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Zweiter Kreis

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31.5.1910

Heute war Promotion in Uppsala. Die Carolina blieb geschlossen, und auf der akademischen Seite des Flusses bereitete man sich auf das große Ereignis des Jahres vor. Am Schloß und am Universitätsgebäude standen Soldaten der Upplands-Regimente, die Sonne glitzerte in den Epauletten der Leutnants, und die Kanonen wurden gerichtet zum Salutschießen. Vor der Universität versammelten sich bereits die Academici – frackgekleidete Herren jedweder Couleur: schlanke Studentenmarschälle mit blau-gelben Schärpen und frischgewaschenen Mützen; die Dozenten Bondeson, Huund und Wallin mit bestickten Kragen, die Hüte in der Hand; ergraute Professoren – und dann der Rektor, Professor Schlippenbach mit wallendem Bart und pfiffigen Äuglein hinter der Stahlbrille. Dort standen auch die Promovenden, noch ohne Hüte, ohne Lorbeerkränze, und pufften sich wie Kinder auf dem Schulhof.

Mein schwarzes Festkleid aber war nirgendwo zu entdecken. Es lag ordentlich verpackt in einem Koffer, und der Koffer fuhr just in diesem Augenblick mit dem Güterzug in Kimstad ein, um kurz darauf von stämmigen Ostgöten in einen Gepäckwagen verladen zu werden, der nach Finspång sollte. Ich persönlich befand mich ein wenig weiter nordwärts, ungefähr in Höhe von Järna, und ruinierte meine Frisur, weil ich mit dem Kopf aus dem offenen Fenster hing und die Sonne genoß. Ruß wehte mir ins Gesicht und wurde zudem noch ungleich darauf verteilt, landete nicht als kleidsame Mouches. Heute begann der Sommer. Walpurgis war vorüber, ebenso der Frühlingsball, und mit der Promotion endete das Semester.

Der Monat Mai in Uppsala verwundert mich stets aufs neue. Irgendwann um Walpurgis beginnt die Stadt zu blühen, die Bäume treiben Knospen, und das erste zarte Grün zeigt sich, und überall wimmelt es von Menschen, von Studenten und Studentinnen nebst vielerlei jungen Damen, alle in frischen, sanften Farben. Zugleich ist die Luft von einer Spannung erfüllt, die sie vibrieren läßt. Vielleicht rührt es daher, daß so viele junge Leute an ein und demselben Ort versammelt sind, an dem Vergnügen herrscht, aber auch Prüfungsangst. Vielleicht sind die Lüste im Frühling so stark, daß sie die Luft der Stadt zum Schwingen bringen ... ja, auf die gleiche Weise, wie die Liebe zu Gott einst die Sphären zum Kreisen brachte und ihre unfaßbare Harmonie schuf.

Man darf nicht erwarten, daß ich von diesen jugendlichen Vibrationen unberührt bleibe. Vielleicht hätte meine Stellung mich altern und vorzeitig erstarren lassen sollen. Doch gibt es schließlich Gleichaltrige, die noch immer von der Frühlingsballerotik und allen Vergnügungen und Qualen der Jugend mitgerissen werden. In der Frühlingsballnacht stand ich mutterseelenallein in meinem Zimmer und hörte in der Nähe die Serenaden für irgendein Mädchen ertönen ... da überfiel mich die Erinnerung an die kindliche Schwärmerei für Leutnant Greger Färla und die weniger unschuldige Verbindung mit dem lieben Helge. Uppsalas helle Mainacht wühlte meine Sinne derart auf, daß ich tief im Herzen eine Verliebtheit spürte, so unbestimmt, daß nicht sicher war, ob sie einem Gegenstand galt oder ob mich nur die Jahreszeit verzauberte. Gern hätte ich selbst verborgen im Frühlingsdunkel gestanden und eine Serenade für einen schlummernden Adonis gesungen, und vielleicht hätte sich hinter der Gardine ein Licht gezeigt. Doch dort oben im zweiten Stock war ich allein mit meiner Frühlingssehnsucht. Da wünschte ich mich weit, weit weg, an einen Ort, an dem Uppsala mich nicht erreichen konnte.

In Dampfwolken gehüllt, verließ der Schnellzug jetzt den Bahnhof von Järna, und der Kohlegeruch traf auf den Duft von Sörmlands tausend Fliederbüschen. Es war wie auf einem Schulausflug inmitten einer Schar glattgekämmter Mädchen in kurzen Matrosenkleidern ... und obgleich ich mich nicht erinnerte, worin die Attraktion eigentlich bestanden hatte, erfaßte mich doch dasselbe schwindelerregende Gefühl wie damals. Uppsala lag weit hinter mir, und das Abenteuer lockte in der Gegend von Finspång. Thea und Choice saßen gesittet auf ihren Plätzen und verstreuten ihre Utensilien über die Bänke des Zweiterklassecoupés.

Für Thea und mich hatten jetzt die Sommerferien begonnen, und Choice war der Redaktion entkommen, nachdem sie hoch und heilig geschworen hatte, eine Artikelserie über Schwedens Herrensitze und Gutshöfe beizusteuern. Denn zu einigen von ihnen waren wir auf dem Weg. Unsere Annonce war in der Tagespresse erschienen, und in unserem gemeinsamen Herausgeberportefeuille – Arsenal genannt – lag ein dickes Bündel Briefe von Leuten verschiedenen Stands und Geschlechts, gemeinsam war ihnen der wohllöbliche Umstand, laut eigener Versicherung im Besitz von Brenner-Briefen zu sein. Wir hatten gründlich überlegt, die Zuschriften nach Glaubwürdigkeit sortiert und schließlich unter Theas Federführung einen Plan aufgestellt, wie die freie Sommerzeit zu verbringen sei.

Der erste Besuch galt einem Freiherrn unweit von Finspång, dessen Ahnherrin eine enge Freundin der Brenner gewesen war. Er hatte uns mit einem äußerst zuvorkommenden Brief beehrt, der mit »Hochverehrte Dozentinnen!« begann und mit »Ihr ewig ergebener Fabian Gyllensporre. Gut Ekesta, den 29. März 1910« schloß. Auch der Brief selbst war nicht eben übel. In spinnwebfeiner Schrift auf Briefpapier mit Anschrift und Telephon des Gutes geschrieben, und um sicherzugehen obendrein mit allen Angaben versehen, die man gegebenenfalls benötigte: wo der Aufseher anzutreffen sei und welche Rufnummern für die Wohnungen des Freiherrn in Stockholm, Paris und Konstantinopel galten. Wir waren gebührend beeindruckt – zumindest war ich es, die Tochter eines Kürschners. Die Handschrift betreffend, aber auch den Stil, hatte der Brief seinen Ursprung im vorigen Jahrhundert, ich würde meinen, sogar in dessen erster Hälfte. Er begann die verschlungenen Zeilen mit »Anläßlich Ihrer hochverehrten Anfrage in der ›Nya Dagligt Allehanda‹ vom 20. dieses Monats«, gelangte allmählich zu »mein von sämtlichen Anverwandten stets gepriesener Ahnherr Gustaf Gyllensporre behagte, das bürgerliche Stockholmer Fräulein Beata Hochhauer zu seiner Gattin zu nehmen« und endete ganz plötzlich mit dem Hinweis, daß die Brenner und die Hochhauer offenbar intime Freundinnen gewesen waren, »daher sie lange Zeit Briefe wechselten, sowohl in deutscher als auch schwedischer Sprache, dero circa 40 Stück noch heutigen Tags auf unserem Dachboden verwahret sind«.

Bei einer derartigen Briefsammlung war es kein Wunder, daß wir den Freiherrn von Ekesta zuoberst auf unserer Liste plaziert hatten, dicht gefolgt von dreizehn Briefen an den Professor und nachmaligen Erzbischof Erik Benzelius d. J. am Gymnasium in Linköping. Ekesta war obendrein wunderschön gelegen, unweit des Sees Glan, in einer Gegend, die man Östergötlands Hüttendistrikt nennt – darüber hatte das Nordische Familienbuch Bescheid erteilt. Ein Besuch an jenem Ort erschien als guter Anfang unseres Forschungssommers, und Choice hatte ihren Schwimmanzug eingepackt, in der Hoffnung, die glänzenden Wogen des Sees auch hautnah genießen zu können.

Kurz hinter Järna wurde der Fahrtwind allzu heftig, also schob ich das Fenster zu und setzte mich zu den beiden. Choice wühlte im Arsenal nach dem Briefbündel und faltete das Schreiben des Freiherrn auseinander.

