschmack, und so ließ er den Stiel fallen.
„Unterschiedlicher können die Scharren nicht sein“, bemerkte der junge Schreiber an einem Stand mit Robbenspeck.
Hinter seinem Rücken kämpfte eine Schar Kinder um den matschigen Honigstiel.
Neben dem Speck lagerte geteertes Bauholz aus Schweden und Kalk aus Gotland.
„Alle nur auf der Durchreise“, erklärte der Probst. „Das, was die Händler nicht gleich losschlagen, geht weiter nach Lübeck.“
„Das alles hier?“
„Ja, zurück bleibt nur das, was von Fehlern gekennzeichnet, oder mit dem Fluch des Verderblichen behaftet ist.“
Unterschiedliche Düfte lockten sie zum Rathhaus, dessen erste Etage so überstand, dass sich darunter ein Arkadengang bildete. Dort hatten die reichen Händler, die mit den Gewürzen, und die Küter ihre Scharren. Von dort erfasste auch der stetige Wind die verführerischen Düfte und verteilte sie in den Gassen Kyls. Frisch geschlachtetes Fleisch lag neben altem, und der Gestank von Fäulnis und Schimmel überlagerte die Wohlgerüche von fremden Gewürzen und Kräutern.
Bettler suchten ebenso durch den Winter zu kommen, wie die Reichen.
Hier stehend konnte Hinrich den gesamten Marktplatz einsehen. Die Nikolaikirche bekam ein Kupferdach. Sie stand im rechten Winkel zum Rathhaus. Beide wurden aus gebrannten Steinen erbaut.
„Seht Ihr dort das Franziskanerkloster?“
Hinrichs Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Probstes. Das Haus der Bettelmönche stand der Nikolaikirche gegenüber. „Dort haben die grauen Mönche ihre Kirche“, sagte der Probst. „Eine Kirche für Gesinde und Bettler.“
Das Franziskanerkloster war auch aus Brandsteinen errichtet.
„Kommt weiter, hier entlang.“ Probst Paul führte Hinrich nach Norden, über den Marktplatz am Pranger vorbei, in die Burgstrate. Sie führte zum Sitz des Grafen. Kyl bestand aus eingeschossigen Holzbuden und Fachwerkbauten. Sie wurden teilweise auf Pfählen errichtet, oder schlicht aus Lehm in den sumpfigen Grund gebaut, mit Stroh bedeckt, und konnten stärkeren Winden kaum standhalten. Bei der feuchtsalzigen Witterung des Meeres verrotteten sie schnell und mussten alle dreißig bis fünfzig Jahre erneuert werden.
„Hier lebt man mit dem Vieh unter einem Dach“, erklärte der Probst. „Hinter den Häusern sind die Gärten.“ Vor den Türen der Holzbuden lagen Misthaufen, Unflat von Mensch und Tier. Manche Haufen dampften. Die Kälte unterdrückte den stechenden Gestank. Hunde, Katzen und Kinder spielten neben und auf den Haufen.
„Eigentlich ist es verboten, seinen Unrat in den Gassen abzuladen. Dafür gibt es die Faulstrate. Aber das kann man diesen Knechten und dem Gesindel nicht beibringen. Manchmal, nachts, werden die Kloaken gereinigt und die Haufen weg gekarrt. Zum Leidwesen Kyls zu selten.“
Die Burg war die höchste Stelle Kyls. Sie hatte keine Mauer zur Stadt, war aber Bestandteil des Planken- und Palisandenwerks. Von dort blickte man weit in den Fjord und in das Land hinein.
Mit einer ausladenden Geste zeigte der Probst über die Stadt. Außerhalb von Kyl waren die Felder weiß und die Bäume bogen sich unter der Last des nassen Schnees.
„Dies ist meine Heimat, mein Kyl. Es gibt nur zwei Verbindungen zum Festland. Geht man die Dänische Strate weiter nach Norden, aus der Stadt raus, so kommt man über Land ins Dänische. Gehen wir über den Marktplatz, zurück in die Brückenstrate, kommen wir in das Land der Schleswiger und Holsteiner. Seht Ihr dort am Ende? Die fünfzig Meter lange Holzbrücke?“
„Von dort bin ich nach Kyl gekommen.“
„Das ist die Verbindung der Halbinsel nach Süden mit dem Festland.“
Hinter der Brücke konnte Hinrich die St. Jürgenkapelle sehen. „Die Kapelle der Kranken und Siechen“, erklärte Probst Paul und sagte weiter: „Kommt, genug für heute. Wir gehen zurück zum Markt.“
Der Probst zupfte Hinrich am Ärmel. „Dort hinten ist Johannes Vysch, der Sohn von Peter, dem ersten Stadtschreiber“, flüsterte er, als er ihn die Rathhaustreppe hinaufgehen sah. Das prächtige Rathhaus zeugte davon, dass der listige Rath immer mehr Macht über die Regierungsgeschäfte gewann.
