Читать книгу Derborence - C F Ramuz - Страница 7
III
ОглавлениеDie von Anzeindaz haben gesagt: «Mit einer Artilleriesalve hat es angefangen; die sechs Geschütze der Batterie haben gleichzeitig gefeuert.»
«Dann», sagten sie, «ist ein Windstoß gekommen.»
«Dann ein Gewehrschießen, mit Salven und Rottenfeuern, wie wenn es uns gegolten hätte; der ganze Berg hat da mitgemacht.»
«Der Wind stieß die Tür ganz weit auf, wie mit einem Fußtritt. Die Asche aus dem Herd ist uns auf den Kopf gefallen, als schneite es in der Hütte …»
«Wir sind ja auch hier auf dem Joch gar nicht weit unter der Stelle, wo sich der Bergsturz gelöst hat, nur ein wenig zurück und zur Seite. Und der erste Lärm kam vom Überhang, der hinunterkrachte; und dann ging der Krieg los von einer Kette zur andern, von einem Kamm zum andern, von einer Spitze zur andern; wie Donner ging das um jedes der Hörner, die da im Halbkreis nebeneinander stehn, von der Argentine bis zu den Dents de Morcles, von den Rochers du Vent bis zum Saint-Martin.»
Sie waren schon auf. Sie waren zu dritt. Sie fanden ihr Feuerzeug nicht.
Das Vieh, das man zur Nacht hereingenommen, aber nicht angebunden hatte, drängte sich im Stall und drohte alles auf den Kopf zu stellen.
Zuerst müssen die Männer wieder Ordnung in die Herde bringen.
Sie hatten eine Laterne mit Hornscheiben, die sie zwar nicht gebraucht hätten, denn es war heller Mondschein in jener Nacht; aber bald sehen sie mit Staunen, wie der Mond ein wenig schwärzlich, ein wenig fahl wird, trüb wie bei einer Finsternis, während der Schein der Laterne umso klarer wird und auf dem kurzen Gras vor ihren Füßen einen Kreis bildet.
Sie gehen nicht lang. Sie begreifen geschwind. Sie sehen vor sich die bleiche Wolke aufsteigen. Die Stille kam allmählich wieder; doch die Wolke wächst hinter dem Berggrat, der ihnen die Gründe von Derborence verdeckte; sie war dort wie eine Mauer, die hinter einer Mauer aufsteigt. Wie ein Nebel, aber langsamer, schwerer; und ihre Masse drängte über sich selber hinauf, wie Teig, wenn er aufgeht, wenn der Bäcker ihn in den Trog getan hat, und er schwillt in dem Trog, er läuft über.
Das ist der Berg, der eingestürzt ist.
Die Männer husteten, sie mussten niesen; ein Prickeln kam ihnen unter die Lider; sie senkten den Kopf und suchten sich mit dem Hutrand zu schützen.
Aber das war ein feiner Staub, ein ungreifbarer Staub, der überall hing, alles durchdrang; und sie haben wohl oder übel hineintauchen müssen, denn er kam jetzt über sie herab. Sie tun ein paar Schritte darin, dann noch ein paar Schritte, sie bleiben stehen; und einer sagt sogar:
«Ist das klug, noch weiterzugehn?»
Er sagte:
«Hält denn das unter uns? Und wir sehn bald nichts mehr.»
Der Stolz treibt sie aber noch vorwärts.
Und man hört auch immer seltener etwas, in immer größeren Abständen, es tönte immer dumpfer, immer mehr von innen, wie am Anfang einer langen Verdauung; es kam jetzt von unten und wie aus der Erde heraus; so dass die drei Männer leichter vorankommen bis an den Rand der Leere, dorthin wo das Joch ist.
Sie sahen nichts. Sie sahen nur die weiße Masse, die sich da bewegte. Sie hatten bald gar keine Sicht, bald erkannten sie durch eine Spalte oder einen Riss in dem Qualm gerade ihn selber, aber er lag über allem. Er lag nicht nur über dem Boden der Senke, sondern auch vor den Wänden rings um sie her; und so konnte man nicht ausmachen, wo sich der Bergsturz gelöst hatte, und man konnte ihn selber nicht ausmachen; nichts konnte man ausmachen, noch nichts als diesen Brodem, wie wenn man in einen Wäschetrog schaut; nichts als seinen eigenen Tumult, auf den der Mond ein unbestimmtes Licht warf, wie gerötet von ihm, er stand rot am Himmel, dann verschwand er am Himmel, dann erscheint er noch einmal.
