Читать книгу Derborence - C F Ramuz - Страница 6
II
ОглавлениеDerborence, das Wort klingt sanft; sanft und etwas traurig klingt es in uns nach. Es beginnt mit einem festen und bestimmten Laut, dann zögert es und sinkt, noch während man es klingen lässt, ins Leere: Derborence; als wollte es so auf den Untergang, auf die Einsamkeit und das Vergessen deuten.
Denn der Ort ist jetzt verwüstet, den es nennt. Er liegt fünf, sechs Stunden über der Ebene, wenn man von Westen, vom Waadtland her, kommt. Derborence, wo ist das?, und man sagt uns: «Das ist dort dahinter.» Lange steigt man einem Wildbach entgegen, schönem Wasser, das wie Luft ist über den Steinen des Betts. Derborence, das liegt zwischen zwei unregelmäßigen Bergkämmen, gegen die man zuerst lange hinaufsteigen muss; sie sind wie zwei Messerklingen, die mit dem Rücken im Boden stecken, und die Schneide steht in die Luft voller Scharten, ihr Stahl glänzt an einzelnen Stellen und ist an andern vom Rost zerfressen. Zur Rechten und zur Linken wachsen sie an, diese Kämme; je höher man steigt, desto höher steigen sie auch; und das Wort klingt sanft in uns fort, während wir an den schönen unteren Hütten vorbeikommen, lang gestreckten, sorgsam geweißten Hütten mit Dächern aus Schindeln, die ganz ähnlich wie Fischschuppen sind. Da gibt es Ställe für das Vieh und stattliche Tränken.
Man steigt weiter; der Hang wird steiler. Jetzt kommt man zu großen Weiden, die durch steinige Absätze ganz unterteilt sind, so dass Boden auf Boden folgt. Man gelangt von einem Boden zum andern. Nun ist man nicht mehr allzu weit von Derborence; man ist auch nicht mehr allzu weit vom Gletschergebiet, denn der Anstieg führt schließlich zu einem Joch, an der Stelle, wo sich die Bergketten aneinander drängen, gerade über den Weiden und Hütten von Anzeindaz, die dort wie ein kleines Dorf bilden. Bäume hat es schon lang keine mehr.
Auf einmal bricht der Boden unter den Füßen ab.
Auf einmal zieht der Horizont des Weidlands, der sich in der Mitte senkt, seine gebuchtete Linie vor einer Leere. Und man sieht, dass man da ist, denn ein riesiges Loch tut sich jäh vor einem auf, es hat ovale Form, es ist wie ein weiter Korb mit senkrechten Wänden, über die man sich beugen muss, denn man steht auf einer Höhe von fast zweitausend Metern, und der Boden des Korbs liegt fünf- oder sechshundert Meter tiefer.
Man beugt sich darüber, man streckt den Kopf etwas vor.
Ein kalter Hauch weht einem ins Gesicht.
Derborence, das ist zunächst ein Stück Winter, das uns mitten im Sommer entgegentritt, denn der Schatten verweilt dort fast den ganzen Tag und hält sich noch, wenn die Sonne am höchsten steht. Und man sieht, dass es da nur noch Steine gibt, Steine und nochmals Steine.
Die Wände fallen grad herab auf allen Seiten, mehr oder weniger hoch, mehr oder weniger glatt, und der Weg gleitet zu der Wand unter uns, krümmt sich dabei um sich selbst wie ein Wurm; und wo wir auch hinschauen, vor uns, links und rechts von uns, aufrecht oder flach am Boden, schwebend in der Luft oder niedergestürzt, als Sporen hervortretend oder zurückgerafft oder in enge Schründe gefaltet – überall Fels, nichts als der Fels, nichts als seine immer gleiche Nacktheit.
Die Sonne, die teilweise auf ihm liegt, färbt ihn noch auf verschiedene Weise, denn eine der Bergketten wirft ihren Schatten auf die andere, die Kette im Süden wirft ihren Schatten auf die Kette im Norden: man sieht, ganz oben sind die Wände gelb wie reife Trauben oder rot wie Rosen.
Darunter ist eine seltsam geschnittene Linie, die Grenze des Schattens.
Aber der Schatten steigt schon, er steigt immer weiter; er dringt unwiderstehlich herauf wie das Wasser in einem Brunnenbecken; und wie er steigt, erlischt alles, erkaltet alles, verstummt alles, schwindet und stirbt; während eine gleiche traurige Farbe, ein gleicher bläulicher Ton sich unter uns wie ein feiner Nebel ausbreitet, durch den man zwei kleine düstere Seen noch ein wenig glänzen, dann blind werden sieht, flach in der Wirrnis wie Dächer aus Zink.