„Ich habe ihn gestern gesehen“, antwortete Hinrich. „Ein unangenehmer Bürger. Er war in Begleitung seines Vaters.“
„Dann habt Ihr den Schreiber kennengelernt?“ fragte der Probst lauernd.
„Nein, nicht richtig. Er hat mich aus der Schreibstube geworfen.“
Der Probst lächelte. „Johannes kann weder lesen noch schreiben. Die Finger seines Vaters wurden mit der Steifheit des Alters bestraft. Dies ist auch der Grund, warum Ihr für den Rath schreiben sollt“, spottete Paul und fügte hinzu: „Für unsere Berufung ist es ein glücklicher Umstand.“
„Was für eine Berufung?“
„Schaut dahinten, dort ist der Boyenhusen.“
Doch Hinrich sah nach links, in eine andere Richtung. Von dort ertönte Gejohle und Gelächter. Eine Menschentraube vor dem Rathhaus versperrte ihm die Sicht und den Weg. Atemwolken hingen nebelig über erhitzten Köpfen. Das Gekreische und Gelächter wurden immer lauter.
Der junge Schreiber zupfte Probst Paul am Wollmantel. „Dahinten, was ist dort?“
„Schweineschlagen“, antwortete der Probst knapp. „Möchtet Ihr zusehen?“
Langsam drängten sie sich an den Massen vorbei. Meistens wurde ihnen freiwillig Platz gemacht; diese Bürger erkannten den Probst. Einige mussten zur Seite geschoben werden; auch sie erkannten den Probst.
Dann standen sie vor einem Schweinepferch. Die Wärme, der sich im Schlamm wühlenden Körper, brach den gefrorenen Boden auf. Ein Ferkel sprang quiekend über einen halb nackten Menschen, der mit einem gespaltenen Schädel blutend am Boden lag. Ein anderer, er bewegte sich kniend vorwärts, seine linke Hand hing gebrochen an ihm herunter, schlug mit einem Knüppel in die Richtung, aus der das Quieken kam.
Der Probst fing an zu johlen. „Das sind Blinde“, freute er sich. „Derjenige, der das Ferkel mit seinem Knüppel erlegt, oder sich als Letzter bewegt, darf es behalten. Für die Familie bedeutet es das Überleben für vier Wochen.“
Ein dumpfer Schlag ließ Hinrich zusammenfahren. Der Blinde mit der gebrochenen Hand schlug auf einen regungslosen Körper ein, der aus immer neuen Wunden blutete. Die Menge grölte. Er hörte erst wieder auf, als das Quieken aus einer anderen Ecke kam.
Ein Dritter bekam den Hinterfuß des Ferkels zu fassen und kämpfte dabei mit einem Vierten, der wild mit dem Knüppel um sich schlug. Ein anderer Blinder wälzte sich auf die Geräusche zu und hieb solange mit dem Knüppel in den Schlamm, bis er etwas Weiches traf. Dann schlug er mit all seiner Kraft zu. Beim Knirschen berstender Knochen senkte Hinrich seinen Blick. Die Menge tobte. Der Probst sprang begeistert von einem Bein aufs andere. Ein leichtes Stöhnen entrann dem Getroffenen, dann floss Blut aus all seinen Körperöffnungen. Zwei von Fünfen bewegten sich noch. Ein Zuschauer nahm das Ferkel aus dem Pferch und wurde mit Beifall belohnt. Mit zerschundenen Körpern, fast nackt, krochen die beiden Blinden durch den Schlamm. Den Kopf erhoben, als würden die Ohren wachsen können, tasteten sie sich vorwärts. Dann warf der Zuschauer das Ferkel unter kreischendem Gelächter der Menge wieder in den Pferch. Das Startzeichen. Wild um sich schlagend bewegten sich beide aufeinander zu. Der Probst schlug im Takt der Knüppel mit seiner Hand auf den Holzpferch. Hinrich dagegen wagte kaum hinzusehen. Er fing an zu schreien, doch das ging im Gebrüll der Menge unter; dann traf ein Knüppel einen Schädel. Knochensplitter, Blut, Haare und Hautfetzen flogen durch die Luft. Mit einem Pfeifen sank der getroffene Körper zusammen. Blut pulsierte in den Schlamm. Hinrich sah eine weiß-rote Masse im geplatzten Kopf und übergab sich, während einige Zuschauer den Blinden mit der gebrochenen Hand, unter Beifall, als Sieger aus dem Pferch führten.