Die Laterne, die neben den Männern stand, wurde schwächer, gewann wieder Kraft, sie nahm wieder ab; die Männer hatten sich auf den Bauch gelegt, sie streckten nur den oberen Teil des Gesichts über den Rand, die Stirn und die Augen.
Und einer sagt:
«Wie viel meinst du, dass da unten waren?»
«Weiß der Himmel!»
Der Dritte sagt:
«Kommt drauf an, ob schon alle droben waren oder nicht … Fünfzehn, zwanzig …»
Sie hatten sich jetzt fast an die Stickluft gewöhnt, muss-ten nur dann und wann husten, sie blieben auf ihrem Posten; leise hatten sie zu reden begonnen; und dazu grollte es dumpf unter ihnen; und da sie mit dem Bauch an dem Berg lagen, hörten sie mit dem Bauch das Grollen des Bergs, das heraufstieg durch ihre Körper bis zu ihrem Gehör.
Während sie dalagen, die drei, und den Kopf schüttelten und sagten:
«Und wie viel Vieh?»
«Weiß der Himmel – gut hundert Stück.»
Und da seufzt einer von ihnen; und da seufzt auch der Berg, er hebt schwer seine steinerne Brust, lässt sie schwer wieder sinken.
Die vom Sanetsch eilten auch herbei, also die von der Nordwestseite, vom anderen Ende der großen Fluh; sie hielten sich über dem Durchgang vom Porteur de Bois, der durch Kamine grad zu den Weidgründen dort hinabstößt. Und sie redeten zueinander in ihrer Sprache, in einer Sprache, die man nicht versteht, denn sie ist deutsches Geröll; sie redeten und machten Handbewegungen, die keiner sah, die sie selber nicht sahen. Sie hatten ein ganzes Karrenfeld überqueren müssen, um bis dahin zu kommen; das sind Felsen, die schon vor langer Zeit das Regenwasser zerwaschen hat, sie gleichen einem erstarrten Meer, mit ihren Kämmen, Furchen, Überhängen, die alle voll runder Löcher sind. Und auch sie, die Männer vom Sanetsch, fragten in die Tiefe hinab, aus der zur Antwort nur unerklärliches Grollen, sinnloses Brummen heraufkam; aus der nur die Zungen und Wirbel aus Staub emporstiegen.
Sie wurden hineingenommen, sie hatten einen Geschmack von zermalmtem Schiefer im Mund; sie waren in einer Wolke, dann wieder in einer Wolke; eingehüllt, dann weniger dicht eingehüllt, dann noch einmal eingehüllt.
Die von Zamperon dagegen haben sich an ihren Strohsäcken festgeklammert, bis der Tag anbrach. Das sind drei oder vier Hütten, zu denen die Leute von Premier hinaufziehn, von dem Dorf gleich neben Aïre. Zamperon, die drei, vier Hütten liegen ein wenig unterhalb Derborence, am Ausgang zu der Schlucht, die hinabführt zur Rhone. Die Bewohner sind also gerade in der Linie des Luftdrucks gewesen, als der herabkam, die Steine von den Dächern riss, ja von zwei, drei kleinen Schobern dort die ganzen Dächer forthob und wie Strohhüte davontrug, auf einem Vorsprung des Bergs einen Jungholzbestand wegfegte und durch die Löcher der ungepflasterten Mauern die Männer auf ihren Strohsäcken wie mit Stockspitzen anstieß, von ihren Lagern warf.