»Vierzig Briefe! Kein anderer hat uns einen solchen Packen angeboten.«

»Und obendrein an eine Freundin, von der niemand je ein Wort gehört hat!«

»Eine Sache allerdings beunruhigt mich«, sagte Thea und tippte mit der Zigarettenspitze auf die Worte ›auf unserem Dachboden‹. »In welchem Zustand sind diese Briefe eigentlich? Wenn sie nun keiner mehr angerührt hat seit dem 18. Jahrhundert?«

»Bis auf die Ratten ...«, seufzte ich, denn ich hatte meine Erfahrungen anhand eines spannenden Briefwechsels zwischen Leopold und einem Mitstudenten. Der Briefempfänger hatte die Briefe fein säuberlich binden lassen, doch hinderte das die langschwänzigen Freunde nicht, sorgfältig alle deftigen Worte und appetitlichen Schilderungen aufzuknabbern. Lediglich ein paar Begrüßungsformeln und einzelne Buchstaben waren intakt geblieben, und die Gewißheit, die sich daraus von der Art der Korrespondenz ergab, ließ meine Verzweiflung nur noch größer werden. Dreißig Jahre hatte der Besitzer die Briefe in einem Schuppen verwahrt. Der Dachboden eines Gutshauses konnte kaum schlimmer sein, äußerte ich denn auch laut.

»Sind sie aufgefressen, müssen wir die Tage als Ferien betrachten«, sagte Choice. »Im übrigen kann ich darüber noch immer eine humoristische Causerie verfassen.«

»Stellen wir fest, daß die Briefe des Freiherrn von den Ratten gefressen sind, werden wir auf Ekesta bestimmt nicht alt«, sagte ich in einem Anfall modischer Manier. Doch Choice lachte nur über mich – ja, Thea übrigens auch, während sie mit der Zigarettenspitze vielsagend auf mich wies. Dann kramte sie eine Bridge hervor und steckte sie an. Wir fuhren freilich im Damencoupé, das rauchfrei zu bleiben hatte, doch da wir allein waren, ignorierte Thea die Schilder. Und mit Rauchen und Diskutieren über Briefedition und Frauenrecht verging die Reise rasch, trotz mehrmaligen Umsteigens. Wir waren recht zufrieden, dieweil unsere Ansichten sich trafen, und in Finspång verließen wir schließlich den Zug.

Der Freiherr hatte versichert, man würde uns auf dem Bahnhof abholen, und nun schauten wir ein wenig verloren nach einer Art Kutscher aus. Kräftige Burschen aller Art gab es dort, doch schienen sie mit dem Verladen von Gepäck beschäftigt, also nahmen wir die Schilder an ihren Mützen als Zeichen und verwarfen sie als Dienstmänner. Ein dickbäuchiger Herr mit doppelreihiger Uhrenkette begrüßte überschwenglich einige erwachsene Töchter, die offenbar in der Hauptstadt gewesen waren, um sich dort zu vergnügen. Zwei Studenten spazierten untergehakt zum Bahnhofsrestaurant. Da überfiel mich plötzlich dasselbe Gefühl wie in jener Nacht in Uppsala, doch konnten meine Augen keine Ursache erkennen. Neben mir unterhielten sich Choice und Thea, und ich bin überzeugt, sie sprachen zu mir, doch weiß ich nicht, was sie sagten.

Ein Duft hatte mich reagieren lassen. Als ich stehenblieb und wie ein Kaninchen schnupperte, spürte ich eine ganze Skala von Gerüchen: Ruß, Rauch, frisches Laub, Flieder ... und noch etwas, das weder mit dem Zug, der Stadt oder der Natur zu tun hatte. Es roch ganz einfach nach Parfüm. Also drehte ich mich um, und da entdeckte ich eine weitere weiße Mütze.

»Dozentin Gran«, sagte der Mund darunter – und es war ein sehr schöner Mund, ebenso wie die Augen unter dem Schirm der Mütze.

»Kandidat Månson!« erwiderte ich und nahm seine ausgestreckte Hand. »Was für eine Überraschung!«

»Baron Fabian ist mein Großonkel«, erklärte der Kandidat.

»Er hat mich geschickt, Sie und die anderen Damen abzuholen.«

Ich begriff, daß Thea und Choice mich verblüfft anstarrten und daß ich die Hand des Kandidaten nicht losgelassen hatte. Sie lag so behaglich in der meinen, daß ich keine große Lust dazu verspürte.

»Seid ihr miteinander bekannt?« fragte Choice neugierig.

»Ich studiere Literaturgeschichte«, erklärte der Kandidat. Ich ließ seine Hand los. Thea streckte ihm die ihre entgegen und stellte sich vor, und dann ließ Choice all ihre Reize direkt in die schwarzen Augen des Kandidaten strahlen. Er nahm mir das Köfferchen ab und versuchte Choice vom Arsenal zu befreien, doch sie verbarg es hinter ihrem Rücken. Da nahm er statt dessen die Handkoffer der beiden und ging uns voran aus dem Bahnhof.

»Onkel Fabian hat einen Mann hergeschickt, der die Reisekoffer mit dem Karren bringt. Der Onkel meinte, ich sollte Sie mit der Kutsche fahren, doch das geht so schrecklich langsam. Ich habe statt dessen das Automobil genommen.«

Es kam nicht jeden Tag vor, daß wir im Automobil fuhren, doch selbstredend konnten wir es einem Studenten nicht gestatten, uns reife Frauenzimmer zu beeindrucken. Der Kandidat öffnete die Türen und stellte die Handkoffer auf den Boden. Es sah nicht eben bequem aus. Vorsichtig setzten wir uns, Choice und ich auf den Rücksitz und Thea neben den Kandidaten. Dort war am meisten Platz, also reichte Choice ihr das Arsenal. Ich band den Hut unter dem Kinn fester. Kandidat Månson kurbelte den Motor an.

Und ab ging’s! Ratternd und schaukelnd verließen wir Finspång, fuhren an Schloß und Auroratempel vorüber (auf die uns Kandidat Månson zuvorkommend hinwies) und auf die Landstraße hinaus. Hier begann ein langwieriger Kampf mit dem Wind um unsere Hüte. Barfüßige Bauernkinder blieben am Straßenrand stehen und gafften unserem Wagen hinterher. Ich merkte sehr wohl, wie stolz Kandidat Månson war. Dennoch sah selbst ich, daß das Automobil nicht eben das neueste Modell war. Es war klein und klapprig, und der Kandidat steuerte es mit einer gewissen, möglicherweise gespielten Nonchalance. Das Automobil schlingerte über die Straße, und dann und wann, wenn die Räder über Unebenheiten holperten, hüpften wir in die Höhe. Pferde wieherten erschrocken und sprangen über den Graben. Fuhrwerke hielten am Straßenrand und warteten nervös unsere Eskapaden ab. Saß man in ihm, roch das Automobil besser, als wenn man draußen auf der Straße stand, und der Lärm war gar nicht so schlimm. Der Wind war es, nicht der Krach, der jede wirkliche Konversation unmöglich machte.

Die Landschaft war von ganz anderer Art, als ich, das Mädchen aus Norrköping, erwartet hatte. Hier gab es keine weiten Ebenen mit verstreut liegenden Höfen, und obgleich wir an einer weißen Kirche, groß wie eine Kathedrale, vorüberfuhren, war die Gegend mit der Kulturlandschaft um Schwedens Manchester nicht zu vergleichen. Um die Häuschen blühten Apfelbäume, und an der ganzen Straße von Uppsala her wuchs einfacher lila Bauernflieder an den Hausecken. Der dunkle Wald schien tief, und jenseits der Straße ragten die Berge so hoch auf, daß ich sie zunächst für sich auftürmende Gewitterwolken hielt. Vielerorts wagten sich kleine Äcker schüchtern aus dem Wald hervor, auf unsicheren Beinen und mager wie die Bauernkinder, keine schwellenden Cerestempel wie in Uppland oder der Gegend um Linköping. Ich mochte ihr Aussehen. Waldzipfel ließen Raum für eine Ackerbucht, und hier und dort ragten kleine Felskuppen mitten aus der Saat auf. Die grünen Halme hatten sich aus der Erde gewagt und reichten gewiß bis zu den Knöcheln. Diese Landschaft war dem Menschen nicht vom Herrn gegeben – er hatte sie mit Mühe und Plagen erworben. Jedes Ackerstück war von Menschenhand geschaffen. Ich fragte nach Denkmälern der Vorzeit, und der Kandidat kannte eine verfallene Marienkirche und einige Findlinge, angeblich ein Grab, auf einem Acker dicht bei Ekesta. Doch schien er kein Faible fürs Vorzeitliche zu haben. Über die Wirtschaft der Gegend wußte er besser Bescheid: In Finspång gab es eine Gießerei, der nahezu der ganze Flecken gehörte und die für die Eisenverarbeitung und Forstwirtschaft einstand. Dort wurden vor allem Kanonen hergestellt; in Lotorp gleich nebenan fertigte man jährlich mehr als 21 000 Äxte. Auf dieser Seite gab es vor allem Wald, Äcker und Fischfang, aber auch hier arbeiteten viele Leute für die Gießerei. Reich war die Gegend nicht eben, doch mit einer Mühle und ein wenig Viehzucht kam Ekesta ganz gut zu Rande.

Rechter Hand war jetzt der See zu sehen – zunächst nur ein Streifen, dann eine breite Bucht mit noch mehr Wald und Bergen auf der anderen Seite. Wir fuhren an einem Gutshaus mit großer Landebrücke vorüber, und unten am Wasser plantschten ein paar Kinder, blaß und glücklich. Kurz darauf bog die Straße in den Wald ab, und Wildrosenranken wölbten sich wie Triumphbögen über unseren Köpfen. Eine braune Stute mit ihrem Fohlen blickte vom Weideland auf, als wir vorüberratterten, doch schien der Lärm sie nicht zu stören. Ich begriff, daß wir kurz vor Ekesta waren.