„Den bringen sie nun mit dem Ferkel in die Küterstrate, dort wird es geschlachtet. Er kann es mit nach Hause nehmen“, erklärte der Probst.
Hinrich wischte sich den Rest Erbrochenes aus dem Gesicht und würgte erneut. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die leblosen, dampfenden Körper aus dem Pferch gezogen wurden.
„Kommt“, forderte der Probst und als der die Augen von Hinrich sah: „Gott tut alles wegen eines Ziels. Dort hinten, schaut! Seht Ihr den Rothaarigen, den bärtigen Mann?“
„Ich glaube! Nie könnte ich verstehen, wenn ich nicht glaubte“, sagte Hinrich zu sich selbst, dann zum Probst: „Meint Ihr den, der bei Johannes Vysch steht?“
„Ja, das ist der Kerzengießer Marquard Arpe. Man flüstert, er sei ein Goldmacher.“
„Hinter jedem Gerücht steckt immer etwas Wahres. Wie kommt Ihr darauf?“
„Der Claus Eseke verriet es mir. Er ist gottesfürchtig und mir ergeben. Als Rathsmitglied kennt er den Schoß vom Kerzengießer. Der ist arm, aber auf einmal wurde er in den Rath gewählt.“
Der Probst stieß einen Krüppel beiseite und grinste, als dieser, trotz seiner Krücke, den Halt verlor und in einem Misthaufen zu Fall kam.
„Danke, vergellt`s Euch Gott“, rief der Krüppel demütig.
Hinrich schaute über seine Schulter. Ein Bettelmönch lief heran und half dem Krüppel auf die Beine. Zum Schluss gab er ihm etwas von seinem Bettelgut. Hinrich schaute in die Augen des hageren Franziskaners. Ein Lächeln umspielte das spitze Gesicht unter der Kapuze.
„Wieso habt Ihr das getan? Warum habt Ihr ihn gestoßen?“ Hinrich blieb stehen. „Es war ein ehrlicher Bettler.“
„Wartet nur die Zeit ab!" antwortete der Probst in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Wir sind Kirchenmenschen. Unsere Aufgabe besteht darin, für das Seelenwohl, nicht für das leibliche Wohl der Menschen zu sorgen. Das ist die Aufgabe der Weltlichen.“ Barsch fuhr er fort: „Wie ich sehe, habe ich Euch noch nicht alles gelehrt. Ihr werdet es noch lernen. Wir müssen auf der Hut sein. Der Rath, die Weltlichen, sie versuchen Einfluss auf die Kirche zu nehmen. Das können wir nicht zulassen. Und dann noch diese Bettelmönche ...“
„Aber sie sind doch auch Verkünder von Gottes Worten. Ist es nicht so, dass wir alle die gleiche Aufgabe haben?“
„Kümmert Euch nicht um solch weltliche Angelegenheiten. Haltet Euren Geist rein für die wahren Dinge des Lebens. Kommt, wir gehen auf einen Krug in den Rathskeller.“
Der Lärm von rauen, ungehobelten Bürgern und besoffenen Seemännern schlug ihnen entgegen, als sie der gewundenen Steintreppe nach unten in die Schankstube folgten.
„Hier trifft sich auch der Rath auf einen Krug“, erklärte der Probst. „Auch die Wache trinkt hier noch ein oder zwei Krüge, vor ihrem Dienst.“
Hinrich drehte sich um. Erst nach links, dann nach rechts. Doch niemand beachtete ihn. Er fühlte sich einsam, unwohl und blieb immer in der Nähe des Probstes.
An einigen Tischen wurde gedobbelt, geschlemmt und vor allem gezecht. Eine verschworene Gemeinschaft. Menschen, die nicht nur eine Not zusammen überstanden hatten, die nicht zum ersten Mal Krüge miteinander leerten.
In der hinteren Ecke, unter dem letzten Gewölbe, entdeckte Hinrich den alten Stadtschreiber mit seinem Sohn Johannes.
„Ich möchte Euch den Eseke Claus vorstellen.“ Probst Paul zog Hinrich an einen Tisch. Hinrich drehte sich zurück zum Tisch der Vysch. Sie unterhielten sich angeregt, stritten.
„Er ist Rathsmitglied und frommer Kirchenmensch.“ Hinrich hörte kaum zu. Peter und Johannes Vysch stritten sich heftig. Der alte Stadtschreiber schrie seinem Sohn ins Ohr, dann schlug er ihm über die Wange und blickte in Hinrichs Richtung. Der schaute verlegen weg und errötete.
„Claus, das ist Hinrich. Der neue Schreiber für die Kirche und für den Rath.“
„Es freut mich. Wie war Eure Reise?“ die schwache Stimme von Claus Eseke war bei dem Lärm kaum zu verstehen. Gebückt und mit gesenktem Kopf stand er vor Hinrich.