Denn da ist noch dieser Boden, und schaut man gut hin: so rührt sich dort nichts. Man kann lang hinschauen und gut Acht haben: von den hohen Wänden im Norden bis zu denen im Süden ist nirgend ein Platz für Lebendiges. Sondern alles ist bedeckt von dem, was Leben verhindert.
Etwas liegt hier überall zwischen dem, was lebt, und uns selber. Das ist zunächst wie Sand, ein Kegel, mit der Spitze halb in die Nordwand verstrebt; und von dort aus, überall zerstreut wie Würfel aus dem Becher, wirkliche Würfel, Würfel von allen Größen, ein viereckiger Block, noch ein viereckiger Block, Blöcke aufeinander, hintereinander, kleine und große, so weit man sieht.
In früherer Zeit dagegen zogen sie in großer Zahl hinauf, nach Derborence; ja man versichert, dass es gegen hundert waren, die hinaufzogen.
Sie stiegen durch die Schlucht, die sich am anderen Ende zur Rhone hin öffnet; sie kamen von Aïre und von Premier, das sind hoch gelegene Walliser Dörfer am Nordhang des Rhonetals.
Sie brachen gegen Mitte Juni auf mit ihren kleinen braunen Kühen und mit ihren Ziegen; sie hatten droben zum eigenen Gebrauch viele Hütten aus ungepflastertem Stein mit Schieferdächern gebaut; dort blieben sie zwei, drei Monate.
Diese Weidgründe waren in jener Zeit vom Mai an schön grün gefärbt, denn dort oben führt dieser Monat den Pinsel.
Dort oben (man sagt «dort oben», wenn man vom Wallis kommt, aber wenn man von Anzeindaz kommt, sagt man «dort drüben» oder «dort hinten») ließ der Schnee dicke Polster zurück bei der Schmelze; an ihrem Rand, in der schwarzen Feuchtigkeit, die das alte Gras mit einer Art mattem Filz halb verdeckte, ließ er allerlei kleine Blumen hervorkommen; sie öffneten sich am äußersten Rand einer Eisborte, die dünner als Fensterglas war. Allerlei kleine Bergblumen mit ihrer besonderen Leuchtkraft, ihrer besonderen Reinheit, ihren besonderen Farben: weißer als der Schnee, blauer als der Himmel, strahlend orange oder violett: Krokusse, Anemonen, Apothekerprimeln. Sie bildeten von fern gesehen zwischen den grauen Schneeflecken, die sich zusammenzogen, andere Flecken, die in der Sonne glänzten. Wie auf einem Seidentuch, wie auf den Tüchern, welche die Mädchen in der Stadt unten kaufen, wenn sie zum Markt gehn, am Peterstag oder am Josephstag, und die übersät sind mit kleinen Sträußen. Dann verwandelte sich auch der Grund des Stoffs, wenn der Schnee endlich ganz geschwunden war. Alles wurde grün: das Gras kommt wieder hervor; das ist, wie wenn der Maler zuerst grüne Farbe hätte von dem Pinsel tropfen lassen, und die Tropfen flößen dann ineinander.
Ah! Derborence, du warst schön, du warst schön in jener Zeit, wenn du dich schmücktest von Ende Mai an, für die Männer, die kommen würden. Und sie ließen nicht auf sich warten; sobald du das Zeichen gabst, kamen sie. An einem Nachmittag ließ das eintönige, dumpfe Rauschen des Wildbachs in seiner Schlucht das Klingen eines Viehglöckchens frei; das Rauschen wurde durchbrochen, zerteilt. Ein erstes Tier tauchte auf, dann zehn, dann fünfzehn, dann bis zu dreihundert.
Der kleine Geißenhüter blies auf seinem Horn.
Überall hatten sie schon das Feuer angefacht in den Hütten; überall schwebte, aus den Kaminen oder durch die Türlöcher hinaus, eine hübsche kleine Fahne bläulich und zart in die unbewegte Luft.
Die Rauchfahnen wuchsen, sie wurden flach an den Enden, sie vermischten sich droben; sie bildeten über den Dächern eine durchsichtige Fläche, ähnlich einem Spinngewebe, das sorgfältig ausgespannt ist.
Und darunter fing das Leben wieder an, bei diesen Dächern, die nicht weit voneinander lagen, wie kleine Bücher auf einem grünen Teppich, all diese grau gebundenen Deckel; bei den zwei, drei kleinen Bächen, die da und dort aufglänzten, wie wenn einer ein Schwert aufhebt; mit runden Tupfen, mit ovalen Tupfen, die sich rings bewegten, und die runden waren die Männer, die ovalen die Kühe.
Als Derborence noch bewohnt war; bevor der Berg eingestürzt war.
Doch jetzt eben ist er eingestürzt.