Das letzte Stück bis zum Hof glich einer Berg-und-Tal-Bahn, die einen zwischen Ständen und Erwerbszweigen hin und her warf. Wir ließen die Stute hinter uns, kamen an einem gut gepflegten Haus vorüber, das wohl für Sommergäste bestimmt war, bogen hinter einer Kate mit gescheuerter Vortreppe scharf ab, fuhren einen kleinen Hügel hinunter und sahen plötzlich fruchtbare Äcker zu beiden Seiten. Dann ging es in das Dunkel einer Eichenallee und einen Hang hinauf, den das Auto mühselig hustend und ächzend hinter sich brachte.

Dort lag nun der Hof von Ekesta, weiß und leuchtend im Sonnenschein. Das Wohnhaus war für einen Herrensitz außerordentlich klein, auch wenn man es im Volksmund so nannte. Dennoch hatte es eine prächtige Fassade, mit großen Fenstern, Pfeilern und Balkon. Am Giebel befanden sich mehrere Blendfenster. Hinter dem Haus konnte man einen Garten im englischen Stil erkennen.

Es war ein Haus, das jemand als Herrensitz erbaut hatte, der nicht ganz über die Ressourcen für ein solches verfügte. Aus der Zeit der Brenner konnte es schwerlich stammen, vielleicht hatte ein Nachkomme ihrer Freundin und des hochgeachteten Ahnen dieses Geschlechts, Gustaf Gyllensporre, das Haus unter dem Regime der Hüte errichten lassen oder in den ersten Jahren unter König Gustaf. Ich stellte mir vor, daß im Geschlecht der Gyllensporres Besitztümer teils gewonnen, teils verloren wurden. Im Augenblick schien ihre Lage ganz erträglich – zumindest sprachen Automobil und die Wohnungen in Paris und Konstantinopel dafür. Die Nebengebäude schienen ebenfalls in gutem Zustand. Ställe, Wagenremise, Scheune und die Häuser der Instleute lagen an kleinen Wegen im Umkreis, alle Gebäude tiefrot, mit Ecken so weiß wie das Haupthaus. Ganz oben auf dem Stalldach hing eine Glocke, die die Instleute zur Arbeit rief. Ein blaßgrüner Speicherbau stach von dem einheitlichen Bild ab. Er schien aufbegehren, sich für etwas Besseres halten zu wollen als die anderen Gebäude. Man konnte fast glauben, er trachte danach, eine Art Industriespeicher zu sein. Einige Männer luden soeben große Säcke von einem Wagen und zogen sie durch die Luke hinauf. Ich vermutete, daß es Mehl aus der Mühle war.

Kandidat Månson stoppte das Automobil vor dem großen Haustor und half uns samt den Handkoffern beim Aussteigen. Auf dem Hof unter einem dichtbelaubten Baum saß ein alter Mann mit Strohhut und musterte uns interessiert. Jetzt erhob er sich, zog den Hut, kam heran und nahm meine Hand.

»Dozentin Gran? Gabriel hat soviel von Ihnen und der Akademie gesprochen. Ohne sein Zutun hätte ich niemals auf die Annonce geantwortet.« Dann küßte er mir rasch die Hand, sehr flüchtig, nur ein Kitzeln des Schnurrbarts auf dem Handrücken, doch ritterlicher als der Handschlag des Kandidaten auf dem Bahnhof. Es war ein dummes Gefühl, auf diese Weise hervorgehoben zu werden. Thea, die soeben eine Zigarette aus der Tasche gezogen hatte, wies mit der Zigarettenspitze vielsagend auf mich. Kandidat Månson errötete bis über beide Ohren.

An einem der letzten Märztage hatte Kandidat Månson bei seinem Zeitungsstudium im Korporationshaus die Nya Dagligt Allehanda gewählt und saß träumend über den Reiseannoncen. Direkt daneben stand unsere Anfrage. Ich weiß nicht, ob es mein Name war oder jener der Universität, der seine Blicke anzog, jedenfalls riß er rasch die Zeitung entzwei und schickte die Annonce an Baron Gyllensporre, da er von der Existenz des großen Familienarchivs wußte. Später sagte Thea, sie hätte Kandidat Månson küssen mögen wegen seines Vergehens gegen die Korporation, und das zu unseren Gunsten. Ich zögerte nicht, ihr beizustimmen.

Es war bereits Nachmittag. Der Baron lud uns zu Tee und Konversation ein, die in erster Linie Ekesta und das Geschlecht der Gyllensporres betraf.

»Wie Sie, meine lieben Dozentinnen, ja wissen, sind die Gyllensporres eine alte Familie, wohlbekannt in Schwedens Annalen, Ahnen seit dem 15. Jahrhundert! Und obgleich wir immer eng mit der ostgötischen Provinz verknüpft waren – entre nous, die Gyllensporres haben wohl nie zu den reichen Adelsfamilien gehört –, so haben dennoch unzählige Könige hier auf Ekesta logiert, sowohl in diesem Haus als auch in dem alten Holzhaus, das zuvor hier gestanden hat. 1774 war es wohl, als Fredrik Gyllensporre das jetzige Haus errichten ließ. Der alte Fredrik, mein Urgroßvater, er soll noch in den zwanziger Jahren eine gepuderte Perücke getragen haben, war offenbar ein fröhlicher Geselle, in Linköping verkehrte er mit dem späteren Propst Wallenberg und hatte häufig Kontakt zu den gebildeten Damen der Norrköpinger Gesellschaft, wie auch zum Gelehrten Johan Hinric Lidén und einer Anzahl Leuten aus Stockholm, wie den Autoren Kexél und Halldin. Als ich Kind war, weilte Mamsell Bremer hier – eine so reizende alte Dame, Sie können es sich kaum vorstellen! Sie fertigte kleine Zeichnungen von uns an, meiner Schwester aber verdrehte sie den Kopf, die wurde daraufhin Volksschullehrerin. Das war die Großmutter des jungen Gabriel!«

Wir begriffen, der Kandidat war nicht nur das Resultat einer Mesalliance, sondern obendrein einer Meuterei, nicht unähnlich der auf der Bounty – und all das verursacht von einer kleinen reizenden Mamsell! Thea fischte nach ihrer Zigarettenspitze und begann etwas vom Roman »Hertha« und dessen unbestreitbarem politischem Wert zu murmeln. Choice stellte ihr den Absatz auf den Zeh, und danach durften wir das Haus besichtigen.

Das Haupthaus von Ekesta war keinesfalls von besonderer Art: Im Erdgeschoß lagen Bibliothek und Kontor beiderseits einer großen Diele, und auf der Rückseite des Hauses Küche, Eßzimmer und ein Salon, in dem französische Fenster zum Garten führten. Eine Treppe höher lagen die Schlafräume und auf dem Dachboden die Wohnungen des Gesindes sowie ein Schulzimmer für die Kinder. Im Inneren des Schulzimmers befand sich der Verschlag, der als Archiv bezeichnet wurde. Wir durften nur einen Blick hineinwerfen, denn dort drin war es dunkel und staubig, dennoch aber packte uns bereits die Erwartung: Das hier war »unser Dachboden«, hier wurden die Briefe der Brenner aufbewahrt. Aber der Baron erklärte, die Briefe könnten bis morgen warten, und wir waren gezwungen, uns mit der Aussicht zu begnügen.

In Erwartung des Soupers zogen wir uns zurück und installierten uns in unseren Zimmern. Die Koffer waren bereits heraufgetragen, also konnte ich auspacken und mich ein wenig zurechtmachen. Die Briefe aus dem Archiv riefen nach mir, doch wußte ich sehr wohl, daß man die Dinge auf dem Land langsam angeht und eins nach dem anderen tut. Ich atmete also ein paarmal tief durch, legte die Haarbürste auf die Kommode und machte mich mit dem Zimmer vertraut. Es war wohl ein Jungen- oder Hauslehrerzimmer, und die Sache war rasch erledigt. Bett, Stuhl, Kommode und Waschtisch, alles auf kleinstem Raum. Durch das Fenster konnte ich bis weit hinter die Eichen am Feldrand und sogar bis zum anderen Seeufer blicken. Ich löste die Haken und drückte das Fenster auf. Mit einem leichten Krachen schlug es gegen die Wand. Laue Luft strömte ins Zimmer. Ein wenig Putz hatte sich unter dem Fenster gelöst, und ich bosselte ein weiteres Stückchen ab. Unter dem Putz befand sich eine Schilfmatte, und darunter konnte man Holz erkennen. Nicht einmal Steine hatte sich der Urahn geleistet, sondern seinen Hof aus Holz erbaut, wie die Bauern der Gegend. Das war wohl das billigste Material hier, wo die Bergkette von Kolmården die Ausläufer ihrer Wälder bis vor die Tür schickte, und Schilf gab es gewiß reichlich im See. Das Holz konnte man schließlich durch Verkleiden verbergen – ich vermutete, es war nie gestrichen, sondern von Anfang an unter Putz verborgen.