Man hörte die Käsezuber stürzen, die Bänke umfallen, hörte an den Türen unsichtbare Hände rütteln. Zur gleichen Zeit bewegt es sich und grollt, zur gleichen Zeit kracht es und pfeift; das ging in der Luft vor sich, an der Erdoberfläche, unter dem Boden, als vermischten die Elemente sich alle; man unterschied nicht mehr, was Lärm, was Bewegung war, was der Lärm bedeutete, wo er herkam und wo er hinging; als wäre das Ende der Welt da. So dass sich die Männer von Zamperon an den Betträndern festhielten, um nicht hinausgeschleudert zu werden, und platt liegen blieben, eher tot als lebendig. Starr, ohne zu schreien, den Mund vor Schrecken geöffnet, aber den Mund voller Schweigen, von Schauern geschüttelt, in allen Gliedern von der Lebenskraft verlassen, rührten sie sich lange Zeit nicht. Dann kam die Luft allmählich zur Ruhe, war wieder wie sonst; der Lärm entfernte sich allmählich, wurde schwächer; und allmählich hört man nur noch dumpfe Verschiebungen, fernes Rutschen: sie sagten noch immer nichts, sie riefen einander noch nicht.
Sie haben warten müssen, bis der Tag anbrach, zum Glück kommt er in dieser Jahreszeit früh. Von halb vier Uhr an regt es sich sonst schon, flackert es bleich und unbestimmt über den Kämmen des Bergs im Osten, lässt einen Stern nach dem andern vom Himmel fallen wie die Früchte vom Baum, wenn sie reif werden. Aber an diesem Morgen ist da kein Berg und auch keine Sonne. Der Tag kommt zu spät und breitet sich mühsam aus und beginnt nicht an einem bestimmten Punkt am Himmel. Man sieht, dass ein gelber Nebel den ganzen Raum füllt, und der erste Mann, der aus seiner Hütte kommt, staunt darüber, und er staunt, weil er selber darin steht, und dann macht ihn anderes staunen, und er weiß noch nicht einmal, was.
Da war einer, der Biollaz hieß, aus Premier.
Er hatte sich auf seinem Strohsack aufgerichtet, weil man jetzt etwas sehen konnte, und hatte seinem Nachbarn gerufen; er sagt zu ihm: «Kommst du?» Keine Antwort. Er rief nochmals: «Loutre! He, Loutre», und keine Antwort. «Oder bist du tot?», fragte er ihn.
Er sah den Himmel durch ein Loch, das der Wind in der Nacht durch das Dachwerk gestoßen hatte; dieses Loch war grad über ihm, es war groß genug, dass ein Mann hindurchging. Und er, da er noch immer keine Antwort hörte, streckt ein Bein unter der Decke hervor, ein Bein in der Hosenröhre, denn er schlief in den Kleidern; so bleibt er und horcht. Da war nichts, immer noch nichts; er nimmt das andere Bein hervor: «Loutre?»
Aber da hat sich Loutre nun doch bewegt.
Biollaz sieht Loutre, der ihn jetzt anschaute, auf seinem Bett saß; er sagt zu ihm: «Kommst du denn nicht?» Der andere schüttelt den Kopf. «Dann halt nicht, ich geh trotzdem.»
Biollaz steht auf. Es ist jetzt ganz hell in dem Raum, dank dem Loch in der Decke, so dass Biollaz leicht vorwärts kommt und nur feststellt, wie in der Hütte alles am Boden herumliegt, wie die Sachen, die an Bolzen hingen oder auf Borden standen, ihre Bolzen und ihre Borde verlassen haben, wie die Milchkübel umgekippt sind.
Biollaz findet seinen Weg zwischen den Pfützen hindurch bis zur Tür.
Er will sie aufmachen; die Tür geht nicht mehr auf. Die Mauer hat sich gesenkt und den Rahmen verschoben.
Biollaz muss durch das Loch aufs Dach steigen, Loutre hilft ihm nun schließlich.
Loutre hält ihn an den Beinen; Biollaz kommt so ins Freie, und da er draußen zu Boden springt, staunt er über den Nebel, in dem er steht, er staunt auch, wie groß die Stille ist.
Denn etwas fehlt; etwas war da und ist jetzt nicht mehr da; Biollaz versucht darauf zu kommen, was es war; auf einmal hat er es: Man hört den Wildbach nicht mehr, und dabei führt er zu dieser Zeit doch am meisten Wasser.
«Loutre, Loutre, wo bist du?»
Loutre:
«Hier.»
«Loutre, hörst du … Die Lizerne …»
Da sagt Loutre:
«Ich komme.»
Draußen finden sie sich wieder. Sie gehen miteinander auf dem Weg, der von Schieferplatten übersät ist, der Wind hat sie herabgetragen, und sie sind beim Fallen mittendurchgebrochen und haben Fasern wie Holz.
