Читать книгу Für unsere Sünden gestorben? - Burkhard Müller - Страница 6
1. Jedem seine Botschaft
ОглавлениеEIN VATER HAT ZWEI SÖHNE. Der eine von ihnen studiert in Hamburg. Er ist ziemlich faul. Das beunruhigt den Vater. Er möchte, dass sein Sohn eine vernünftige Einstellung zur Arbeit gewinnt. Der andere Sohn studiert in München. Er ist ziemlich fleißig. Er arbeitet sich geradezu krank. Auch das beunruhigt den Vater. Er möchte, dass auch dieser Sohn eine vernünftige Arbeitshaltung entwickelt.
Beiden schreibt er eine Mail. Dem einen schreibt er: Sei bitte etwas fleißiger, streng dich mehr an. Dem anderen schreibt er: Sei nicht so fleißig, streng dich nicht so an. Die Botschaften an die beiden Söhne klingen verschieden, wollen aber in beiden Fällen dasselbe erreichen, eine vernünftige Einstellung der Söhne zum Arbeiten im Studium. Eigentlich ist die Botschaft an beide die gleiche. Aber weil die beiden so verschieden sind, wird die Gestalt dieser Botschaft unterschiedlich, ja gegensätzlich. Jedem schreibt er also etwas anderes, scheinbar Gegensätzliches, weil jedem etwas anderes gesagt werden muss.
Da passiert ihm ein Missgeschick. Er verwechselt die Mailadressen. Dadurch bekommt der Faule die Ermahnung, nicht so fleißig zu sein. Und der Fleißige wird zu noch mehr Fleiß gedrängt: Sei fleißiger! Was als gegensätzlicher Text geschrieben war und doch bei beiden das gleiche Arbeitsverhalten hervorrufen wollte, wird durch die falsche Adressierung zu einem Riesenfehler. Es kommt eben immer darauf an, was ich wem sage.
Gottvertrauen: nichts für jedermann? Sie kennen das schöne Lied von Paul Gerhardt: »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.« Das ist ein Lied, das im Gesangbuch unter der Rubrik »Geduld und Vertrauen« stehen könnte. Aber auch dieses Lied passt nicht für jeden Fall.
Da ist einer, der sich wie wild bemüht hat, sein Leben und seine Lebensverhältnisse in Ordnung zu bringen. Aber immer wieder kommt er an seine Grenzen. Es gibt einiges, was er auch gar nicht ändern kann, was er einfach hinnehmen muss. Ihm könnte dieses Lied zur Erkenntnis verhelfen, dass man nicht alles in seinem Leben selbst in der Hand hat und selbst bestimmen kann. »Gottvertrauen« ist angesagt.
Aber da ist der andere. Er liebt die Ruhe und Gemütlichkeit. Oder offen gesprochen: Er ist stinkefaul. Er müht sich erst gar nicht, er rührt keine Hand. Er denkt: Gott wird es schon richten. Aber Gott richtet nicht, was er selbst richten sollte. Das sieht er völlig anders, denn sein Lieblingslied ist: »Befiehl du deine Wege« – ein Lied, das seiner Trägheit und Faulheit noch ein christliches Tugendmäntelchen umhängt. Das Lied passt einfach nicht zu ihm. Es kommt eben immer darauf an, wem was gilt und was nicht.
Das eine einzige Wort Gottes gibt es nicht Wenn ich auch davon überzeugt bin, dass wir uns von der traditionellen Sühnopfertheologie trennen dürfen und wohl auch sollten, so gibt es natürlich Menschen, die gerade diese Theologie als besonders hilfreich erlebt haben. Mir wurde erzählt, dass z.B Menschen im Kongo, die noch heute eine lebendige Opfertradition kennen, gerade mit dieser Opfertheologie das Wesen des Evangeliums besonders gut verstehen könnten. So mag zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten und gegenüber ganz bestimmten Menschen auch diese Opfertheologie ihren Sinn haben. Es kommt eben immer darauf an, wem ich was sage.
Das eine einzige Wort Gottes gibt es nämlich nicht. Es ist immer anders und verschieden, weil wir Menschen als die Empfänger des Wortes Gottes immer andere sind. Wenn man es einmal zugespitzt sagen will: Es gibt so viele verschiedene Wahrheiten, wie es verschiedene Menschen gibt.
Natürlich gilt eine Predigt im Gottesdienst vielen Menschen gleichzeitig. Aber wir wären überrascht, wenn wir bei einer Überprüfung feststellten, wie verschieden die Leute ein und dieselbe Predigt gehört haben.