Unten im Garten promenierte der Baron in Gesellschaft eines rundlichen Herrn, der vielleicht sein Sohn war, und des Kandidaten. Sie sahen sehr lustig aus: der hochgewachsene, hagere Baron, der in gewisser Weise an den König erinnerte, wenn auch etwas mehr in die Jahre gekommen, der kleinere Dickliche in der Mitte und dann Kandidat Månson, ebenso lang und schlank wie der Großonkel und mit knallroter Krawatte. Alle drei waren dunkel wie Zigeuner. Noch immer trugen sie ihre hellen Sommeranzüge, also war wohl bis zum Abendessen noch recht viel Zeit. Ich ließ das Fenster offen und legte mich aufs Bett, um nach der Reise ein wenig zu ruhen. Schon bald war ich eingeschlafen. Ein respektvolles Klopfen an der Tür und der Ruf »Abendessen in einer halben Stunde, gnädige Frau!« weckten mich aus einem wirren Traum, in dem die anmutig frisierte Frau Brenner, umgeben von fünfzehn Kindern (sonderbarerweise wenigstens drei oder vier im Säuglingsalter), eine unnatürlich große Beata Hochhauer besuchte, die sehr stark an Gustaf V. erinnerte. Ich hatte Eile, mich zu kämmen und das Festkleid anzuziehen, jenes, das die Promotionsfeier am selben Morgen nicht hatte erleben dürfen und deshalb recht zufrieden war, an die Luft zu kommen. Nun also begebe ich mich zum Abendessen hinunter.

1.6.1910

Von diesem Souper gibt es nicht viel zu berichten, wurde es doch unter respektvollem Schweigen und respektvollem Reden eingenommen. Das Kleid war fehl am Platz, und das einzige förmliche Kleidungsstück bei Tisch. Ich ging früh zu Bett und erwachte frisch und munter. Das Frühstück war bereits serviert.

Im Geschlecht der Gyllensporres gab es für die Kinder Brei zum Frühstück, der junge Baron (er hieß wie sein Ahnherr Gustaf, und sein fünfzigster Geburtstag lag schon hinter ihm) nahm Kaffee und ein Weizenbrötchen im Kontor zu sich, und der alte Baron Fabian aß gebratene Nierchen mit Ei und Croutons. Baronessen glänzten mit Abwesenheit. Weder nach Alter noch Geschlecht paßten wir in die Speiseordnung. Das wurde uns klar, als wir den Saal betraten – sicherheitshalber alle drei gemeinsam.

Am Kopfende des Tisches thronte Baron Fabian, umgeben von Servierschalen, Kannen und Kännchen in silbrigem Neorokoko. Am anderen Ende des Zimmers, an der hinteren Längsseite des Tisches, saßen lieb aufgereiht die Sprößlinge der Familie. Ihnen gegenüber, unverkennbar in der Kinderabteilung plaziert, jedoch mit dem Recht des Studenten, als Erwachsener zu gelten, aß Kandidat Månson Grießbrei und blätterte in der gestrigen Nummer der Norrköpings Tidningar.

Wir blieben an der Tür stehen und grüßten höflich, und der Baron lud uns ein, neben dem Kandidaten Platz zu nehmen. Es war wie am ersten Tag in der Tischgemeinschaft, als man sich drängelte und stieß, um einen guten Platz zu erwischen. Jetzt landeten wir folgendermaßen: Thea gleich neben dem Baron, Choice in der Mitte und ich, mit der Norrköpings Tidningar auf dem Schoß raschelnd. Ein Mädchen, ihre Vokale waren schlaff wie alte Reisebetten, trat heran und fragte, was wir zum Frühstück wünschten. Ohne die anderen zu konsultieren, bestellte ich Tee und Toast, und Thea protestierte nicht. Choice bat um eine Portion vom Brei der Kinder, und als der Baron die Brauen hob, unterwies sie ihn ausführlich in der Nützlichkeit von Hafergrütze und all der Nährstoffe im Preiselbeermus.

Die Marmelade zum gerösteten Brot war hausgemacht, dickflüssig und bittersüß. Ich aß vier Scheiben; nach der ersten faltete der Kandidat die Zeitung zusammen und fragte, was ich von der Stimmrechtfrage hielte. Da Lügen mir noch nie gelegen hatte, äußerte ich meine ehrliche Meinung. Die Argumente des Kandidaten waren unendlich naiv. Obgleich wir nicht einer Meinung waren, überwarfen wir uns nicht.

»Es wäre ein allzu großer Schritt, wenn man plötzlich eine so große Gruppe zu den Wahlurnen ließe«, sagte der Kandidat. »Dem weiblichen Geschlecht fehlt doch jeglicher politischer Verstand.«

»Mit anderen Worten, genau wie dem männlichen!« erwiderte ich und strich Butter auf eine zweite Scheibe. »Man denke nur an all die kindlichen jungen Männer, die kraft ihres Vermögens zu den Wahlurnen dürfen!«

Vielleicht war der Kandidat ein wenig verlegen, doch ließ er sich nicht abschrecken, sondern blieb keine Antwort schuldig. So kabbelten wir uns, als fände die Diskussion in der Tischgemeinschaft statt, bis Thea und der Baron ihr Gespräch über den Geist der Römerzeit beendeten. Da wurde die Tafel aufgehoben, und wir zogen uns sämtlich zurück, um (wie der Baron es ausdrückte) die Hände nach dem Frühstück zu waschen.

Eine halbe Stunde später geleitete uns der alte Baron in die Bibliothek des Hauses. Ein massiver Eichenschreibtisch war so im Raum plaziert, daß man den Vorplatz, die Nebengebäude und die Wohnhäuser der Instleute im Blick hatte. Ein Freiherr, der sich eine Vorliebe für Bücher erlaubte, hatte also dennoch Gelegenheit, den Betrieb zu lenken. Jetzt zeigte eine aufgeschlagene Sammlung von Runeninschriften, daß Kandidat Månson seine Studien hierher verlegt hatte. Neben dem Buch lag ein Briefbündel, mit Pappe umwickelt und verschnürt. Ein Siegel hielt den Knoten zusammen.

Der alte Baron Fabian wies jedem von uns einen Sessel zu und nahm das Briefbündel zur Hand. Die Runen legte er in einen drehbaren Ständer und murmelte von einer Prüfung, die der junge Gabriel im Herbst vor sich hätte. Genau das hatte ich mir gedacht. Nordische Sprachen pflegen zu den ersten Prüfungsfächern zu gehören.

»Ich will nur das Siegel erbrechen, dann haben Sie freie Hand mit den Briefen.«

Er nahm einen orientalischen Brieföffner vom Schreibtisch und brach den Lack los. Choice erhielt das ganze Bündel und bosselte die Schleife auf. In meinem ganzen Körper kribbelte es, und die Finger sehnten sich nach den Briefen. Choice teilte das Bündel in drei kleinere Häufchen und gab jedem von uns eins davon. Das Papier war gelb und trocken, und es duftete vage nach einem Kraut, das wohl einst bei den Briefen gelegen hatte. Ich schnupperte. Es war nicht Lavendel, es war etwas anderes. Choice faltete den ersten Brief auf und rümpfte die Nase. »Du meine Güte! Es riecht wie Lammbraten!« Und dann zog sie ein trockenes Zweiglein aus dem Kuvert.

»Das bekam Beata Hochhauer von Frau Brenner, pflegte mein Vater zu sagen.«

»Dies hier ist Rosmarin, das ist für die Erinnerung. Ich bitte Euch, liebes Herz, gedenket meiner!« zitierte ich. »Kennt ihr euren Hamlet nicht? Rosmarin war immer ein Symbol der Erinnerung. Es war auch die Blume der Jungfrau Maria.«

»Also die Brenner hat der Hochhauer einen Zweig Rosmarin geschickt, damit sie ihrer gedenke? Komische Leute, diese barocken!« Choice legte das Rosmarinzweiglein vorsichtig zurück. Der Freiherr erhob sich und ließ uns mit der Brenner allein.

Ich schaute den Brief an, der zuoberst auf meinem Häufchen lag. Er war im Oktavformat, beschrieben mit der winzigen, rundlichen Handschrift der Brenner, und auf der Rückseite stand die Adresse:

A Ma Dame

Ma Dame Baronesse Beata Gyllensporre

Le Château de Ekesta

a Norrköping et Finspong

Er unterschied sich nicht viel von anderen Briefen, die ich gesehen hatte, möglicherweise konnte es verwundern, daß die Brenner Ekesta ›château‹ nannte. Vielleicht hatte sie das Haus nie gesehen, oder vielleicht war auch das nur ein Zeichen karolinischer courtoisie. Der Brief war in deutsch verfaßt. Später fertigte ich eine Übersetzung an, die für die Kommentare von Nutzen sein könnte:

Meine liebste Schwester Beata!