„Gut, danke.“ Hinrich schaute über seine eigene Schulter.
Der alte Stadtschreiber schlug mit seiner gichtigen Hand auf den Arm von Johannes und zeigte auf den ledernen Einband auf dem Tisch vor ihnen. „Das ist doch das Tagebuch“, dachte Hinrich. Die Blicke von Hinrich und Peter kreuzten sich.
Hinrich wandte sich erneut ab.
„Sieh an, der Probst mit seinem Schreiber“, höhnte Johannes Vysch von hinten. „Probst Paul, wenn Ihr entschuldigt“, fuhr er fort. „Ihr habt sicherlich nichts dagegen, wenn ich Euch den Schreiber entführe? Mein Vater, Ihr kennt sicherlich seine Natur, möchte ihn kennenlernen. Außerdem möchte er sich für das Treffen in der Schreibstube entschuldigen.“
„Ja sicher“, setzte der Probst an.
„Wieso fragt Ihr nicht mich“, fiel Hinrich seinem väterlichen Freund ins Wort. „Schließlich kann ich für mich selbst sprechen.“
Der Probst fuhr herum. Johannes' Blick wanderte zwischen den beiden hin und her.
„Verzeiht!" sagte er zum Probst, dann zu Hinrich: „Wollt Ihr der Bitte meines Vaters folgen?“
„Das will ich gerne tun.“
„Dann bittet er Euch zu sich an den Tisch.“
Johannes schob einige Bürger beiseite.
„Mit Eurem Einverständnis“, Hinrich sah dem Probst in die Augen.
„Geht nur.“ Der Probst zog Hinrich am Kragen zu sich ran. „Aber vergesst nicht“, flüsterte er, „ich habe Euch noch einiges mitzuteilen. Und seid auf der Hut. Peter Vysch ist ein schlauer Hund und niemand weiß, was er ausheckt.“
Hinrich schaute sich um und bemerkte die warnenden Blicke des Probstes.
„Bitte setzt Euch.“ Peter Vysch zog Hinrich hinunter an den Tisch. Bier, Wein und Brotkrumen verschmierten die abgestoßene Tischplatte. Hinrich spielte nervös mit einigen Krumen. Immer wieder schaute er zum Probst, dann wieder zu Peter. Mit einer linkischen Geste wischte der alte Stadtschreiber alles vom Tisch: „Zuerst möchte ich Euch um Verzeihung bitten.“
„Das ist nicht nötig.“
„Lasst mich ausreden“, fuhr Peter Hinrich über den Mund. „Aber Ihr müsst verstehen; in der Schreibstube werden Dokumente aufbewahrt. Seht Euch doch um. Es lungert überall allerhand Gesinde herum.“
„Eure Entschuldigung nehme ich gerne an.“ Hinrich setzte sich aufrechter hin und sah sich erneut um.
„Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten.“ Dabei beugte sich der Alte nach vorne: „Seid Ihr so gut, und wollt ihn erfüllen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Meine Augen sind vom Nebel umflossen und meine Finger gehorchen mir nicht mehr. Mein Erbe, dieser Tor, hat weder lesen noch schreiben gelernt. Wollt Ihr Euch um ihn kümmern, und es ihn lehren? Von mir nimmt er nichts mehr an.“
Johannes schluckte, als er den Blick seines Vaters sah.
„Habt Ihr keine Lateinschule?“ fragte Hinrich, obwohl er die Antwort schon kannte.
„Nein, der Rath bat den Probst, sich für die Einrichtung einer Schule einzusetzen, doch der kümmert sich nicht um solche Belange.“
„Habt Ihr ihn denn persönlich um diesen Gefallen gebeten? Ich bin mir sicher, er hätte Euch diese Bitte nicht abgeschlagen.“
„Doch, genau das hat er getan. Es kümmert ihn nicht. Er kümmert sich nicht. Weder um die Armen, noch um die weltlichen Dinge.“
Hinrich suchte den Blick seines alten Magisters von der Lateinschule in Lübeck. Der Probst stand im Kreis aus einigen Bürgern. Sie nickten zustimmend.
„Wenn es so ist“, Hinrich, schaute sich noch einmal um, „dann werde ich Euren Sohn unterrichten.“ Dann stand er auf und folgte dem Winken des Probstes.
„Was wollten die Vysch?“ fragte der Probst, als sie zurück auf den Marktplatz gingen. Der Wind trieb die Geräusche und Gerüche des Meeres zu ihnen.
Die Händler räumten ihre Scharren zusammen. Einige Bettler versuchten noch wenige Brocken zu erhaschen.
