Читать книгу Die zehnte Göttin des Gesangs - Carina Burman - Страница 5
Erster Kreis
Оглавление24.11.1909
Man sollte die Briefausgabe sorgfältig dokumentieren, nicht nur indem man alles publiziert, was zu finden ist, sondern auch genauestens vermerkt, welche Archive man besucht, welche Briefe man schreibt und welche Gedanken sich während der Arbeit einstellen. Eigentlich wäre wohl eine Phonographenrolle vonnöten, die mit dem Gehirn verbunden ist, doch in Ermangelung solch technischer Errungenschaften muß ich Tagebuch führen.
Tagebuch? Was man schrieb, als man die Mädchenschule besuchte? »Liebes Tagebuch! Oh, ist Leutnant F*** fesch! Heute haben wir ein Übungsdiktat in Deutsch geschrieben, und stell dir vor, ich kriegte eine 1!« Alles sehr intim, sehr wirr und mit Ausrufungszeichen gepfeffert.
Ich entschließe mich daher, ein Journal zu führen, ein Forschungsjournal für mich persönlich und vielleicht ja auch für die Zukunft.
Heute ist der erste Tag meiner Forschungsarbeit. Vor zwei Tagen ging ich mit Schlippenbach die Wette zu den Brenner-Briefen ein, denn ich glaube tatsächlich, es war eine Wette. Die Zeit ist unbegrenzt, die Mittel sind es ebenso. Doch die Aufgabe ist groß – ein zweites Paar Hände wird gebraucht, ein Kopf neben dem meinen, eine Verdoppelung meiner Kenntnisse. Choice! Ich brauche Choice! Ihr Französisch wäre ein Gewinn ... doch hier in meinem Journal kann ich auch gestehen: Es wäre einfach schön, mit Choice zu arbeiten. Das Forschen ist oft eine recht einsame Sache. Mit mir allein könnte es zum Lebenswerk ausarten, und am Ende wäre vielleicht nur noch schwer feststellbar, wo meine Person anfängt und die der Brenner endet. Kurz gesagt: Ich will Gesellschaft haben. Deshalb rief ich gestern bei meiner Freundin an und schlug ihr eine Zusammenarbeit vor. Wir verabredeten uns für heute früh im Badehaus der Schloßquelle.
Die Luft war klar und schneidend kalt an diesem Morgen. Ich lief die Treppe hinunter, sagte der Portiersfrau adieu und legte zunächst denselben Weg zurück wie vorgestern abend, nach dem Jahreskongreß der Literaturgesellschaft: die Skolgata hinauf und die Sysslomansgata hinunter. Bei »Ofvandahls« bog ich ab und durchquerte den Universitätspark in Richtung Dom. Die Bäume waren schwarz und kahl, und der Wind pfiff wie so oft in Uppsala. Schneekörner, scharf wie Diamanten, fuhren durch die Luft und setzten sich in den Wimpern fest.
Kalt war es, schauderhaft kalt. Ich preßte die Hände tiefer in den Muff, als ich auf den Domplatz hinaufkam. Die Türme leuchteten tiefrot. Die Ziegel pflegten je nach Wetter die Farbe zu wechseln, im Winter waren sie von intensiverem Rot, doch wenn es richtig fror, wirkten sie fast eisig. Jetzt hoben sich die dünnen Zementtürmchen effektvoll vor dem Rot ab, eine Art Mittelalter, die sich das Mittelalter so nie gedacht hat. Man stelle sich vor, das Ganze nun auch noch zu beleuchten, die Wasserspeier mit violettem Rampenlicht zu umschmeicheln!
Das Schneetreiben wurde heftiger. Ich eilte rasch zum Badehaus und schlüpfte ins Foyer. Die Luft war warm und feucht wie im Gewächshaus, die Brillengläser beschlugen, und die Sicht war mir ganz und gar geraubt. Ohne Brille war die Welt nicht weniger verschwommen, doch hatte ich wenigstens nicht mehr diesen weißen Nebel vor Augen. Nachdem sich der Pförtner an der Einlaßkarte satt gesehen hatte, lief ich die Treppe hinauf zu den Damenschränken.
Der Umkleideraum war voller Wasserdampf und unterschied sich mithin nicht viel vom Türkischen Bad. Zwischen den Kabinen im Inneren pflegte es nach Veilchenseife und Eau de quinine zu riechen – hier draußen mehr nach Schwefelseife und Schweiß, denn hierher kamen meist die Armen oder Geizigen und die ganz versessenen Schwimmerinnen. Es ist nicht ganz klar, wozu ich zähle, Choice aber ist eine richtige Gesundheitssportlerin. Eigene Räume habe ich außerdem daheim, und es gefällt mir, beim Haaretrocknen auf der Bank zu sitzen und den Gesprächen um mich herum zu lauschen. Die Menschen erzählen so komische Dinge.
In der Mufftasche lag der Schlüssel zum Schrank. Das Schloß widersetzte sich. Vielleicht war die Feuchtigkeit schuld. So etwas passiert zuweilen, und dann muß der Hausmeister gerufen werden, der das Schloß ölt oder schlimmstenfalls heraussägt und ein neues verkauft. Die Damen im Umkleideraum schätzen so etwas nicht. Jetzt aber drehte sich der Schlüssel im Schloß, und die Tür ließ sich aufstoßen. Der Schrank muffelte wie die Turnsäle der Schulzeit: eine Mischung aus Schweiß, dem Geruch alter Badehauben und Handtücher, ziemlich penetrant. Bald mußte ich die Sachen wohl mit heimnehmen. Dennoch war der Gestank nicht ganz abstoßend – es liegt ein Genuß im Ertragen, im freiwilligen Aufsichnehmen von Leiden.
Ich holte Handtuch und Badehaube aus dem Schrank, stellte das Necessaire daneben und hängte die Kleider hinein. Wo steckte Choice eigentlich? Die Brille in einen Schnürstiefelschaft, die gerollten Strümpfe in den anderen. Es war immer das gleiche Elend, aus dem Korsett zu kommen. Mit Ankleidefrau oder in Reformkleidung ginge das leichter. Nicht einmal die Badewärterinnen, die drinnen im Warmbad mit den Bürsten klapperten, kamen mir zu Hilfe. Jetzt gab die Verschnürung mit einem Seufzer nach. Der Körper, noch immer morgenstarr und müde, protestierte dagegen, ganz ohne Halt auskommen zu müssen. Das Korsett an den Haken und das Hemd hinterher! Nun war ich nackt, steckte die Füße in die Badepantoffeln und zog alle Nadeln aus dem Haar. Ein einfacher Knoten machte sich unter der Badehaube am besten. Wo Choice nur blieb? Fünf Minuten Verspätung, aber natürlich kam sie selten pünktlich. Jetzt die Badehaube auf.
Ich konnte nicht mehr warten. Gänsehaut überzog den ganzen Körper, fing an den Gliedern an und griff auf den Rumpf über. Ich preßte die Schultern zusammen, um mich zu schützen. Es war besonders unangenehm, als die Haut am Hals bis hinunter zwischen die Brüste zu grieseln begann. Jetzt war Schluß. Ich nahm Handtuch und Necessaire und eilte zu den Duschen.