In diesem Dezemberdämmer, in dem wir alle die Ankunft des Herrn erwarten, schreibe ich Dir einen Brief in Freude wie in Trauer. Zuvor wünsche ich, daß es Dir in diesen Zeiten wohlergehe, die Kinder sich beständiger Gesundheit erfreuen und Dein Herr Sohn vielleicht von Uppsala heimkomme, um unter der Weihnachtszeit bei Mutter und Vater zu weilen. Schwer ist es ja, für einen adligen Jüngling in diesen Zeiten. Steht er sich gut mit der Gelehrsamkeit, so wie mir der gelehrte Herr Eric Benzelius erst kürzlich in einem Brief versicherte? Da unsere junge Majestät ins Feld gezogen und die ganze Welt von den Tönen seines Ruhms widerhallt, scheint es mir schwer für einen jungen Herrn gleichen Alters, bei den Büchern auszuharren, zumal er einem alten Rittergeschlecht entstammt. Doch vielleicht ist Dein Carl aus anderem Stoff als unsere Majestät, und vielleicht hast Du recht, daß er einen hervorragenden Erzbischof abgäbe (das Wort war kursiv geschrieben und in schwedisch).

Desgleichen hoffe ich, daß die Verrichtungen auf Ekesta Deine Kräfte nicht über die Maßen beanspruchen – beide sind wir keine jungen Mädchen mehr, und ich verspüre selbst, daß auch unser kleiner Haushalt eine rechte Belastung sein kann. Nicht daß die großen Mädchen mir nicht zur Hand gingen – Du weißt, welche Stütze mir Sofia, Susanna und Regina waren.

Doch jetzt vernimm meine große Trauer, die einer Freudenstunde entsprang. Denn, obgleich mich die Zeit der Ankunft des Herrn erfreut, die jedes christliche Herz und nicht zuletzt unseren schwarzen Winter erleuchtet, so betrauere ich zugleich den Tod einer Tochter, der unter den denkbar betrüblichsten Umständen statthatte.

Meine teure Beata! Du bist Mutter, so wie ich. Seit unseren jungen Jahren haben wir beide mit unseren Gatten gelebt, Du mit dem Herrn Baron und ich mit meinem Elias – und ich versichere Dir, wie ich es immer getan: Wenn ich in meinen Gedichten Elias als Marite optime anrief, so war dies nicht dichterische Freiheit. Einen besseren Gatten gibt es sicher nicht, zumindest nicht für Deine Sophia.

Mit Elias kamen, wie Du weißt, zwei Töchter in die Ehe, Susanna und Regina, welche beide noch sehr klein waren, als wir in die Brautbank traten. Ihnen fehlte die Erinnerung an ihre leibliche Mutter, und ich empfand für sie wie für meine eigenen Kinder und war ihnen – so glaube ich selbst – eine gute Stiefmutter. Als meine Älteste, meine weißhäutige Sofia geboren ward, wurde sie ihnen Spielgefährtin, und später betreuten und beschützten sie ihre kleinen Geschwister.

Es nahte der freudige Tag, da Susanna Diana kennenlernen sollte. Ich glaube, ich berichtete Dir von der beabsichtigten Vermählung mit dem guten Hüttenpatron Anders Gyllenhöök. Es war eine Heirat, welche ich lebhaft beförderte – ein kluges Mädchen und ein junger Mann, drei Jahre nur älter, von angesehenem Stand und nicht üblem Äußeren. Elias und ich rüsteten für die Hochzeit, und dieselbige fand mit großem Gepränge statt. Zu dieser Gelegenheit verfaßte ich das hier eingeschlossene kleine Gedicht.

Du selbst hast Töchter. Ich gab Susanna eine lange Schilderung aller Pflichten und Rechte einer verheirateten Frau, der Geheimnisse des Ehelebens und von all dem anderen. Vielleicht berührte ich auch Diana. Und die Hochzeit fand ganz standesgemäß statt. Runius machte ein lustiges Rätsel, das die Braut und ihre Schwestern erröten ließ, es wurde eifrig getanzt, und mein Louis stolzierte in seiner neuen Uniform einher wie ein ganzer Kerl. Mit üblicher Munterkeit und mit Scherzen folgte unsere Jugend Susanna und ihrem Gyllenhöök zur Brautkammer, tanzte ihr die Brautkrone ab und rief all das, was man bei einer Hochzeit tut. Gewiß ängstigte ich mich ein wenig, wie meine Tochter die Ehe wohl nehmen würde – denn ein junger Bursche kann von recht wenig Verstand sein, und nie weiß man, welch Rücksicht er auf eines Mädchens Unerfahrenheit zu nehmen gewillt ist. Es verwunderte uns daher wenig, als Susanna am nächsten Tag weiß wie ein Bettuch erschien, sondern wir kamen mit Glückwünschen, wie gewöhnlich ist, da es ihr dreiundzwanzigster Geburtstag war. Sie erhielt ein wenig Süßigkeiten und Schmalzgebackenes, und ihr junger Gatte schenkte ihr ein Kleid aus feinstem Tuch.

Desto mehr erstaunte es uns, als sie tags darauf ganz von selbst zu Bett ging und sich weigerte, wieder aufzustehen. Wir hielten es für Zimperlichkeit, doch sie bekam Fieber, und wir riefen den Medicus. Nichts konnte er tun. Sie verließ diese Welt am 20. November in diesem Jahr des Heils 1700, im Alter von dreiundzwanzig Jahren und zwei Tagen. Der Grund war ein plötzlich auftretender Bauchfluß, vielleicht verursacht durch Indigestion nach dem Hochzeitsmahl.

Das, liebe Schwester, ist es, was in unserem Haus geschehen. Jetzt rüsten wir alle für das Weihnachtsfest. Regina ist besonders beharrlich. Vielleicht trauert sie mehr als wir anderen, nunmehr allein zurückgeblieben von Brenners erster Ehe. Sie und Sofia sind beide so tüchtig – ich bin gewiß, sie werden kluge Ehefrauen, und vielleicht gescheite Frauenzimmer. Ludvig (den ich gern Louis nenne) wünscht herzlich, in den Krieg zu ziehen, auch wenn wir meinen, er könne noch ein wenig warten. Er ist ja noch ein Bürschchen von fünfzehn Jahren. Carl hat allmählich begonnen, sich in den Buchstaben zu versuchen, doch ist er wohl noch gar zu klein. Ein wenig jaloux ist er wohl auch auf das Brüderchen. Er ist so lange das Jüngste gewesen, Helena starb doch so bald, daß er sich ihrer nicht erinnern kann. Doch ich bin meines kleinen Elias’ so froh. Es ist das dreizehnte der Kinder, das ich geboren, der dritte Junge dieses Namens. Möge Gott ihn leben lassen, bis daß er erwachsen ist! Er ist schon neun Monate alt und befangen gegenüber allen, die nicht Mama oder die großen Schwestern heißen. Ich könnte Stunde um Stunde sitzen und einzig mit seinen Fingern und Zehen spielen. Welch ein Segen sie sind, diese kleinen Wickelkinder! Wann, glaubst Du, wird Deine Niederkunft sein, im Winter noch oder erst auf das Frühjahr zu? Jetzt fragt die Magd nach dem Würzen des Bratens! Ich schließe hier und verbleibe Deine zärtlich Dich liebende Freundin

Sophia E. Br.

Stockholmiae

1. Dez. A° 1700

Ich hob den Blick von meinem Brief. Choice und Thea saßen jede vor ihren Schreiben, ebenso gefangengenommen, wie ich es gewesen war. Der plötzliche Tod der Stieftochter, und die vier Kinder, die von all den dreizehn noch lebten! Der Brief vermittelte ein glasklares Bild des Augenblicks. Nur eine Sache war mystisch. Ich beschloß, Thea zu fragen, die schließlich ob ihrer Kenntnis der Antike an unserer Arbeit teilnahm, doch schien sie völlig versunken.

»Thea! Thea!«

»Merkwürdiger Brief das hier.«

»Ist das Latein merkwürdig?«

»Latein? An eine Frau? Bist du völlig übergeschnappt, Weib? Sieh selbst!« Und sie reichte mir den Brief. Er war sehr kurz, nur ein paar Zeilen. Die Handschrift war dünn und mädchenhaft, doch bestimmte Buchstaben waren dick, mit zerlaufener Tinte geschrieben, als hätte man die Feder nur nachlässig gespitzt.

Mutter und Dochter Beata HoChhauer! Liebste Freundin. In Erinnerung der X CHristi, an Deine Hochzeit und meine, an die Sonne und den Mond, für uns XenoI. Bist Du niemals in Wadstena gewesen? Es ist ein Ort, etwa 10 Viertelmeilen von Finspong. Dort leben noch die 10 Schwestern.

Deine Freundin

Sophia E. Weber, nunmehr verehelichte Brenner

Stockholmiae, im März

Der Brief sah aus wie eine Art Segenswunsch, wenn auch in kryptischer Ausdrucksweise. Undatiert, natürlich, wie um die Sache schwieriger zu machen – doch daß die Brenner ihren Mädchennamen benutzte, deutete darauf hin, daß sie jungvermählt war.

»Was ist das für Galimathias über Vadstena?« fragte Choice. »Nicht daß ich mich in der ostgötischen Geographie sonderlich auskenne, soviel aber weiß ich, daß zwischen Vadstena und Finspång mindestens zehn schwedische Meilen liegen, und absolut nicht zehn Viertelmeilen – wenn man es überhaupt so ausdrücken kann!«

»Vielleicht hat sie sich verschrieben?« sagte Thea.