„Er bat mich um Verzeihung, für sein Verhalten in der Schreibstube.“
„Das war alles?“
„Er bat mich auch, seinen Sohn im Lesen und Schreiben zu unterrichten.“
Der Probst blieb abrupt stehen und hielt Hinrich fest.
„Habt Ihr dieser Bitte entsprochen?“
„Er ist ein alter Mann! Voller Gram darüber, dass er seinem Erbe nicht lehren konnte, was sein Leben füllte. Wie könnte ich solch eine Bitte abschlagen?“
„Nun, Ihr müsst wissen, was Ihr tut. Aber seid gewarnt. Er ist zwar ein alter, aber auch ein sehr listiger Mann.“
„Er erzählte mir, er hätte auch Euch gefragt. Wieso habt Ihr ihm die Bitte nicht erfüllt?“
„Ich habe meine Gründe“, antwortete der Probst leise. „Schon letztes Jahr wollten die Augustiner von Bordesholm nach Kyl umsiedeln. So schrieben wir die Kurie an.“
„Doch der Erzbischof legte sein Veto ein“, unterbrach Hinrich seinen Magister, „davon habe ich gehört.“
„Als der Bote nach Avignon unterwegs war, bekam der alte Vysch Kenntnis davon und unterrichtete den Rath. Hinrich, Ihr müsst wissen, die Nikolaikirche ist reich. Und der Rath hat ein Mitspracherecht bei der Vergabe der Pfründe. Nur ein kleiner Teil dessen, was der Kirche zusteht, bekommt sie auch“, presste der Probst mit geballten Händen hervor. „Den andern Teil bekommt der Rath. Es wäre anders, wenn das Patronat an mein Chorherrenstift abgetreten wird und die Augustiner hier in Kyl ansässig wären. Dann hätte der Rath keinen Anspruch auf die Einnahmen der Kirche.“
„Wieso?“
„Wie ich erwähnte, der alte Vysch erfuhr davon und unterrichtete den Rath. Der wiederum schickte einen Boten nach Bremen zum Erzbischof. Dies war seine List. Der Läufer aus Bremen war eher zurück, als der aus Avignon. Und der Bischof aus Bremen nahm die Nikolaikirche unter seinen persönlichen Schutz. Ferner beanspruchte er zwanzig Witten von hundert. Und dieses Recht ließ sich der Rath auch von der Kurie bestätigen.“
„Ihr meint, das war der alte Schreiber?“
„Seht Euch doch den Boyenhusen an. Er ist ein einfältiger Narr. Dem Vysch war es von jeher ein Dorn im Auge, dass wir die ganzen Einnahmen beanspruchten. Zurzeit erhalten wir nur die Pfründe für diese Stelle.“
Allmählich wurde es dunkel. Aus Norden wehte ein eisiger Wind durch die Gassen. Der restliche Schnee verharschte. Überall schaute dunkle, lehmige Erde hervor. Es roch feucht.
„Drum seid gewarnt!“ Hinrich zuckte über den plötzlichen Tonfall zusammen. „Der alte Vysch hat Euch nicht ohne Grund gebeten; Ihr seid noch so unerfahren.“
„Euren Rat beherzige ich gerne. Doch ich gab mein Wort. Ich kann ihm diese Bitte nicht verwehren.“
„Euer Wort ist mir genug. Und nun verzeiht, ich werde noch in der Sakristei erwartet.“ Der Probst ließ seinen ehemaligen Schüler stehen.
Hinrich drehte sich auf dem Kirchhof um.
Das Streben und Handeln auf dem Marktplatz war nun der Einsamkeit des Fremden gewichen.
Einen Moment lang spielte Hinrich mit dem Gedanken zu beten. Wie er es jeden Abend tat, doch die Kannen Bier und das Erlebte ließen ihn noch einmal durch die Gassen von Kyl ziehen.
Er schlenderte am Franziskanerkloster vorbei und bestaunte die viereckige Backsteinkirche ohne Turm. Nur ein kleiner spitzer Dachreiter, mit einer winzigen Glocke, zierte dies schmucklose Gebäude.
Hinrich hatte schon viel von den Mönchen gehört, die jeden Besitz ablehnten, und war versucht, über die Mauer zu sehen. Als sich die Tür öffnete und zwei Bettelmönche hinaustraten, zog er sich zurück.
Verwirrt eilte Hinrich zurück in seine Kammer. In Einsamkeit wollte er seine Gedanken sortieren.