Aus den anderen Häusern kamen sie auch.
Sie konnten einander von weitem kaum sehen, und aus der Nähe erkannten sie sich nicht einmal, erschreckten einander mit ihren entstellten Gesichtern.
Sie reden noch kaum; sie seufzen, sie sehen sich an, sie schütteln lange den Kopf. Und wie sie zum Haus der Donneloye kamen, geht auf einmal die Tür auf; ein junger Bursche kommt heraus, er schaut sie an, aber sieht er sie überhaupt?, denn plötzlich läuft er davon, auf dem Weg zum Tal. Sie rufen ihm: «He! Dsozet!», er hört nichts. Sie rufen ihm: er ist schon verschwunden, aufgeschluckt von der dicken Luft, die sich auftut, sich wieder schließt.
Sie gehen weiter auf dem Weg, der nach Derborence führt. Keine Viertelstunde ist es dorthin. Sie kämpften sich durch eine Art Nebel, wie aus Fetzen schmutziger Watte, die hintereinander hingen, mit Lufttaschen dazwischen, wie die Seiten eines Buchs, die oben der Einband zusammenhielt, die sich unten auffächerten. Aber der Nebel zerfaserte immer mehr, und immer mehr Licht drang herein; schließlich können sie sehen, was vor ihnen ist. Das heißt, sie bleiben stehen auf dem Weg und sehen, dass der Weg versperrt war. Sie sehen, dass da eine große Mauer über den Weg ging und dass über den Weg etwas lag wie der Vorbau einer Befestigung, mit einer Brustwehr, mit Wehrgängen, Schießscharten, Zinnen. Die Mauer stand da vor ihnen, sie war über Nacht herabgekommen; herabgekommen von wo?, das sah man noch nicht. Aber sie war da, sie bildete eine Sperre, mit großen und kleinen Blöcken, mit Sand, mit Geröll, mit Mörtel, und das Bett des Wildbachs, das darunter hervorkam, war ausgetrocknet, zeigte den nackten Grund, ein paar Lachen waren da sitzen geblieben.
In diesem Augenblick ruft ihnen einer zu: «Bleibt stehn!»
Das war der alte Plan, der die Schafe hütet in den hohen Schluchten der Derbonère.
Von ihnen aus links, nach Südwesten hin, öffnet sich in der Bergkette ein sehr steiler Trichter, so felsig und karg, dass nur die Schafe dort weiden.
Man sieht die Herde durch das Gestein purzeln, und sie ist selbst wie ein Steinschlag.
Man sieht sie am Grund einer Senke, und sie ist wie ein kleiner See mit rauem Wasser, wenn ein wenig Wind darüber hinfährt.
Man sieht sie über die Hänge irren, wo sie wie der Schatten einer Wolke ist.
Man sah sie, und vor ihr war der alte Plan:
«Bleibt stehn!»
Er hockt oben auf einem Felsblock, dort streckte er die Hand gegen sie aus:
«Geht nicht weiter!»
Der Kopf mit seinem weißen Bart bewegt sich, er trug eine lange Pelerine. Und die Pelerine war rostfarben, moosfarben, rinden- und steinfarben; sie hatte die Farbe der Dinge da droben, kannte wie sie seit langem den Brand der Sonne, die Regengüsse, den Schnee, die Kälte, die Hitze, den Wind, Aufruhr und Stille der Luft, die lange Reihe der Tage und Nächte:
«Geht nicht weiter! D… I…»
Er lachte:
«D… I… A… B… Ihr versteht.»
Und wie er so redete, sah man, dass sich etwas bewegt, dort vorn in den Steinen; da kam einer, oder er versuchte zu kommen.
Sie sehen, dass es ein Mann ist, doch dieser Mann hielt sich kaum mehr aufrecht, er tat einen Schritt; er musste sich mit beiden Händen an den nächsten Fels klammern, um wieder einen zu tun, doch er wagte ihn, fiel dann zur Seite.
«Ah!», sagen sie, «das ist Barthélemy!»
Und sie laufen ihm entgegen, während man den alten Plan rufen hörte:
«Obacht!, nicht weiter … He dort, bleibt stehn!»