»Wäre schon möglich. Aber wer sind dann die zehn Schwestern? Die Nonnen sind doch wohl im 16. Jahrhundert rausgeworfen worden?«

»Vielleicht haben ein paar von ihnen noch dort gelebt, in irgendeinem Versteck?«

»Hundert Jahre lang?«

Wahrhaftig ein verblüffender Brief. Ich vergaß meine eigene Frage total. Wieder war das Gefühl da, bei der Brenner verberge sich mehr, als man ahnen konnte, daß vielleicht doch nicht alles um sie herum so traulich, heimelig und leichtverständlich war. Zehn Schwestern? Mysteriös. Doch jetzt fällt mir wieder ein, was ich fragen wollte. Die Sache ist mir noch immer nicht klarer.

»Dieser Brief hier ist jedenfalls völlig verständlich«, sagte Choice und reichte mir einen Bogen im Duodezformat. Er war späteren Datums als die beiden anderen und betraf vor allem geschäftliche Dinge. Auch der Ton war kühler, so daß man sich fast fragen mußte, ob Beata Hochhauer und ihre Freundin Brenner sich überworfen hatten. Obendrein war er in schwedisch:

Liebe Schwester!

Den aufrichtigsten Dank für Deinen Brief, der mich erst kürzlich erreichte. Beide, Elias und ich, waren wir hocherfreut, daß Du meine nun im Druck befindlichen Poesien zu colligiren gedenkst. Möge sich unsere Hoffnung erfüllen, daß es ein ansehnliches Werklein werde – Elias hat, wie Du wohl denken kannst, alles in seiner Macht Stehende getan, um eine schöne bildliche Ornation einzurichten, und obgleich meine Poesien gewiß nur gering sind, so können sie vielleicht dennoch erfreuen. Ich hoffe, der Herr Baron wird diese Depensen nicht bereuen. Für unseren gnädigsten König unten im Land des Mondes scheint alles wohl.

Ich verbleibe als Deine liebe Schwester

Sophia E. Br.

Stockholm, den 7. Januar 1711

P. S. Diesen Sommer tritt Regina mit einem Pastor aus Schonen in die Brautbank. Eine Quittence auf die zehn Caroliner Deines Herrn Gatten ist beigefügt. Hast Du von Deinem Carl aus Rußland vernommen?

Erst im P. S. wurde der Brief interessant. Carl Gyllensporre war augenscheinlich der priesterlichen Laufbahn, die seine Mutter für ihn vorgezeichnet hatte, leid gewesen und mit seinem Namensvetter, Karl XII., ins Feld gezogen. 1711 befand er sich in Rußland – offenbar in Gefangenschaft, vielleicht nach der Schlacht bei Poltawa zwei Jahre zuvor. Die Brenner war wohl unsicher, ob sie es verschweigen sollte, ob es zu taktlos sei, nach dem Schicksal des Sohnes zu fragen. Das erklärte die Geschäftsmäßigkeit des Briefes ansonsten. Wie doch die Ungewißheit Beata Hochhauer geängstigt haben mußte! Vielleicht war der Junge auch tot, einer der Vermodernden im Boden der ukrainischen Steppe. Die Vorschußzahlung für Brenners Gedichtsammlung konnte die Eltern wohl auch nicht eben aufmuntern. Zehn Karoliner waren wahrhaftig eine beträchtliche Summe im Jahr 1711.

Nun hatten wir, die drei Herausgeberinnen, je einen Brief durchgesehen und verschiedene Stadien der Verwirrung erreicht. Die Uhr zeigte, daß bald zum Mittag gerufen würde, und wir saßen noch immer, wie der Baron uns vor mehreren Stunden verlassen hatte. Wir brauchten ein System bei der Briefdurchsicht! Das sagte Thea, und wir mußten ihr recht geben. Gewiß machte es Spaß, sich auf die Brenner-Briefe zu stürzen, etwa wie Kleinkinder auf die Weihnachtsgeschenke, doch in wissenschaftlicher Hinsicht ließ diese Methode recht viel zu wünschen übrig. Sogleich besprachen wir, wie die Sache zu handhaben sei.

In diesem Moment kam das Hausmädchen und holte uns zum Mittagessen, und wir aßen Frühlingshähnchen und plauderten nahezu zwei Stunden mit den Herren des Hauses. Nach dem Karamelpudding hätte ich mich am liebsten schlafen gelegt, doch erwies sich, daß der junge Baron seit einem Parisaufenthalt in der Jugend Feinschmecker geworden war, und er lud uns zu café noir und Apfelsinenlikör ein.

Dann kehrten wir in die Bibliothek zurück. Choice wurde mit Stift und Folioblatt an den Schreibtisch gesetzt. Zu Choices schönem Äußeren gehört nämlich auch eine ausgezeichnete Handschrift, was man bei Journalisten vielleicht nicht erwartet. Thea und ich machten uns daran, die Briefe chronologisch zu ordnen, und sobald wir genügend beisammen hatten, ließen wir Choice wissen, was sie zu schreiben habe. Als der Nachmittag zu Ende ging, hatten wir eine Liste über 42 Briefe zusammengestellt, in der die Posten etwa folgendes Bild abgaben:

1 1680, 7. 8., 4° Deu[tsch]. Bedauern und Glückwunsch zur Hochzeit der Hochhauer.

2 1680, 18. 9., 4° Deu. Verliebtes Geplapper über E. B. [Elias Brenner]

3 1680, 27. 10. 8° + Adresse. Deu. Über die Hochzeit mit E. B.

4 1681, 1. 1., 8° Schw[edisch]. Neujahrsglückwünsche.

5 [1681], März, Deu. Segenswünsche???

Wie man erwarten konnte, war die Zahl der Briefe zu Beginn am größten, ehe Haushalt und Mutterschaft Hindernisse in den Weg legten. Wenigstens jedes zweite Jahr gebar die Brenner ein Kind, das erste im Alter von zweiundzwanzig, die nächsten bis weit über die Vierzig, und die Hochhauer stand – den Briefen nach zu urteilen – ihr nicht nach.

Als nächstes waren die Briefe abzuschreiben, und die Zuverlässigkeit der Abschriften war sorgfältig zu kontrollieren. Doch das mußte auf später verschoben werden, denn jetzt erschien das Hausmädchen erneut und erklärte, in einer Stunde werde das Souper serviert, wenn die Damen sich umkleiden wollten ...

Wir schauten an uns herunter und verstanden den Wink. Theas und meine Fingerspitzen waren grau vom Hochhauerstaub und Choices Hände bis über die Knöchel mit Tinte bekleckst. Ich fragte mich, ob die Örtlichkeiten womöglich ein Bad zuließen, und mir fiel ein, daß ich eine funkelnagelneue Spitzenbluse eingepackt hatte, die für einen Sommerabend auf dem Lande wie gemacht war. Also legten wir die Briefe zu einem einzigen hübschen Häufchen zusammen und nahmen unsere Aufzeichnungen mit. Der erste Tag mit der Hochhauer war beendet.

*

Am selbigen Abend

Unbestreitbar hat das Leben auf einem Gutshof viele Vorzüge. So hätte man zur Welt kommen sollen, statt dem Bürgertum zu entsprießen! Fabian Gyllensporre lieh mir eine orientalische Reiseschilderung, und ich lernte daraus, wie man sich wahrhaft als Pascha fühlt. Ich werde versuchen, es einem solchen nachzutun.

Der Hof von Ekesta verfügt über richtige Badezimmer, mit fließendem Wasser und Haremsmuster an den Wänden. Ein respektvolles, leicht verwundertes Mädchen half mir, Wasser einzulassen, und dann lag ich eine halbe Stunde in der Wanne und ließ den gesammelten Brenner- und Hochhauer-Schmutz abweichen. Ab und an seifte ich mich mit Florodolseife ein, die versprach, die Haut, besonders an Hals und Händen, weiß und samtig werden zu lassen. Ich stieg aus dem Schaum und fühlte mich wie Venus, besonders als das Korsett geschnürt, der Busen in der Spitzenbluse enthüllt und in einem hellen Leinenkostüm erneut verborgen war. Ziemlich lange suchte ich nach meinem Eau de Cologne, doch das schien daheim geblieben zu sein. Ich schlüpfte zu Choice hinüber, um ein paar Spritzer zu leihen, und fand Thea dort. Sie saß auf der Bettkante, knöpfte die Strümpfe fest und schwatzte ausgelassener, als ich es bei ihr gewohnt war. Das machte mich ein wenig verlegen, so nahe Freundinnen sind sie und ich schließlich nicht, doch beide baten mich herein und ließen mich an Riechwasser und Haarnadeln teilhaben. Choice rümpfte nur die Nase über meinen einfachen Knoten und übernahm sogleich, etwas Repräsentativeres zurechtzustecken. Das Ergebnis war ein einziges Gekräusel, das sich bei meiner Haarfarbe ausnahm wie Büschel von Fuchshaar im Kuhmagen. Thea sah uns schmunzelnd zu.