Kaskaden lauwarmen Wassers trommelten auf die Badehaube, und während ich auf einem Bein balancierte, um meinen Fuß sauberzuschrubben, dachte ich über die Wette nach. War es völlig töricht gewesen, sich darauf einzulassen? Nein, es müßte gut gehen. So schwer konnte die Arbeit nicht sein. Man brauchte lediglich gute Mitarbeiter, Energie und detektivische Begabung. Und wer sollte die sonst haben, wenn nicht ich, die ich doch alle Abenteuer von Holmes gelesen hatte. Ich seifte den anderen Fuß ein und dachte an die Brenner – eine dichtende Frau, ständig in anderen Umständen, ein brillanter Kopf, eine Frau neben all den Männern. Einfach weil sie talentiert war, hatte sie als Mädchen Latein gelernt, obgleich sie außer der Frakturschrift keinerlei Buchstaben hätte begreifen müssen. Doch um die Briefe zu finden: nun, dazu mußte ich systematisch vorgehen, in unserer eigenen Universitätsbibliothek, der Carolina, beginnen und dann die Kreise größer ziehen. Man mußte suchen. Ganz einfach beharrlich sein.
Jetzt waren die Füße sauber, doch keine Choice war zu sehen. Ich zog die Pantoffeln an und ging hinunter zum Bekken. Es war leer dort, immer noch still und ruhig. Nicht viele nutzten die morgendlichen Damenzeiten, nur eine einzige Studentin plätscherte im Becken. Haus und Kinder waren natürlich hinderlich, und die Büromiezen hatten wohl auch kaum Zeit.
Langsam stieg ich ins Becken. Natürlich kann ich tauchen, das hatte ich in einem heißen Sommer vor vielleicht fünfzehn Jahren gelernt, ja, noch weit im vorigen Jahrhundert. Damals hatten wir Kinder am Strand gespielt, und einer der Jungen hatte mir das Tauchen beigebracht. Den ganzen Sommer über hatte ich es geübt und sehr gut gemacht, wie ich selbst fand. Vielleicht ließ ich es deshalb heute bleiben, wollte die Kindheitserinnerung nicht durch ein Hineinplumpsen ins Wasser verderben.
Ich bin keine Eliteschwimmerin. Mein Schwimmstil ist energisch, konzentriert und ein klein wenig fahrig wie mein Charakter, und meine Forschungsarbeit auch, wenn ich ehrlich bin. Die müden Morgenmuskeln waren gezwungen, sich zu strecken, dann nachzugeben, strecken, erschlaffen ... in raschem, gleichmäßigem Tempo. Ein entgegenkommendes Mädchen hob winkend die Hand, und ich winkte mitten in der Armbewegung zurück. Es war sicher jemand vom Verein für Studentinnen, doch ihr Gesicht blieb ein weißer Fleck.
Jetzt kam eine dieser ewigen Vorbeischwimmerinnen.
»Trödelsuse«, flüsterte sie, als sie auf gleicher Höhe war und mich zur Seite drängte.
»Was zum ... Choice! Es wurde aber auch Zeit!«
»Wie weit schwimmst du? Einen Kilometer! Bis dann!« antwortete Choice, und bald sah ich nur noch ihre Füße, und die übrigens auch vor allem wegen der Wasserspritzer.
Choice kann wirklich schwimmen. Sie ist groß und schlank, hat dunkles Haar, das ganz natürlich in Locken fällt. Wer ihren Kosenamen erfunden hat – sie besitzt ihn schon seit der Kindheit, und keiner weiß es genau –, traf ins Schwarze. Es mag schon sein, daß sie Gudrun Nordin heißt, doch als Name paßt »die Auserwählte« besser. Ihre Gestalt gleicht einem Ornament der l’art nouveau. Man könnte sie sich porträtiert auf einer Chaiselongue vorstellen, zurückgelehnt, mit einer Schachtel Pralinen in Reichweite und daneben auf dem Tisch einen Band Sonette von Gripenberg. So sieht sie aus. Vom Charakter her ist sie ganz anders. Groß und schlank von Wuchs hat sie natürliche Voraussetzungen, um Sport zu treiben, und die nutzt sie auch. Als Studentin trainierte sie jede nur erdenkliche Leibesübung und war eifriges Mitglied im Lawntennis-Club der Uppsala-Studenten. Heute als Stockholmerin spielt sie Tennis und Bandy mit den Damen im Sportclub der Kronprinzessin Margareta. Am Netz kann sie übrigens auch den geschicktesten Mann schlagen.
Choice ist Fürsprecherin alles Gesunden und Heilsamen – besser gesund als sündig, ist ihr Motto, und über Dekadenz rümpft sie nur die Nase. Mit Trauer betrachtet sie die Degeneriertheit der Zeit, die alle Klassen erfaßt. Wenn sie selbst im Kreis von Freunden zu einem Glas greift, ist das mehr den veralteten Sitten geschuldet als wirklicher Neigung. Trotz allem ist sie schließlich Journalistin und muß sich verhalten, wie die Leserschaft es von ihr erwartet.
Sie ist schön, die Choice, und die Männer bewundern sie. Sicher ziehe auch ich Blicke auf mich, doch neben Choice bemerkt mich keiner. Dennoch ist sie unverheiratet, trotz ihrer dreißig Jahre. Sie wohnt in einer Pension und scheint ihren Familienstand nicht zu bedauern. Liebe verachtet sie. Soweit mir bekannt ist, gab es für sie nur eine Liebe, und die ist vollkommen platonisch: Per Henrik Ling, Vater der schwedischen Gymnastik. Im vollen Ernst verteidigte sie seine dramatische Dichtung vor dem Hohngelächter des Studentinnenvereins, und es ist auch nicht merkwürdig, daß sie die Linggymnastik allen anderen Sportarten vorzieht. ›Die Knie beugt, die Arme streckt‹ ist für sie, was für andere Menschen der Morgenkaffee ist. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß sie aus Prinzip aufgehört hat, Kaffee zu trinken. Neben Choice wirkt jedermann unentschlossen und schwach.
Der Beckenrand kam mir erneut entgegen, ich wendete und stieß mich mit den Fußsohlen von den Kacheln ab. Beim nächsten Schwimmstoß beschloß ich, Choice nichts von der Wette zu sagen. Daß Schlippenbach und ich verschiedene Ansichten zu den Wegen der Literaturforschung hatten, ging nur uns beide etwas an und niemanden sonst. Es genügte, daß Choice vom Sammeln der Briefe wußte.
Als ich aus dem Becken kletterte, tropfend wie eine frisch aus dem Eis gekommene Punschflasche, schoß Choice mit einem letzten raschen Stoß zum Beckenrand vor und stemmte sich nach oben. Sie drückte das Wasser aus einer Haarlocke, die unter der Badehaube hervorlugte, legte den Arm um mich und erklärte, wie schön es sei, mich zu sehen.
»Komm rasch mit ins Dampfbad!«
Das Dampfbad war der höchste Genuß beim Baden – erst Kälte, körperliche Anstrengung und Martyrium, dann Abseifen in der Dusche und Haarwäsche mit Javol-Shampoonpulver. Und schließlich Wärme, anfangs knochentrocken, dann dampfend feucht, bis der ganze Körper sich entspannte und man sich fühlte wie in einem morgenländischen Harem – träge, wollüstig und völlig nackt. Ich legte mich hin und schaute zur Decke auf, die hinter dem Wasserdampf und den Nebeln der Kurzsichtigkeit verschwand. Choice hatte eine Bürste bei sich und bearbeitete sorgfältig ihren ganzen Körper, von den Schultern abwärts.