Die Stimmen, die durch die Ritzen der Bodenbretter drangen, beachtete Hinrich nicht. Seine Gedanken verloren sich in der Dunkelheit. Die schnellen Trippelschritte einer Ratte waren diese Nacht die einzigen Geräusche, die ihn in den Schlaf begleiteten. Und während sich Hinrich der Erschöpfung und dem Vergessen hingab, bedauerte er, nicht niedergekniet und Gott für sein Leben gedankt zu haben. Das erste Mal seit mehr als einem Jahrzehnt. Allmählich verschwanden die Schritte der Ratte hinter dem Schleier der Träume. Dafür nahm Hinrich die quälenden, immer wiederkehrenden Schreie der Blinden vom Schweineschlagen mit in seinen ruhelosen Schlaf. Einer der Blinden hatte das Gesicht des Probstes, ein anderer sah aus wie der Vysch, ein weiterer wie der Bürgermeister. Der Sieger, das Ferkel, hatte nur ein Auge.
Dieser Traum verfolgte Hinrich auch in den folgenden Nächten. Jedes Mal wichen die Traumschatten der flackernden Wachslichte oder dem fahlen Morgenlicht. Anfangs wälzte sich der junge Schreiber ungeduldig und schweißgebadet auf der Schütte. Später erkannte er die Unsinnigkeit seines Kampfes und stand auf. Er setze sich an die Butzenscheibe seiner kleinen Kammer. Dieses Spiel wurde ihm besonders lieb. Er hatte gegenüber das Tor zu Gottfrieds Badestube im Blick, und zählte die nächtlichen Besuche der Rathsmitglieder und des alten Schreibers mit seinem Sohn. Er sah, wie Bürger in die Stube schlichen und nach einer Weile auch wieder herausschlichen. Andere wiederum, ohne jegliche Scham, kamen fast jeden Abend.
Allmählich schätzte Hinrich die den Geist entspannende Wirkung von Bier vor dem Schlaf.
Hinrich spürte den harten Boden unter sich. Er fühlte, wie die kalten Winde des Meeres versuchten, die Lehmwände zu durchdringen. Der vom Kaltschweiß durchnässte Leibrock klebte an seinem ausgemergelten Körper. Der silbrige Glanz des Mondes zauberte ein Zwielicht in seine Kammer. Die Stimmen vor Gottfrieds Badestube waren verstummt.
Hinrich setzte sich auf und sah sich um. Sein Blick erfasste sein Tagebuch, das kleine Fässchen mit Tinte und hinten in der Ecke den Wanderbeutel, mit seinen wenigen Habseligkeiten.
Der Geschmack von fahlem Bier erfüllte seinen Mund und ließ ihn aufstoßen. Er fuhr sich durch seine halblangen braunen Haare und setzte sich auf. Das obere feuchte Stroh schob er beiseite und packte eine Lage Trockenes darüber. Die Abende mit dem Probst im Rathskeller waren in den wenigen Tagen fast schon zur Gewohnheit geworden. Hinrich kannte das Gefühl, zu viel getrunken zu haben. Damals, als Jüngling in der Lateinschule, hielten sie ihn fest und flößten ihm Bier ein. Damals kehrte sich sofort sein Inneres nach außen und damals erbrach er die spärliche Mahlzeit, die er zuvor eingenommen hatte.
Hinrich hatte sich an die Späße seiner Mitschüler gewöhnt. Jeder noch so derbe Spaß spornte ihn an, seine Mitschüler mit Worten und dem Geist zu besiegen. Von Zeit zu Zeit hatte Probst Paul ihn zur Seite genommen und getröstet.
Hinrich schloss seine Augen und lauschte den Geräuschen. Die kleinen leisen und schon so vertrauten Schrittchen der Ratte waren zur Selbstverständlichkeit geworden. Das Huhn, das nachts noch einmal auf Körnersuche ging. Leise, durch Wände gedämpft, das Schnauben eines Ochsen und unter ihm der kräftige Atem von Merten von der Heide. Ein Knacken im Gebälk. Geruch nach kaltem Rauch und Staub. Draußen das flehende Mauzen einer Katze – ein Hund, der sich in seiner Nachtruhe gestört fühlte. Hinrich schlief ein.
Als er erneut erwachte, waren viele Geräusche anderen gewichen. Merten von der Heide schlief hörbar unruhig. Wahrscheinlich suchten auch ihn die Erinnerungen vergangener Zeiten heim. Hinrich zog sein feuchtes Hemd etwas enger. So kämpfte er mit dem Mond und den Erinnerungen um eine weitere Zeit der Erholung, bis die ersten Stimmen ihn weckten.
Er griff sich seine langen Strümpfe, die er an die Lendenhose knöpfte. Am linken Strumpf fehlte die Ledersohle. Danach band er die ausgetretenen Fußlappen um und griff sich den klammen Kapuzenmantel aus Wolle. Mit seiner dunkelgrauen Kleidung unterschied er sich kaum von den Landmännern und dem Gesinde. Nur die reichen trugen farbige Leibhemden. Hinrich gähnte. Die Stiege hinunter in die Diele knarrte.