»Ihr seid wirklich hübsch, Mädels! Ich persönlich ziehe vor, jungen Dingern den Kopf zu verdrehen und sie zu Volksschullehrerinnen zu machen. Ich begreife nicht, vor wem ihr zwei kokettieren wollt, hier gibt’s doch nur Knaben und alte Männer.«

»Ein wohlgepflegtes Äußeres ist ebenso wichtig wie ein wohlgepflegter Körper«, sagte Choice, und zugleich schlug ich vor, Thea könne ja versuchen, aus dem jungen Månson einen Volksschullehrer zu machen, dann würde sie gewiß ihr blaues Wunder erleben.

So neckten wir uns und gingen schließlich zum Abendessen hinunter. Die Mahlzeit war gut, ländlich und üppig. Alles wurde in etwa gleicher Weise serviert wie schon zu Mamsell Brenners Zeit – Porzellan mit etruskischen Motiven, eine Fülle von Gläsern und kräftige Fleischgerichte. Arme Choice, die doch beinahe Vegetarierin war! Freilich hatte sich ein wenig Sommergemüse eingeschlichen, in Butter geschwenkte zarte Möhren und köstliche Zuckererbsen, doch nicht einmal sie wurde satt von so wenig. Wir konnten ja auch nicht undankbar erscheinen. Mit keinem Wort hatten die beiden Barone erwähnt, wir sollten unsere Arbeit forcieren, um sie nicht völlig arm zu essen. Im Gegenteil, sie schienen erfreut, daß ihre alten Briefe unser Interesse fanden. Fabian Gyllensporre sah mich mit seinen schwarzen Knopfaugen an und fragte, wie die Sache laufe, und ich berichtete von der Arbeit des Tages. Lebhaft beschrieben wir, wie wir Reinschrift und Zitatenkontrolle gemeinsam zu erledigen gedachten. Der Baron nickte, schnitt sein Fleisch in winzige Häppchen und spülte sie mit Unmengen Soße hinunter. Kandidat Månson schwieg höflich.

Beim Obst wurde der junge Baron wieder meiner habhaft und fragte mit leiser Stimme, ob die Briefe Unvorteilhaftes über die Familie enthielten. Vorgebeugt über die Melone, die im Gewächshaus des Gutes rund und saftig gewachsen war, glich er selbst ein wenig der Frucht mit seinen runden, ins Gelbliche spielenden Wangen. Ich versicherte, er brauche sich nicht zu sorgen. Kein einziges Skelett war bisher aus dem Archivverschlag gekippt, und die Tatsache, daß der junge Carl Gyllensporre irgendwann vor 1709 dem Wunsch seiner Mutter trotzte und Offizier wurde, konnte meines Erachtens nach zweihundert Jahren kaum als schimpflich gelten.

Als das Dessert verspeist war, wurden die Türen des Salons geöffnet, und in Erwartung des Kaffees ergingen wir uns im Garten. Der Abend war lau und windstill, und obgleich es bereits nach neun war, gelangten noch immer Sonnenstreifen bis auf den Rasen. Der Garten schien eher aus praktischen Erwägungen als zum Renommieren und Promenieren angelegt. Er war offen und luftig, und Bäume, Büsche und Blumen schienen ihren Platz wohl eher zufällig gefunden zu haben. Wir drei Herausgeberinnen blieben möglichst dicht beieinander. Es schien am sichersten so, und obendrein waren wir wohl auch etwas befangen. Gustaf Gyllensporre schloß zu uns auf, und als ich ein Ausweichmanöver zu den Stachelbeerbüschen unternahm, kurvte er hinterher und bot mir seinen Arm. Obendrein mit einem Lächeln. Man stelle sich vor, Arm in Arm mit einer lachenden Melone zwischen Stachelbeerbüschen und Apfelblüten zu wandeln! Es war, als mache man mir mitten in einer Obstschale die Cour – und wahrhaftig, man tat es. Glaubt mir, ich bemühte mich nach Kräften, gelehrt, kühl und widerwärtig hinter meiner Goldfassung zu wirken. Es half nichts. Gustaf Gyllensporre hob einen Zweig und wies auf die Stachelbeeren, die noch immer recht kümmerlich aussahen.

»Dozentin Gran ... Sehen Sie, was für schöne Beeren! Sie wissen ja, was der Dichter sagt, ›nur Schweden schwedische Krausbeeren hat‹ ...«

Ich ignorierte die Literatur und sah ihn mit fünf Pflaumenfingern den Stachelbeerzweig betasten. Dann schaute er mich schmachtend an, wie eine Frucht, die sehnsüchtig wünscht, zum Dessert aufgeschnitten zu werden. Ich fingerte jetzt ein paar Schritte weiter an den stachligen Zweigen herum. Der Baron kam mir nach und bot erneut seinen Beistand an.

»Meine Kinder lieben Früchte und Beeren. Stachelbeercreme und Stachelbeerkuchen! Eine Instfrau hier bereitet ein Stachelbeergelee, einfach göttlich ... Sie werden in Stockholm nichts dergleichen finden, Frau Dozentin.«

Ich zeigte mich entzückt von der Tüchtigkeit der Hofleute. Wie war ich da hineingeraten? Durch die Brenner? Ich blickte auf Pflaumen und Melone hinunter und begriff mit einemmal: Die Spitzenbluse! Es war nur ein schlechtes Argument, daß alle in diesem Jahr solche Blusen trugen.

»Meine Ehefrau, verstehen Sie, Dozentin Gran ... Vielleicht haben Sie sich gefragt ...«

Das hatte ich, doch der Anstand verbot mir zu fragen, wieso es hier einen beleibten Baron Gustaf mit Sohn und zwei Töchtern, doch nicht die Spur einer Baronesse gab. Nun senkte er die Stimme, und meine Neugier wurde wieder nicht zufriedengestellt.

»... zu traurig, wie Sie sicher verstehen. Eine wirkliche Tragödie. Erst ein Nervenfieber, und dann das ...« Er beugte die Melone im Stehkragen, so daß ich noch weniger verstand: »... Schweiz ... so bedrückend für uns, seelisch, aber auch pekuniär ...«

»Es tut mir sehr leid.«

Baron Gustaf schien aufgemuntert, er drückte meinen Arm und hob die Stimme ein wenig, so daß ich seine Litanei verstand.

»... und für die Kinder, keine Mutter zu haben ... Oft dachte ich daran, eine Wirtschafterin oder eine kluge Gouvernante zu nehmen, die für sie wie eine Mutter wäre. In dem Zustand, in dem meine Frau ...« Jetzt sprach der Baron wieder leiser, und ich verstand nur noch: »... kaum lange Zeit ...«

Ein Engel rettete mich in diesem Moment. Es war das Hausmädchen, das bei Tisch aufwartete, doch in ihrer weißen Schürze und mit dem weißen Häubchen auf dem Kopf konnte sie gut als himmlischer Sendbote durchgehen. Sie erklärte, der Kaffee sei serviert, und ich machte einen raschen Schritt auf sie zu und begann den Kaffee zu rühmen, der nach dem Lunch serviert worden war. Zugleich erkundigte ich mich, ob die Küche vielleicht ein wenig Kräutertee für die arme Choice auftreiben könnte. Jetzt war ich es, die die Stimme senkte und etwas vom empfindlichen Magen der armen Journalistin murmelte, und das Mädchen schien sehr teilnahmsvoll. Sie war sich nicht sicher, wie man Kräutertee bereitete, und ich schlug unverfroren vor, Blätter der schwarzen Johannisbeere zumindest fünf Minuten im Wasser mitzukochen. Ich wußte aus Zeitschriften, die Choice zu lesen pflegte, daß man Gesundheitsaposteln mit eigenem Gesträuch dergleichen anbefahl.

Beim Kaffee erzählte der alte Baron Fabian Geschichten vom Gut und der Gegend, von alten Gewerben und Originalen und nicht zuletzt den Spukgestalten des Hauses, der weißen Frau und dem spukenden Mops. Ganz plötzlich gähnte der Alte, es fehlte nicht viel, und er wäre mitten im Gespräch eingeschlafen, so wie Kleinkinder noch sprechend in Schlaf sinken können. Da bat er um Entschuldigung und zog sich zurück, und Baron Gustaf attackierte mich sofort aufs neue. Die Melone lächelte, die Pflaumenfinger waren bereit ... ich wußte nicht, was ich tun sollte. Zu meiner Freude mischte Kandidat Månson sich ein.

»Onkel, entschuldige«, sagte er, »aber ich muß die Frau Dozentin wegen der Studien um Rat bitten.« Dann wandte er sich an mich. »Vielleicht im Garten?« Ich nickte und schob meinen Arm unter seinen dargebotenen.

Während des Kaffeetrinkens war es dunkler geworden. Der Himmel über uns war hellgrau, doch gen Finspång spielte er ins Rosa und Violett. Der Kandidat eilte durch den Garten, und ich rannte fast mit kleinen Schritten neben ihm her. Kein Wort über irgendein Ziel, und ich wurde immer erboster: Warum lasse ich mich derart schikanieren? Warum kann ich nicht den Kopf in den Nacken werfen und den ganzen Clan Gyllensporre zum Teufel jagen?