»Die Brenner ...«, sagte sie. »Viel ist mir nicht über sie in Erinnerung geblieben aus der Zeit, als ich Literaturgeschichte belegte. Natürlich gibt es ein paar Seiten in Schlippenbachs Handbuch, und die sind ja ...«
»Von freundlicher Nachsicht?«
»Hmm. Ist neunmalklug und und weiblichen Geschlechts, aber kann wenigstens Verse schreiben.«
»Im Unterschied zu den meisten karolinischen Poeten, ja!«
»Liebe Lissie«, sagte Choice und begann mit der Bürste die Ferse zu schrubben, »es gibt kaum andere Poeten unter Karl XI. und XII. – und die wenigen, die es gibt, schreiben wirklich miserabel. Nein, ich habe darüber nachgedacht ...«
Sie wechselte zum anderen Bein, stellte den Fuß auf die Pritsche und bürstete die Rückseite des Schenkels.
»Ich habe mich ja vor allem mit dieser Zeit beschäftigt, als ich hier studierte. Erinnerst du dich, was die Burschen im Seminarium zu meinem Aufsatz sagten?« Sie lachte leise und massierte die Kniescheibe mit der Wurzelbürste. »Daß es unpassend für eine Studentin sei, über einen Saufbold wie Runius zu schreiben! Und das, obwohl mein Aufsatz nur eine höchst seriöse Durchsicht seiner Gelegenheitsdichtung war und Schlippenbach ihn mit Laudatur bewertete. Ist doch eine Crux.«
Jetzt war das Schienbein an der Reihe, und es erforderte größere Sorgfalt, da die Bürste keine Kratzer hinterlassen durfte, die durch den Strumpf schimmerten. Deshalb schwieg Choice, bis sie bei den Zehen anlangte.
»Als Literaturgeschichtler habe ich seit dem Kandidatenexamen gewiß eine Menge verlernt. Es ist schließlich ... wollen mal sehen ... es muß Nullvier gewesen sein, nicht wahr? Denn bei der Zeitung fing ich vor dem Russisch-Japanischen Krieg an, und der war Nullfünf.«
»Wissenschaftliche Schulung verlernt man nie. Das bleibt in der Hirnrinde haften.«
»Du bist wirklich zu nobel, Schwester. Ich will gern mit dir arbeiten. Wir beide haben den Studentinnenverein mit einer solchen Finesse geführt, wie man sie zuvor selten erlebt hat. Und mir gefällt der Gedanke, daß die Brenner eine Frau ist! Doch in Latein bin ich ziemlich schwach.«
Ich versicherte, die Römersprache sei kein Problem für mich, denn aus jugendlichem Enthusiasmus für die Poeten des Goldenen Zeitalters hatte ich auch sie für das Magisterexamen gewählt.
»Hmm ...«, murmelte Choice und musterte Beine und Füße. Sie waren rot, aber zweifellos sauber, und sie ließ die Bürste mit einem Krachen auf die Pritsche fallen. »Komm jetzt ins kalte Becken!«
Sie stürzte hinaus unter die Dusche und sprang dann mit beiden Füßen voran ins Tauchbecken. Ich folgte etwas gemächlicher. Das Wasser plätscherte um die Zehen ... bis zu den Knien hinauf ... den Schenkeln ... dann hielt ich es nicht länger aus, ließ die Leiter los und fiel rücklings ins Wasser. Die Wellen überspülten Gesicht, Haare, den ganzen Körper. Das eiskalte Wasser zwirbelte nach dem Dampfbad die Haut, der Körper zog sich zusammen, die Brustwarzen wurden hart, und die Poren schlossen sich vor Schreck. Das Herz wollte fast stehenbleiben. Das kalte Becken war furchtbar und wundervoll zugleich – ja ungefähr wie die Liebe. Ich trieb vom Rand weg und sah die Decke weit über mir. Wasser gluckste in den Ohren.
Als sich das Licht änderte und blauer wurde, wußte ich, daß ich in der Nähe des gegenüberliegenden Beckenrandes war. Da wendete ich und schwamm zurück, auch jetzt auf dem Rücken. Sonst hätte ich das hohe Fenster nicht sehen können. Es hatte verschlungene Verzierungen in Blau und Grün wie das Meer. Das Fenster war beinahe genauso wundervoll wie das Becken. Als ich so dahinplätscherte, wurden die Gedanken zu Träumen, weit verschwommener als die Verzierungen des Fensters oben. Deshalb hörte ich zuerst nicht, daß Choice zu mir sprach. Erst als sie mich am Arm packte, stellte ich mich jäh auf den Boden.
»Hörst du mich, oder bist du ertrunken?«
»Ich war in Gedanken.«
»An die Brenner natürlich. Ich kenne eine kluge Lateinerin, Oberstudienrätin an einem Mädchengymnasium.«
»Hm. Und?«
»Wir könnten sie dazunehmen. Drei sind besser als zwei. Ist man zu zweit, kann man sich zerstreiten, aber bei dreien bleibt immer eine Majorität.«
»Ist sie eine vernünftige Person?« fragte ich und sprang auf dem Boden des Beckens hin und her. »Gehen wir raus! Ich friere.«
»Ja«, fuhr Choice aus der Dusche neben mir fort, »sie ist Blaustrumpf und schreibt gut!«
Ich seifte mich ein und schloß die Augen, als das Wasser Ströme von Schaum herunterspülte. Choice versicherte, ich würde diese Unbekannte mögen, und das ließ mich sofort auf der Hut sein. Warum sollten wir die Sache nicht allein schaffen? Wir haben uns schließlich nie zerstritten. Jetzt aber verließ Choice die Dusche. Ich folgte ihr, trocknete mich ab und wand das Handtuch wie einen Turban um den Kopf.
»Weißt du übrigens, wie spät es ist?« fuhr Choice fort und ging zu den Schränken. Halb elf zeigte die Uhr im Umkleideraum. »Himmel, das schaffe ich kaum! Mein Zug geht um elf!« Handtücher, Gesichtscreme und Kleidungsstücke um sich wirbelnd, zog sie sich rasch an und rannte zum Zug nach Stockholm.
Ich machte mich in aller Ruhe fertig, saß still auf der Bank vor dem Schrank und spürte den Duft des Shampoopulvers und der Radiumseife auf der Haut. Noch immer hing der Geruch von Choices Algencreme in der Luft. Aus dem Schrank muffelte es wie zuvor. Zwei Studentinnen kamen aus der Dusche, die Badehauben noch auf dem Kopf. Sie schienen in Eile, wollten vielleicht zu einer Vorlesung, und während sie sich gegenseitig halfen, das Haar zu richten, sprachen sie intensiv über einen, der Nils hieß. Sie kicherten fortwährend und streuten Sätze um sich wie »Und da hat er gesagt«, »Und da hab ich gesagt« und »Nee, wirklich?«. Mich schien keine von ihnen zu sehen. Ich frottierte mir das Haar, um sicherzugehen, daß ich wirklich dasaß. Schwesterlich schnürten sie sich die Korsetts zu und streiften die allerzüchtigsten Blusen über. Die Absätze der Stiefeletten trommelten auf den Boden, als die beiden halb im Laufschritt davoneilten, und ich vernahm nur noch: »Aber weißt du, die Beata, die sagt, daß sie und Sune ...«
Schade, daß mir der Rest des Satzes verlorenging. Er hörte sich recht vielversprechend an. Ich kämmte mir das Haar, haderte mit einzelnen Strähnen und fluchte leise in meiner Einsamkeit. Dann all die Nadeln hinein und den Körper in die Kleider gesteckt. Im Badehaus war es still, die Brillengläser beschlugen trotz des Dampfes nicht wieder. Es war ein Gefühl, als sei der Körper noch immer fast nackt, trotz der Winterausrüstung, und im Spiegel sah ich, daß die Wangen rosig glänzten wie auf einer Pastillendose. Ich drehte das Gesicht hin und her und verfiel in Selbstbewunderung.