Eine Magd war gerade dabei die Glut neu zu entfachen, während eine andere nach hinten zu den Ställen ging. Hinrich folgte dem Knecht nach draußen, wo er ein Loch in ein gefrorenes Fass mit Wasser geschlagen hatte. Mit einer Handvoll Sand und Wasser versuchte Hinrich, den Rest der Nacht aus seinem Körper zu vertreiben. Dann nahm er den Beutel mit den Pfefferminzblättern, steckte sich eins in den Mund und kaute solange darauf rum, bis es faserig auseinanderfiel. Hinrich ging zurück in die Diele und spie es aus.
Die Knechte saßen am Tisch. Keiner nahm Notiz von ihm. Von Zeit zu Zeit aber warfen sie verstohlene Blicke in seine Richtung. Jeder fuhr mit seinen Händen in den großen Napf mit Gerstenbrei. Jeder war damit beschäftigt, möglichst viel vom klebrigen Mahl zu erhaschen. Dazu tranken alle aus einem Krug. Hinrich suchte einen Platz an der Tafel, doch niemand rutschte zur Seite.
Über ihre Köpfe hinweg griff Hinrich auf den Tisch und nahm sich ein Stück Roggenfladen. Damit ging er nach draußen auf die Strate.
Hinrich zog seinen Umhang enger. Jeder Atemstoß hinterließ eine weiße Wolke, die einen Augenblick in der Luft stand und dann vom Wind verweht wurde. Der Boden war gefroren. Hinrich musste sich an den Häusern entlang tasten, sonst wäre er ausgerutscht. Die Äste der Birken bogen sich unter der Last des Eises.
Hinrichs Gedanken kreisten erneut um das Schweineschlagen. Auch war er sich nicht sicher, warum sein väterlicher Freund den Bettler zu Fall brachte. „Ich werde ihn heute fragen“, murmelte er zu sich. „Es war nicht recht den gottesfürchtigen Bettler zu stürzen, der uns prüft und uns so die Gelegenheit gibt, gütig zu teilen. Er zeigt uns unsere Schwächen. Er zeigt uns aber auch den Weg und mit seinem Gebet erfüllen wir den Willen Gottes.“
„Guten Morgen, mein Herr“, empfing ihn Gottfried der Bader, der im gleichen Moment auf die Schumacherstrate trat.
„Gott zum Gruße“, erwiderte Hinrich freudig. „Was denkt Ihr, wie lange hält uns der Frost noch in seinen Fängen?“
„Das vermag ich nicht zu sagen. Aber wie ich sehe, hattet Ihr eine schlechte Nacht.“
„Zuviel der Kannen voll Bier“, rang Hinrich sich ein Lächeln ab.
„Ihr solltet vorsichtig sein, wenn Ihr nicht geübt seid. Habt Ihr einen Moment Geduld? Ich komme gleich zurück.“ Bevor Hinrich etwas erwidern konnte, verschwand Gottfried in seiner Badestube und kam mit einem nassen, triefenden Hering zurück. „Selbst wenn es Euch schüttelt, bitte ich Euch, versucht es.“
Um Gottfried nicht zu beleidigen, nahm Hinrich den glitschigen Fisch mit spitzen Fingern und schlang ihn hinunter. Es knirschte zwischen seinen Zähnen, als er den Kopf und die Gräten zerbrach. Essig und Fischsud tropften ihm aus den Mundwinkeln, dann war der Fisch gänzlich verschwunden. Der säuerliche Geschmack war überraschend angenehm.
„Ich danke Euch“, verabschiedete sich Hinrich eilig. „Der saure Fisch nimmt mir meinen Durst und wird mein Inneres beruhigen.“
„Stets zu Euren Diensten“, nuschelte Gottfried mit einem Grinsen und verschwand im Inneren seines Hauses. Hinrich reckte sich, um noch einen Blick in die Badestube zu werfen, hatte er doch schon allerlei Geschichten über öffentliches Baden vernommen. Aber das Tor schloss sich zu schnell hinter Gottfried und ließ nur einen Hauch von den Düften aromatischer Kräuter zurück.
Nur langsam erwachte Kyl zu neuem Leben. Von irgendwoher drang das warnende Geräusch einer Leprosenklapper durch die Gassen - dort bewegte sich ein Aussätziger, ein Feldsieche, wie sie vor jedem Stadttor zu finden waren.
Vor den Toren Kyls lag die St. Jürgenskapelle, mit dem Haus der elenden Siechen. Auf dem Feld davor Planen und grob gezimmerte Holzhütten: Die Unterkunft der Leprösen. Hinrich bekreuzigte sich dreimal und fing an zu laufen.