Die Zuhörer hören insbesondere das heraus, was auf sie besonders gut passt. Wir »konstruieren« in unserem Kopf unsere Sicht der Botschaft Gottes. So wird es überhaupt erst möglich, dass einer für viele Menschen gleichzeitig predigt. Denn es kommt nicht nur darauf an, wem was gesagt wird, sondern auch, wie er es versteht.
Weil die Botschaft des Evangeliums immer mit verschiedenen Menschen zu tun hat, muss sie immer unterschiedliche Gestalt annehmen: Das Kinderbuch mit biblischen Geschichten sieht völlig anders aus als die Broschüre, die für einen Trauernden geschrieben ist. Ein Buch, das den Weg zum glücklichen Leben zeigen will, sieht anders aus als das Buch, das eine Glaubensfrage erklären will.
Sagen wir es vereinfacht so: Das Evangelium bringt uns das »Ja« Gottes zu unserem Leben. Aber wie das »Ja« konkret erklingt, das ist für jeden anders.
In diesem Buch werden wir uns damit beschäftigen, warum heute für viele die traditionelle Opfertheologie nicht mehr taugt, das »Ja« Gottes hörbar zu machen, obwohl sie dazu entwickelt war.
Für wen etwas geschrieben wurde Wer Erfahrung im Bibellesen hat, wird längst gemerkt haben, dass die Bibel keine Sammlung allgemeingültiger Wahrheiten ist, sondern von verschiedenen Menschen für verschiedene Menschen aufgeschriebene Texte enthält. Darum fängt die Bibel in ihrer Lebendigkeit oft erst dann an zu leuchten, wenn wir eine Vorstellung davon bekommen, wer damals die Texte aufgeschrieben hat und für wen; was der Schreiber und seine ersten Leser gedacht und geglaubt haben.
Dann ist der Bibeltext auf einmal die eine Seite eines lebendigen Dialogs mit dem anderen, für den er aufgeschrieben wurde. Was waren das damals für Menschen, was waren ihre Ängste, was waren ihre Ansichten über Gott? Welche Bilder stellte ihnen ihre Sprache zur Verfügung, schwierige und geheimnisvolle Dinge auszudrücken, etwa wenn sie von Gott reden wollten?
Es ist eines der Verdienste der historischkritischen Forschung, die Bibel von dem Sockel »Ewiges Wort Gottes« heruntergestoßen zu haben. Sie hilft uns, nach dem »Lebendigen Wort Gottes« im Dialog mit Menschen zu suchen und es auch zu finden.
In diesem Buch werden wir immer wieder genau so die Bibel zu verstehen suchen, indem wir fragen: Was haben die damals eigentlichgemeint? Warum haben sie so oder so geredet? Wem haben sie was gesagt?
Ist Gottes Wahrheit relativ? »Dadurch wird ja alles relativiert!«, denkt wohl mancher beunruhigt. »Gottes Wort verliert seine ewige und allgemeingültigen Wahrheit!«
Aber genau so ist es. Gott spricht sein Wort durch Menschen zu Menschen. Sein Wort bezieht sich auf bestimmte Menschen und will ihnen konkret etwas sagen. In diesem Sinn ist es »relativ«: bezogen auf diese Menschen. Und es ist gut, wenn ich durch die historischkritische Forschung diesen historischen Rahmen, die geschichtlichen Bedingungen kennen lerne.
Damit verstehe ich die Relativität (= Bezogenheit auf bestimmte Menschen) eines Textes der Bibel. So kann ich ihn in seiner Lebendigkeit verstehen und deuten. Wie sehr das hilft, die Bibel in ihrer Lebendigkeit zu verstehen, sollten Sie auch diesem Buch anmerken können.
Gottes Wort kommt durch Menschen zu Menschen. Dabei geht Gott in unsere konkrete Wirklichkeit ein. Das Wort Gottes tummelt sich sozusagen mitten unter uns, lässt sich auf uns ein, spielt unsere GlaubensSpiele mit – allerdings nicht immer: Oft will es die Glaubens»Spielregeln« der Menschen verändern, verbessern. Ob zu Gottes Regeln gehört: »Mein Sohn musste für eure Sünden am Kreuz bluten«, bezweifle ich zutiefst und will das in diesem Buch ausführlich begründen. Ich will diese Regel abschaffen helfen. Mit den dann geänderten Regeln können wir unser Glaubensspiel fröhlicher und entkrampfter auf bessere Weise spielen, das alte Spiel mit dem schönen Titel: »Gottes Güte ist groß!«