Jetzt klappte die Tür, näher kommende Schritte veranlaßten mich, den Blick vom Spiegel zu lösen. So kümmerte ich mich um den stinkenden Schrank, rollte die Handtücher zusammen, das trockenste nach außen, und stopfte sie zusammen mit der Badehaube in die Tasche. Zuoberst lag die Renaissancestudie der Gebrüder Söderhjelm und entging nur mit knapper Not der Nässe. Ich schlüpfte in den Mantel, steckte die linke Hand in den Muff und schloß den Schrank mit der rechten ab. Den Schlüssel stopfte ich in die Mufftasche, so ging er nicht verloren, schließlich klemmte ich die Söderhjelms unter den Arm und ging. Doch die Füße führten mich keineswegs zur Carolina, nicht einmal heim in meine Kammer, sondern direkt zur »Güntherin«, um ein belegtes Brot zu verspeisen und in dem neuen Buch zu lesen. Welch Beginn eines Forschungsprojekts!
*
Brief von Lic. phil. Thea Jansson an Redakteurin Gudrun Nordin v. 29.11.1909
Thea grüsst ihre Choice.
Ein briefchen fon dir lag hinter der tür, als ich fon der oper heimkam. Also du willst mich bei der herausgabe der Brennerbriefe dabeihaben. Dass es ein weibsbild ist, ist ein plus, aber »na was« (wie der rektor sagen würde), ist sie wirklich jahrelange arbeit fon drei frauen wert? Literaturwissenschaftlerin bin ich nicht, wie du weisst, und das latein der karolinerzeit unterscheidet sich doch recht erheblich fon dem der antike. Aber, andrerseits, wenn man zehn jahre lang teglich und stündlich Cicero runtergeschrubbt hat, um nicht fon Catullus’ ewigem passer zu reden, könnte die Brenner fielleicht was sein. Hat das weib was fon wert geschrieben? Und wer ist diese dozentin, mit der wir dann zusammenstecken? Kluges weibsbild oder ein kerl im rock? Was helt sie fom stimmrecht?
Morgen komme ich hoch und hocke auf deinem schreibtisch. Einen artikel über neuentdeckte Sapphogedichte wird klein Hanna dann ins reine geschrieben haben. Ohne sie were die schule unendlich fad, die elewinnen haben ansonsten nur spitzenblusen und nobelgedanken im kopf, keinesfalls jedoch die paradigmen.
Ich streichle dir über deinen fiel inhaltsreicheren.
Hast du plene für die ferien? Mutter und ich wollen über die weinachtstage heim nach Karlstad, doch zu neujahr sind wir zurück.
*
Brief von Gudrun Nordin an Elisabet Gran v. 30.11.1909
Dienstagabend
Liebe Lissie!
Ich habe mit Thea über die Brenner geredet. Der Himmel weiß, was sie davon hält, sie redet drumherum, sagt weder ja noch nein. Ich glaube, sie hat Bedenken, entweder wegen Dir oder dem Weibsbild. Brummelt ständig, sie sei nicht literarisch bewandert, wäre doch, um Gottes willen, nur Lic. für die Korrespondenz von Petrus de Dacia! Sag, ist das nicht eine vorzügliche Voraussetzung für die Brenner? Spätes Latein und Briefe.
Weiß der Kuckuck, warum ich selbst dergleichen schreibe. Weißt Du, was es mich kostet, diesen Brief zu schicken? Was machst Du eigentlich in Uppsala, wenn es in Stockholm eine Hochschule gibt? Und warum gehst Du nicht ans Telephon, wenn ich anrufe?
Deine
Choice
*
Brief von Elisabet Gran an Gudrun Nordin v. 2.12.1909
L. Choice!
Ich gehe nicht ans Telephon, wenn Du anrufst, weil ich 1. arbeite, 2. nachts schlafe, 3. im »Gillet« sitze mit meinen l. Kollegen Huund, Wallin und Bondeson, die dozentengemäß Punsch miteinander trinken. Ehrlich gesagt – warum rufst Du immer nachts um 12 Uhr an? Vergiß nicht, wie früh eine arme Academica am Katheder zu stehen hat, im Unterschied zu einem Schreiberling wie Dir! Um zehn Uhr lege ich ganz einfach den Hörer neben den Apparat.
Wenn Thea weder von mir noch der Brenner etwas wissen will, habe ich keine Ahnung, was wir tun könnten. Die alte Brenner ist Voraussetzung für die Edition, weil es ihre Briefe sind, und die Idee stammt immerhin von mir. Sogar Schlippenbach segnet die Sache gütig ab und verspricht, an ein paar Fäden zu ziehen. Trotz Theas Lateinkenntnissen müssen wir wohl ohne sie auskommen, sollte sie sich nicht mit uns anderen anfreunden. Vielleicht finden wir Myriaden von Briefen in deutsch und nur zwei, drei in lateinisch. Und keine von uns ist ganz unbewandert in der Römersprache. – Wodurch ist sie übrigens so vortrefflich? Hat sie irgendwelche »Tugenden«, wie man zur Brenner-Zeit sagte?
Nach Stockholm kann ich freilich nicht ziehen. Was hat die Stadt, das Uppsala nicht hätte? In der Carolina liegen fünf katalogisierte Brenner-Briefe, und ich habe Collijn aufgetragen, weitere zu suchen.
Grüße,
Lissie.
PS. Übrigens hat Sthlm eine Sache, die U-a fehlt: die Königliche Bibliothek. Ich beabsichtige, die Sammlungen in der nächsten Woche irgendwann durchzugehen, um zu sehen, was dort für Briefe liegen. Könnten wir drei uns treffen? Ich rufe an! Du gehst ja wohl ans Telephon, zumindest in der Redaktion?
PS 2. Wenn ihr bockt, mache ich die Arbeit eben selbst! Ewig DieSelbe.
*
Telegramm von Gudrun Nordin an Elisabet Gran
v. 3.12.1909
Gerade du musst von böcken reden beide ganze nächste woche daheim thea mittwoch nm frei bezahlst du deine telephonrechnung nie tschois
*
Montag, den 6.12.1909
Heute nacht wachte ich gegen drei Uhr auf, ohne zu wissen, wo ich bin. Mein eigenes Bett schien vertauscht, der Geruch in meinem Zuhause ein anderer als sonst. Ich hatte einen Traum, an den ich mich beim Aufwachen zunächst nur verschwommen erinnerte, doch dann trat er mir klar wie eine Glasmalerei in der Kirche vor Augen. Wie er zu deuten ist, weiß ich nicht, ich könnte wohl Huund fragen, der sich um solcherlei kümmert, aber ich bringe es nicht über mich. Kurz und gut: Ich schlief, und ich war in einem Wald. Um mich herum standen dunkle Kiefern oder Tannen, und ich konnte den Geruch von Erde spüren. Das Gras im Gehölz war weich wie Daunenkissen. Ich erwachte und schaute zum Himmel empor. Er war schwarz, obgleich Sommer gewesen sein muß, und hoch oben sah ich eine Mondsichel, von merkwürdigem Gelb. Stimmen erklangen um mich herum, doch ich konnte nichts sehen. Da setzte ich mich auf, und plötzlich befand ich mich in einem behaglichen Zimmer. Frauen bewegten sich überall an den Wänden. Sie trugen Platten in den Händen, und es herrschte eine Art Weihnachtsstimmung. Die Speisen schienen die üblichen Weihnachtsgerichte zu sein, und ausnahmsweise interessierten sie mich nicht besonders. Die Frauen waren nämlich anders als Frauenspersonen sonst: Alle trugen verschiedenartige Kleider, nicht nur im Schnitt und in der Farbe, sondern auch im Modell. Lange Röcke über wattierten Unterkleidern, Krinolinen und Turnüre. Alle Arten Haaraufbauten waren vertreten – und dort eine Nonne mit Schleier, die ihren Kopf wie im Gebet senkte und sich der vollbeladenen Platten enthielt.