Im Dämmerlicht des heranbrechenden Tages erkannte Hinrich noch, wie der Sieche in seiner Tracht über die Brücke aus Kyl verschwand. Gedankenverloren verfolgte er das hölzerne Klappern. Die Warnung hallte durch die morgendlichen Gassen. Plötzlich stand einer vor ihm: Weiße Joppe, weißer langer Siechenmantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, weiße Handschuhe.
Hinrich schrie, sprang zurück und stolperte. Er lief los, als der Sieche ihm das Bettelbrett hinhielt. Hinrich rannte. Das wilde Klappern begleitete seine Schritte. Erst an der Nikolaikirche drehte er sich um. Der Sieche war verschwunden. Nur das Klappern zeugte noch von seinem Leben und Leiden. Allmählich verstummte auch dies.
Hinrich zitterte am ganzen Körper und konnte sich kaum beruhigen.
„Was ist denn mit Euch los?“
Wieder sprang Hinrich voller Furcht einige Schritte zurück, doch dann erkannte er die Stimme seines Freundes. „Seid Ihr dem Leibhaftigen begegnet?“
„Nein“, hechelte Hinrich. „Aber die ganze Stadt ist voller Lepröser.“
„Kommt herein und erholt Euch.“ Der Probst fasste Hinrich am Ellenbogen und führte den zitternden Schreiber in die Sakristei. Dort standen schon Brot und Bier auf dem Tisch. „In den Tagen nach der Rathserneuerung ist es ihnen erlaubt in die Stadt zu kommen, um zu betteln. Die Bürger legen allerlei Essen und Trinken vor die Türen, aber bei Sonnenaufgang müssen die Siechen aus der Stadt verschwunden sein“, erklärte der Probst. Dabei reichte er Hinrich einen Napf und einen Fladen. Beide griffen mit den Händen in den Brei und aßen. Dann lehnten sie sich satt zurück. Der Probst trug seine weiße Kutte und den schwarzen Mantel. Er stieß zufrieden auf und wischte seine Hände am Umhang ab. Danach nahm er noch einen Schluck aus dem mit Molke gefüllten Krug.
„Wir haben zweimal im Jahr eine Lepraschau“, erklärte der Probst. „Einmal im Frühjahr und einmal im Herbst. Wenn sich ein Verdacht ergibt, auch öfter. Die Lepraschau findet immer zwölf Tage vor Rathserneuerung statt. Der Besuch der Leprösen in der Stadt gibt ihnen die Gelegenheit, für den neuen Aussatz weitere Nahrung zu besorgen.“
„Wer versorgt sie in den vielen Tagen dazwischen?“
„Es gibt immer brave Leute, die etwas geben. Auch Wanderer, Kaufleute, die in die Stadt wollen und an der Kapelle vorbeikommen. Alle geben in den Armenblock.“
„Ich danke für Speis und Trank.“ Hinrich stand auf.
„Wartet noch“, der Probst hielt Hinrich fest. "Auch wenn ich weiß, dass Ihr heute im Rathhaus erwartet werdet. Wir hatten wenig gemeinsame Zeit.“
„Ja, der alte Schreiber möchte mich in die Bücher der Stadt einweisen.“
„Was habt Ihr denn schon mit dem Vysch besprochen?“
„Nicht viel. Belangloses. Von dem Gespräch im Rathskeller habe ich Euch berichtet.“
„Schon gut. Denkt an meine Worte“, erst jetzt ließ der Probst den Ärmel los. „Schlaft ihr gut bei Merten?“
„Nicht so sehr. Ich habe von dort öfter das Treiben vor der Badestube betrachtet.“
„Ja?“
„Ja, mitten in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Aber das ist nicht so wichtig.“
„Nein“, unterbrach ihn der Probst. „Was habt ihr denn da so gesehen?“ Dabei nahm er noch einen kräftigen Schluck aus dem Krug und blinzelte über den Rand.
„Ich fand das Treiben auf der Strate sehr interessant.“ Hinrich nahm seinen Wollmantel. „Wer da so alles ein- und ausgeht.“
„Ja, ja, das sündige Fleisch. Habt Ihr auch den Altschröder Jochen gesehen?“
„Jochen?“
„Ja, Ihr habt ihn im Rathskeller kennengelernt. Als Ihr beim alten Vysch am Tisch ward. Er stand eine Weile bei mir. Der Probst pulte an einer Wachslichte.
„Kann ich nicht genau sagen. Ich werde in der Schreibstube erwartet. Vielleicht fällt es mir noch ein.“
„Ist auch nicht wichtig. Aber denkt an meine Worte.“
„Ich habe sie nicht vergessen“, rief Hinrich im Gehen.