Weit hinten im Raum war eine Apsis, dort erblickte ich eine Skulptur, eine Jägerin aus der Antike. Die Luft war trocken und warm, wie wenn man in einem Holzhaus Feuer macht, und ich setzte mich an einen langen Tisch, als wollte ich essen. Da sah ich, daß die Tischplatte mit Briefen bedeckt war, gefaltete Papiere mit erbrochenen Siegeln. Die Briefe lagen in Stapeln, als ich sie berührte, fielen sie wie Kartenhäuser zusammen, und die Papiere rutschten über die Kanten zu Boden. Der Tisch war mit einer Glasplatte bedeckt, wie in der Konditorei, und darunter lagen weitere Briefe, manche mit verwischter Tintenschrift, so als hätte jemand Kaffee darauf vergossen.
Als ich den Blick hob, standen die Frauen mir direkt gegenüber, und mit einemmal erkannte ich viele der Gesichter. Ich weiß nicht mehr, wer sie waren, doch die Brenner sah ich, und sie lachte herzlich über mich, wie ich da in all den Briefen wühlte. Auch andere Schriftstellerinnen standen dort, und die letzte in der Reihe war Selma Lagerlöf, in der Hand hielt sie die Nobelpreis-Urkunde, und sie lächelte mir huldreich zu, als fände sie mich amüsant, bedauernswert und redlich zugleich.
Ob sich die Frauen im Nichts auflösten, kann ich nicht sagen, doch plötzlich stand der Referent der Literaturgesellschaft in der Apsis, auf dem Platz der Statue, und unterstrich beredt die Vortrefflichkeit aller patriarchalischen Ordnung. Dann nahm ich einen schwachen Parfümgeruch wahr und darauf den Gestank des Garderobenschranks – und ich erhob mich, um zu widersprechen, um zu betonen, daß auch den Frauen Stimmrecht zusteht. Doch erneut ertönte Lachen, und der Referent lachte noch lauter als die Brenner, und Eiszapfen hingen vor den Fenstern.
Da erwachte ich, zündete die Petroleumlampe an und las ein Weilchen, bis mich der Schlaf übermannte. Am Morgen sah ich am niedergebrannten Docht, daß ich vergessen hatte, das Licht zu löschen.
*
Brief von Sophia Elisabeth Brenner (geb. Weber) an Margerithe Catrine Spiker (geb. Brander) v. 30.6.1715
Liebste Schwester,
wenn Euer eigener züchtiger Sinn es zulassen sollte, so verkehrt über mich zu urteilen wie meine conduite Euch gegenüber seit Eurer Abreise von hier zu verdienen scheinet, verlöre ich gewiß in Euren Augen jedwedes gutes Ansehen. Gleichwohl bin ich nicht so frevelhaft, wie es scheinen mag, denn Gott allein weiß, wie lieb Eure Person und Euer Andenken mir sind, und wie oft ich Eure Anwesenheit wünsche.
Meine vielgeliebte Schwester mag sich wohl denken, daß ich nicht ohne herzliches Entzücken vernommen, zunächst von Eurer und Eures l. Gemahls nach so viel erduldeter Gefahr glücklich überstandener Reise; dann daß Ihr zwiefach glücklich Mutter geworden, samt daß Ihr in einem angenehmen Zustand an dem Ort lebet, wo Ihr weilt. Sollte ich denn nicht sogleich meine Beifreude und Glückwunsch an den Tag legen? Gewiß, doch liegen die Briefe wahrhaftig noch hier in meiner Schreiblade. Ich hoffe, wenn der junge Brander reiset, vielleicht ein wenig weitläufiger schreiben zu können. Indes muß ich, obgleich beinahe allzu spät, meinen schuldigen Dank für den Überzug aussprechen. Er ist wahrhaft gut. Ich beklage allein, seinen Preis nicht zu kennen. Eure l. Mama will nichts hören von einer Bezahlung. Dieses benimmt mir die Freiheit, so daß ich nie mehr wagen werde, Bruder Brander mit dergleichem zu bemühen, da ich nicht weiß, wie solches gebührend zu vergelten.
Fike und Marie Aurore, welche beide die vergnügliche – obgleich gar kurze – Gesellschaft, die sie mit Euch, liebste Schwester, pflegten, in ständigem Andenken halten, grüßen Euch tausendfach; beide sind abwesend. Doch tue ich es in ihrem Namen, wohl wissend, welch aufrichtige Herzensneigung sie Euch entgegenbringen. Vor diesmal nicht mehr als einen lieben Gruß an den Herrn Bruder Brander, nebst Euch selbst und Eure Kleinen, die sämtlich dem Schutze des Höchsten anbefehlend ich bis zum Tode verbleibe
Meiner liebsten Schwester
dienstwilligste und
treueste Dienerin
Sophia El. Brenner
*
Mittwoch, den 8.12.1909
Der Brief schmückt seinen Platz in meinem Journal. Ich fand ihn heute in Stockholm in der Königlichen Bibliothek. Am Vormittag widmete ich mich den Studien der Handschriften, und zu Mittag gab es dann Grützwurst und den Handschriftenbibliothekar. Um in der KB besseren Zugang zu den Briefen zu bekommen, bestach ich den Bibliothekar im »Sturehof«, und da er Beefsteak bestellte, mußte ich mit Grützwurst und Dünnbier vorliebnehmen.
Das ist der erste Brief, den ich anderswo als in Uppsala auffand. Der Bibliothekar in der KB rümpfte nur die Nase und sagte, er könne nicht begreifen, was ich mit so einem Schreiben wolle – Weibergeschwätz nannte er es. Einen Augenblick gab ich ihm fast recht, selbstverständlich hätte ich lieber einen Brief gefunden, der vom poetischen Schaffen der Brenner berichtete, von ihren Kontakten zu anderen Autoren oder ihrer Ansicht zum herrschenden Krieg. Die Reflexionen über Kindbett, Reisen und Überzüge wirkten so dürftig. Dennoch konnte ich nicht anders, als immer verärgerter zu reagieren. Weshalb waren Kindbett und Überzüge unerheblich? Weshalb sollten die Auslassungen des Bibliothekars, die er beim Beefsteak über die Nick-Carter-Gefahr und das Abstumpfen der Massen von sich gab, so unendlich viel vernünftiger sein?
Die Anschrift des Briefes zeigte, daß die Adressatin nach London gezogen war. Ich stellte mir die Spiker als eine dieser Frauen der Großmachtzeit vor, die wie die Männer im Feld lagen, mit ihren knöchellangen Röcken durch den Lehm der Schlachtfelder stapften und unruhig dem Grollen der Kanonen lauschten, sich niemals sicher, ob sie nach dem Kampf nicht Witwe wären. In drei Jahren hatte sie zwei Kinder geboren, und irgendwann hatte sie der Brenner einen Überzug geschickt, vielleicht aus prächtigem englischem Tuch. War er gedacht als Hochzeitsgeschenk der Brenner an eine ihrer Töchter? Sie wollte das Übersandte gern bezahlen, und um ehrlich zu sein: sie konnte die Spiker wirklich kaum um weitere Überzüge bitten, wenn sie nicht einmal erfuhr, was jener gekostet hatte.
Ich wendete das Blatt und schaute auf die Rückseite mit der Adresse:
A Madame
Mad: Margerithe Catrine Spiker
Citté a London
Das Papier roch trocken und alt, wie es Manuskripte an sich haben. Niemals erscheint die Vergangenheit so nahe wie beim Arbeiten mit Handschriften. Dieses Papier hatte die Autorin beschrieben. Es war der Brenner eigene Hand, die die Gänsefeder über die Seite geführt hatte. Einmal war die Feder gehoben und angespitzt worden, oder sie hatte sie vielleicht gegen eine neue ausgetauscht, die fertig angespitzt vor ihr lag, falls sie eine vorausschauende Person war. Bei der Vielzahl ihrer Verrichtungen war sie vermutlich dazu gezwungen. Während der Jahrhunderte war die Tinte verblaßt, doch der Geruch war dem Papier geblieben, dumpf und dennoch wundervoll. Die Dichterin pflegte zu erklären, ihrer schöngeistigen Tätigkeit käme sie in von häuslicher Arbeit freien Stunden nach. Spürte man hier einen Duft karolinischer Kochkunst? Der Brief war im Juni geschrieben – da gab es vielleicht Kalb am Spieß, und dazu genoß man Spinat und zarte Karotten. Als erster Gang wurde möglicherweise eine Wassersuppe mit Kräutern gereicht.
Natürlich galoppierte meine Phantasie jetzt mit mir davon. Das Papier roch nach Papier, altertümlichem Lumpenpapier mit verblaßter Tinte. Und doch konnte ich die häßliche alte Dame sehen, die mit ihrer Feder am Tisch saß und schrieb. Mehrere erwachsene Kinder hatten das Elternhaus verlassen. Viele waren früh gestorben. Zwei Töchter, Fredrika und Maria Aurora, waren noch ungebunden und vielleicht zu Besorgungen unterwegs, als die Mutter den Brief schrieb. Sie mußten zu den jüngsten der fünfzehn Kinder zählen. Ein paar Jahre später heiratete Maria Aurora, und die Brenner widmete ihr eine Hochzeitsschrift, in der sie die körperliche und geistige Gemeinschaft einer guten Ehe beschrieb.
Hätte die Brenner erörtert, was vom Krieg an Kunde kam, wäre man in die Luft gesprungen und hätte den Brief interessant gefunden. Aber die Frage war, ob Kinder und Überzug nicht mehr über die Zeit und die Briefschreiberin aussagen – vielleicht nicht eben über ihr literarisches Streben, jedoch über ihre Person. Schließlich war es bei einer Briefedition wesentlich, der Person und dadurch ihrem Werk näherzukommen. Man setzt dabei natürlich voraus, daß die Briefe sensationell wären. Bei jedem Brief sollte der Leser am liebsten vor Erstaunen den Mund aufreißen: Oh, war das Privatleben des Autors von dieser Art und welch interessante Gedankengänge! Erklärt und kommentiert würde das Ganze vom allwissenden Herausgeber, dieser Lichtgestalt auf Erden. Und was finde ich dann ... Weibergeschwätz!
Wieder sah ich die Autorin an ihrem Schreibpult sitzen, sie hebt die Feder vom Papier, schaut nachdenklich auf. Das Kalb, gespickt mit Kräutern, verbreitet angenehmen Duft. Vielleicht sollten der Gatte und sie süßen Wein dazu trinken, wie zuweilen üblich. Der Bote draußen wartete leicht ungeduldig auf das Frauenzimmer, das einen ausführlichen Brief verfaßte, obgleich er in Eile war. Sie hat ein Doppelkinn, blaßblaue Augen und einen gräßlich kleinen Mund. Die Brenner weckt meine Neugier, lockt mich, weil sie so schwer Zugang gewährt. Sie war eine Bürgerfrau mit Alltagskram im Kopf – doch was steckte dahinter? Was machte das Einfache so bedeutungsvoll?
»Nun, war es nicht reiner Schnickschnack?« fragte der Bibliothekar der Handschriftenabteilung, als ich den Brief zurückgab.
»Im Gegenteil«, erwiderte ich. »Der Brief war sehr ergiebig. Er hat mich so manches über die Brenner gelehrt.«
*
Donnerstag, den 9.12.1909
Gestern nachmittag sollte ich Thea vorgestellt werden. Die Begegnung war nach dem Bibliothekar und der Grützwurst angesetzt, und ich hatte bereits ein Bild von meiner zukünftigen Kollegin vor Augen. Choice hatte eine Menge erzählt, also wußte ich, daß Thea die Haare kurz trug und radikale Verfechterin einer neuen Rechtschreibung war. Sie schrieb alles klein und hätte am liebsten die ganze Orthographie umgekrempelt.
Als ich Choices Zimmer betrat, verlangte mein ganzes Wesen nach einem großen Stück Backwerk und ein wenig weiblichem Geschwätz. Der Handschriftenbibliothekar war gar zu anstrengend gewesen. Choice saß noch immer beim Mittagessen. Gekochte Speisen am hellichten Tag fand sie verwerflich. Gemüse sei die beste Nahrung, je weniger behandelt, desto gesünder, der Körper soll alles sichtlich selbst bearbeiten dürfen. Persönlich pflege ich bei einer Tischgemeinschaft zu essen, und dort bearbeitet die Frau des Hauses meine Kost. Choice kauft beim Apotheker Karín Tabletten zur Zubereitung von Dickmilch. Die trägt sie in braunen Fläschchen mit sich herum und ißt sie zum Lunch mit Obst und Knäckebrot. Wenn zum Frühjahr der Vorrat an Früchten zur Neige geht, wird die Mahlzeit spartanischer, und das Knäckebrot spielt die Hauptrolle.
Ich fand sie im Stadium der Äpfel und Trockenpflaumen. Die Mahlzeit sah ganz besonders apart aus, da Choice in maßgeschneiderter Kostümjacke nicht eben einem Naturmenschen glich. Sie bezieht ganze 4000 im Jahr. Die Jacke, von ungefähr gleicher Nuance wie die vier Tausender, ließ sie wie eine echte Pariserin aussehen.
Kaum war ich ins Zimmer getreten, als Choice schon von Thea zu erzählen begann. Ich nahm Platz und zog die Schnürstiefel aus. Sie scheuerten an den Fersen, und ich verachtete mich selbst, weil ich nur wegen des Aussehens neue Stiefel nach Stockholm angezogen hatte. Doch sie sind gelb und glänzend poliert, und ich mag sie außerordentlich gern.
Choice begann mit einer kleinen Vorstellung, bei der sie die Rolle Theas in ihrer Funktion als Lehrerin mimte: »Ich sehe sie direkt vor mir, dort im Wallinschen Mädchengymnasium ... wie sie das Lehrbuch zuschlägt und über die Fehler der Elevinnen bei Grundbegriffen der lateinischen Grammatik wettert, wenn sie nicht imstande sind, Cicero zu beugen oder ›ein übermütiger Seemann‹. Dann nennt Thea sie eine Schande für das weibliche Geschlecht, und hinterher plagt sie das schlechte Gewissen.«
Jetzt kratzte Choice den Rest der Dickmilch zusammen und warf die Apfelschalen in den Papierkorb. Sie schob den Stuhl zurück und zog die oberste Schreibtischschublade ein Stück auf. Dann lehnte sie sich so weit nach hinten, daß der Stuhl gegen die Wand kippte, stützte die Füße auf die Schublade und erklärte, ich würde entzückt von Thea sein.
»Sie ist streng und ein bißchen barsch, aber ...«
»... hat ein Herz aus Gold?«
»Du brauchst nicht so ironisch zu sein! Jedenfalls interessiert sie sich für gute Literatur.«
Jetzt hämmerte es gegen die Tür. Choice schwang rasch die Füße auf den Boden und schob die Schublade zu. Ich schaute auf meine Stiefel hinunter, die noch immer fein säuberlich auf dem Fußboden standen.
»Herein!«
Die Tür wurde aufgestoßen, und ein robustes Weibsbild um die Fünfunddreißig trat ins Zimmer. Sie trug einen langen, engen Rock, Knopfstiefel, wie wir beide, Herrenweste und Sportjacke über der Bluse. Ihr Haar war dunkel, von jener Nuance, die blonde Kinder als Erwachsene haben, und tatsächlich war es in Höhe der Ohrläppchen abgeschnitten. Die Gesichtszüge konnte man kaum fein nennen, eher stimmte das Gegenteil, doch ihr Blick war so klar, daß man sie für schön hielt. Das also war Thea. Die ganze Gestalt strahlte Begabung aus.
»Entschuldigt die Verspätung. Habt ihr gewartet?«
»Überhaupt nicht!«
Choice ging ihr entgegen und schüttelte ihr die Hand, zog einen Stuhl hervor und knuffte das Rückenkissen zurecht. Ich erhob mich und gab ihr ebenfalls die Hand. Ohne Stiefel fühlte ich mich höchst lächerlich.
»Dozentin Gran, Lizentiat der Philologie Jansson. Könnt ihr zwei euch nicht gleich duzen, wenn ihr jetzt ohnehin zusammen arbeitet?«
»Wenn wir es tun, ja«, sagte Thea und schaute mich lange an. Es war, als käme man in die Schule und habe seine Aufgaben nicht ordentlich gemacht. Streng? Ja, das schien zu stimmen.
»Was sind Sie eigentlich für eine Person, Dozentin Gran?«
Ein Gefühl bekam die Oberhand: die strumpfbekleideten Füße erschienen gigantisch. Vorsichtig schielte ich auf sie hinunter. Sie sahen wie immer aus, recht wohlgeformte Baumwollfüßlinge mit nur einer einzigen, fast unmerklichen Stopfstelle am linken kleinen Zeh. Zweifelsohne war die Frage nur rhetorisch gemeint, denn sie fuhr mit dem Sprechen fort, ohne auf Antwort zu warten.
»Weder Choice noch ich haben schließlich Ihren gediegenen wissenschaftlichen Hintergrund, also frage ich mich, ob wir die Richtigen für diese Aufgabe sind. Haben Sie mit Ihren Kollegen gesprochen?«
Ich konnte der Versuchung nicht länger widerstehen, setzte mich und zog die Stiefel an. Die Ferse schmerzte heftig, als ich den Fuß hineinpreßte. Wenn ich nur nicht so verflixt kokett wäre! Nachdem ich eine Zeitlang mit den Verschlüssen gekämpft hatte, reichte mir Choice einen Stiefelknöpfer, der wohl in ihrer Schublade gelegen hatte. Nach dem halben Stiefel sagte ich seufzend: »Meine Kollegen sind Männer. Auch wenn unter ihnen Renaissanceforscher und Texteditoren sind, interessiert sie die ›Weibsperson‹, wie sie die Brenner nennen, herzlich wenig.«
Thea zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.
»Und Schlippenbach? Er soll doch ein kluger Mann sein.«
Der rechte Stiefel war zugeknöpft, und ich widmete mich dem linken. Dieser Fuß schmerzte am schlimmsten. Welch Glück, daß der Bahnhof in der Nähe lag.
»Er hat anderes um die Ohren«, erklärte ich. Professor, Rektor und Mitglied sämtlicher Gesellschaften und Akademien, die man sich nur vorstellen kann, selbst wenn er noch nicht in die Schwedische Akademie gewählt wurde. Ich schloß die letzten Knöpfe und erklärte das Herausgabeprojekt. Thea brummelte, sie spreche in der Tat fließend Latein, was man in heutiger Zeit ja nicht von allen Studierten behaupten könne. Ich empfand es sofort als Anspielung auf mich, versuchte jedoch, einem Streit aus dem Weg zu gehen, und verbreitete mich statt dessen über Handschriften und Reisen. Alle müßten wir auf lange Archivreisen gefaßt sein, denn bei den vielen internationalen Kontakten der Brenner seien wir gezwungen – vielleicht war es ja auch Glück –, ausländische Archive aufzusuchen.
Die Gedanken eilten aus dem Redaktionszimmer davon und in die Welt hinaus. Welche Länder würden wir besuchen, welche Archive durchforsten? In den Ohren rauschte es, es mußte der Wind der Freiheit sein. Nur ich allein – nein doch, nur wir drei – und nichts band uns hier. Keine Kinder, kein Mann, keine Eltern. Mutter und Vater waren nicht sonderlich alt, Papa war fortwährend mit seinen Pelzen beschäftigt, und Mama noch immer imstande, Pelze wie Haushaltsbürden auf kleidsame Weise zu tragen.
»Und wer bezahlt die Reisen?« fragte Thea.
Ich legte den Stiefelknöpfer mit einem Scheppern auf den Tisch. Eine derart materielle Frage hatte Choice natürlich nicht interessiert.
»Das geht schon in Ordnung. Ich habe Schlippenbachs Wort.«
Thea fuhr mit den Fingern durch die Stirnlocke und schaute mich an. Ich wich ihrem Blick aus.
»Nun ja«, sagte sie, »solange wir in den Ferien reisen, dann ... Und Choice ... was sagt der Chefredakteur?«
»Oh, wenn ich von unterwegs nur ein paar Reportagen schicke, wird er schon mitspielen. Er ist ein netter Mann.«
»Dann sind wir uns einig?« fragte ich.
»Eine Sache noch!« unterbrach Thea. »Ich weiß nichts über die Brenner-Zeit. Eigentlich hatte ich absagen wollen ...«
»Nun, man lernt wohl bei der Arbeit.«
»Aber ... Dozentin Gran, jetzt will ich Ihnen etwas erzählen: Ich wollte die Schiffbruchmetaphorik des Horatius in der Klasse durchgehen – all das über die Liebe und die Gefahr des Meeres ...«
»Mir bekannt!« erwiderte ich bissig.
»Und als ich in der Schulbibliothek etwas ganz anderes nachschlug, fand ich dieses hier ... Sie kennen es selbstverständlich bestens. Es fiel mir förmlich in die Hände und öffnete sich von selbst genau an dieser Stelle ...«
Sie nahm einen dicken uralten Wälzer aus der Kollegmappe und reichte ihn mir. Ich griff vorsichtig danach. Sophia Elisabeth Brenners Poetische Verse, verfaßt in mancherlei Sprachen, zu unterschiedlichen Zeiten und bei mannigfaltigen Gelegenheiten stand auf der Titelseite. Auf der Innenseite des Einbands hatten sich die Besitzer verewigt. Das Buch hatte bereits ein langes Leben hinter sich, und es war gelesen worden, ein ums andere Mal, denn das Papier war an den Ecken abgegriffen und schmuddelig. Zuoberst stand eine frühe Eintragung, kaum leserlich. Dann folgte: A. L. Berg 1779, Constance Ekensparre 1842. Ein Namenszug war durchgestrichen, und jemand hatte versucht, ihn mit dem Messer zu tilgen. Hatte einer das Buch von seinem schlimmsten Feind geerbt? Vielleicht war es der Name eines geliebten Freundes, dort hingeschrieben in erster Verliebtheit ... und später, als die Liebe erkaltete, wollte man ihn löschen. Auch Kritzeleien eines Kindes fanden sich dort. »Poetische Verse« hatte es geschrieben, mit gleich vielen Schnörkeln wie auf der Titelseite. Darunter ein Versuch, vielleicht vom selben Kind, das Titelkupfer zu kopieren. Die Frisur der Brenner in der Kinderzeichnung war noch höher und lockiger als auf dem Stich, und ihr energisches Gesicht wirkte nicht schöner, doch tatsächlich menschlicher. Als ich sie jetzt betrachtete, begann sie sich zu bewegen. Zuerst wand sie sich nur ein wenig, so als scheuere das Schnürmieder, dann beugte sie sich vor und sah mich an. Ihre Augen waren wirklich sehr hell, doch zeugten sie von Charakter. Jetzt lächelte sie – da war nicht das lauthalse Lachen aus dem Traum, nur ein leises ironisches Lächeln, vielleicht ein wenig geheimnisvoll. Hatte das Weib etwas zu verbergen?
Thea ließ das Buch los, und die Brenner erstarrte zu Tintenstrichen, gezeichnet von einem Kind, das die Feder vor langer Zeit ins Tintenfaß getaucht hatte. Ich legte den Zeigefinger an die Stelle, die Theas Finger soeben noch markiert hatte. »Grab-Schrifften« las ich zuoberst auf der linken Seite. Doch Thea wies nach rechts. Dort stand ein Sonett – kein kleines Futteral für Spleen und Dekadenz, wie neuzeitliche Dichter es hervorbrachten – nein, eine Grabschrift »Dem Söhnchen Marten brenner, der geboren ward den 29. Mai 1688 und verstorben selbigen Jahres den 25. Oktober«. Fünf Monate alt nur.
Soll ohne Ende Schmerz, soll Sorge mich durchgehen,
Soll klagen ewig ich, weil du verstarbst so früh?
Beweinen soll ich dich, da dich anlächeln sie,
Die Engel, denen gleich du JEsum schon darfst sehen?
Wie sollte mir daran ein Zweifel je entstehen:
Entziehn wird Wonne dir, die himmlische, sich nie.
Teilhaftig bist bereits der Gnade du. O wie
Nur könnte dein Geschick als Mißgeschick ich schmähen!
O selig überaus du, dessen Weg sich schloß,
Noch ehe er sich dir eröffnete. Dein Schwinden
Ist Glück. Denn unsre Fahrt in wüsten Sturms Getos
Verwirrt sich, noch bevor der Hafen sich kann künden.
Aus deiner Wiege fandst du leicht in JEsu Schoß,
Dahin so viele schwer, die meisten niemals finden.
Der Sturm wirft unsere Schiffe auf dunklem Meer umher, und unsere Rettung ist allzeit ungewiß. Doch mit seiner Wiege als Schiff schaukelte der kleine Marten in einer Lustfahrt auf sommerlichen Wogen, unterwegs in die Seeligkeit.
»Es fiel mir schwer, von diesem Bild loszukommen ... dabei, man bedenke, verabscheue ich Kinder!«
»Und sind Lehrerin?«
»Im Mädchengymnasium.«
»Auf dem Friedhof in Karlstad liegen drei tote Geschwister von Thea«, erklärte Choice, »und obendrein hat sie zwei lebende Geschwisterkinder.«
»Nun ja, sie waren nicht einmal ein Jahr, als sie starben, und ich erinnere mich nicht an sie.«
Ich selbst bin das einzige Kind daheim, geliebt und ersehnt. In unseren Kreisen ist die Kindersterblichkeit heute gering, doch weiß ich schließlich, wie es Freunden ergangen ist: Die toten Kinder waren im Kreis der Geschwister stets zugegen, wie eine Art Schatten. Und bestimmte Tage im Jahr waren gezeichnet durch sie; zwar gab es weder Fest noch Trauerfeier zu ihren Ehren, doch Mutter und Vater wurden gleichsam stiller, und dann kam der Satz: ›Heute ist Fredrikas Geburtstag‹, und man ahnte, daß sie nachrechneten, wie alt das Kind geworden wäre. Ich konnte mir denken, daß man in Theas Familie die Sache nie sehr sentimental anging.
»Das Gedicht ist gut«, sagte ich. »Die Brenner konnte ihre Sache. Sie werden sehen, Frau Doktor Jansson, daß es bei ihr mehr zu holen gibt, als man glaubt. Sie ist unsere Arbeit wert.«
Thea sah mich fest und entschlossen an, ohne an ihrem Haar zu bosseln oder im geringsten verlegen zu wirken.
»Na dann, abgemacht! Ich schlage ein! Ich bin wohl die Älteste? Zweiundneunziger Jahrgang. Thea.«
»Elisabet, allerdings meist Lissie. Nulleinser.«
Nachdem wir das Jahr unserer Reifeprüfung ausgetauscht hatten und Thea berichtet hatte, daß sie eins der ersten Mädchen gewesen sei, die in Karlstad die Prüfung ablegten, erstaunte Choice uns beide mit dem Vorschlag, Brüderschaft zu trinken. Wir wehrten ab. Thea behauptete, es sei eine männliche Unsitte, nur um öfter Gelegenheit zum Trinken zu haben.
»Das Duzen war eigentlich das Ursprüngliche, ehe Feudalherrschaft und Gewohnheiten aus dem Ausland das ganze Titulierungssystem über den Haufen warfen.« Ich spürte erneut den Wunsch nach Süßem.
»Ich weiß! Wir gehen ins Café und mischen uns unter die Ladenfräuleins.«
Die wunden Füße hatte ich fast vergessen, und obgleich sie sich unterwegs bemerkbar machten, konnte die Blätterteigtorte sie beinahe heilen. Sie schmeckte beileibe nicht übel.
*
Anfrage, publiziert in allen größeren Tageszeitungen, in Ord och Bild sowie der Personhistorisk Tidskrift im Frühjahr 1910
Die Schwedische Literaturgesellschaft bereitet eine vollständige Edition der Briefe der Sophia Elisabeth Brenner (geb. Weber) vor. Die Herausgeber appellieren hiermit an alljeden, ihnen mögliche Auskünfte hinsichtlich der Brenner kundzutun: Briefe von und an die Brenner im Original oder in Abschrift, Vermerke über Schriften von und über die Brenner, Auskünfte über Personen, die mit der Brenner verkehrten, denen sie Gesänge gewidmet oder mit denen sie auf andere Weise Berührung hatte. Informationen sind zu richten an Doz. Gran, Upsala Universität, oder Redakteur Nordin, Stockholms-Posten.