Wir verließen den Obstgarten und folgten einer grasbewachsenen Böschung, die plötzlich in einen ausgetretenen Pfad mündete. Einen Augenblick klapperten unsere Schuhe über eine Steinbrücke, und dann waren wir zurück auf dem Pfad. Die Absätze rutschten über eine Baumwurzel. Hier war ein Eichenhain voller Riesen mit schwarzen Armen. Dann öffnete sich die Landschaft zum See, auf zwei Seiten umgeben von dunklem Kolmårdenwald. Reglos, blauschwarz und rosafarben lag der See vor uns. Es war gar zu schön, geradeso, wie man sich eine Sommernacht wünscht. Die Stille war vollkommen.

Wir blieben stehen und blickten über das Wasser. Keiner sagte ein Wort. Das Licht war noch immer so stark, daß ich Gabriel Månson recht deutlich sah. Wäre ich eine achtzehnjährige Studentin, hätte ich mit ihm hier im Eichenhain romantisch spazierengehen wollen, egal, wie sehr die Absätze rutschten. Doch schließlich bin ich seine Lehrerin und werde im Herbst sechsundzwanzig. Jetzt, genau jetzt, sollte ich kehrtmachen und zum Haus zurückgehen, und der Kandidat würde mir folgen, denn er war ein wohlerzogener junger Mann.

»Dozentin Gran?«

»Ja, Gabriel Månson?«

Ich war gezwungen, den Kopf in den Nacken zu legen, um sein Gesicht zu sehen, er war so groß. Weshalb mein Gehirn mit Grillen füllen? Wenn ich so dastand, konnte er mich leicht küssen, wenn er wollte. Wenn er es wagte. Er nahm meine Hand. Alles drehte sich mir. Tatsächlich hätte ich ihn küssen können, wenn ich es wollte. Oder mich getraute.

»Ich bewundere Sie so sehr. Dozentin Gran, Sie können sich nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, hier unter meinen schrulligen Verwandten einer akademischen Person zu begegnen ...«

»Ich bin auch sehr froh, Sie hier getroffen zu haben, Herr Kandidat.«

Ich entzog ihm meine Hand und machte mich auf den Rückweg. Er folgte mir, genau wie ich erwartet hatte. Mein Kopf wurde wieder klarer. Hier war der Eichenhain zu Ende, dort die Brücke, noch ein Stück auf dem Pfad, jetzt müßte die Böschung bald kommen ...

Sie war plötzlicher da, als ich erwartet hatte, und ich stolperte über einen Grashöcker. Elegant brachte dieser die Last zu Fall, die Elisabet Gran genannt wurde, und sandte mich direkt in die Arme des Kandidaten. Er half mir auf die Beine und ließ mich respektvoll wieder los. Ich holte tief Luft. Der Fuß schmerzte.

»Ist alles gut gegangen?«

»Danke, ausgezeichnet.«

Den Rest des Weges lotste er mich an seinem Arm, und ich verzichtete auf Proteste. Mir sind Hunderte von Kandidaten begegnet, einer fescher als der andere. Keiner von ihnen war eine Verlockung, mich zu vergehen. Warum dann dieser? Wegen seines schönen Gesichts? Wegen des Spaziergangs und der Harmonie der Sphären im letzten Winter?

Vor den Salontüren sagte er gute Nacht, gab mir sehr höflich die Hand und sah mich mit schwarzen Augen an. Ich kehrte ihm den Rücken, lief durch den dunklen Salon und die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Wenigstens erinnerte er nicht an eine Melone wie sein Onkel.

Man kann viel über Gefühle spekulieren, und während man es tut, hält man sich für unendlich philosophisch. Wie eine Primadonna der schlechteren Art, eine Hand an der Stirn, wobei Ach’s und Oh’s ohne Ende dem Mund entströmen. Jedenfalls setzte ich mich stracks aufs Bett und spürte etwas wie Genuß nach der Begegnung. Auch im Sehnen liegt Befriedigung. Hätte ich es gewollt – nun ja, oder gewagt –, Gabriel Månson Avancen zu machen, hätte ich ihn dann erschreckt? Was Mädchen anging, hatten es Studenten nicht eben leicht, und schließlich hatte er selbst erklärt, er könne sich die Siebenundvierziger nicht leisten. Studentinnen gab es bisher nur wenige, und viele versteckten sich hinter der Maske der Geschlechtslosigkeit, um nicht leichtfertig zu erscheinen und ihren Ruf als Intellektuelle zu ruinieren. Einige hatten feste Liebhaber oder Freunde, und oft legte die Studentenzeit den Grund für recht unglückliche Akademikerehen, in denen beide verbitterten, da sie den Aufgaben, die ihr Talent erforderte, nicht nachgehen konnten. Ich selbst hatte das erste Stadium einer solchen Verbindung durchlaufen, doch Helge wollte lieber eine Frau als einen Bücherwurm und fand eine Perle an meiner Stelle.

Die Perlen, Mädchen der Hauswirtschaftsschule, waren Freiwild für die Studenten und genossen den Ruf personifizierter weiblicher Schönheit. Ich weiß noch aus meiner Studienzeit, wie Choice eines Tages in den Verein für Studentinnen stürzte und freudestrahlend rief: »Man hat mich für eine Perle gehalten! Man hat mich für eine Perle gehalten!« Einen Haken hatte die Sache jedoch für einen abenteuerlustigen jungen Mann: Einen Gatten finden wollten die Mädchen sehr gern, doch weniger gern Frikadellen auf Primuskochern braten und die Chaiselongue des Studentenzimmers zerwühlen. Kandidat Månson war als Ehekandidat zudem gewiß zu jung. Was blieb ihm noch? Poussieren mit Dienstmädchen und Ladenfräuleins und danach immer verrufeneren Mädchen. Eine zudringliche Dozentin würde ihn vermutlich erschrecken, ihm schlimmstenfalls sogar lästig fallen.

Ich ging an den Tisch, um die Petroleumlampe anzuzünden. Die Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, und ich konnte das Fenster erkennen, die Sommernacht in den sechs helleren Vierecken. Da erschien mir das Zimmer klein und stickig. Ich stieß das Fenster auf und spürte die Nacht ins Zimmer dringen, den starken Duft von Gras und Flieder aus dem Garten. Weit hinten über dem See noch immer das Licht des Sonnenuntergangs. Füße liefen vor den Salonfenstern auf und ab, und jemand pfiff einen Gassenhauer, in dem sich ganz sicher Herz auf Schmerz reimte. Ich wußte sehr wohl, wer es war. Die Natur war ganz still und der Kandidat zufrieden. Vielleicht hatte er wirklich versucht, mit mir zu flirten, auf kindliche, unbeholfene Weise. Ganz sicher hatte ich ihn ermuntert. Die Schritte und das Pfeifen freuten mich. Dieser Jüngling glaubte sich nicht in eine peinliche Lage versetzt. Sein Tirilieren klang siegesgewiß. Ich schloß das Fenster und zündete meine Lampe an. Jetzt gehe ich schlafen, in mein Bett, ruhig und allein.

*

2.6.1910, vor dem Frühstück

Überzeugt, daß Sehnsucht eine Befriedigung ist, legte ich den Kopf aufs Kissen, puffte es in die passende Form und schlief ein, vermutlich mit einem keuschen Lächeln auf den Lippen. Doch ist viel Wasser unter der Dombrücke durchgeflossen, seit meiner letzten Vernarrtheit, oder ich sollte wohl sagen meiner vorigen. Denn heute nacht blieb Sophia Elisabeth Brenner meinen Träumen fern. Es begann so schön wie in einem Jungmädchentraum, wurde dann ganz und gar lächerlich, und schließlich blieb ich an den Eichenhängen zurück, nein, nicht allein und verlassen, nicht in hochgeistiger Diskussion mit Forscherkollegen, noch nicht einmal in höflichem Geplauder mit dem alten Grafen. Erneut wandelte ich mit Kandidat Månson dahin, die Nacht war hell und voller Düfte, und ich überlegte zerstreut, ob ich ihn küssen sollte. An dieser Stelle gingen Traum und Wirklichkeit auseinander, denn ich tat es tatsächlich. Er beantwortete den Kuß mit einer Glut, die ich bei so jungen Menschen nicht vermutet hätte, doch könnte ich denn schwören, daß es anders gewesen wäre, hätte ich es tatsächlich gewagt? Ganz gewiß liegt in der Sehnsucht ein ganz eigener Genuß. Im Traum erleben die Sinne einen anderen Reiz, und ich zögerte darum nicht einen Augenblick, dem Kandidaten Avancen zu machen, wovon ich nie geträumt hätte -nun, hier hat sich die Feder wohl ein wenig verlaufen.

Wie eine Blume des Feldes, die schönste von allen, lag er dort im Gras, und ich sah auf ihn hinab und küßte ihn noch einmal, liebkoste ihn und ...

Mein Gott, ich muß zum Frühstück hinunter.

*

Abends

Heute morgen warf ich nach einem Klecks die Feder hin und hätte gern alles von Anfang bis Ende zugekleckst, ausradiert oder nicht geträumt.

Es regnete über Ekesta, und die Norrköpings Tidningar lag unangerührt auf Kandidat Månsons Teller. Choice und Thea waren fröhlich und munter, in einem Maße, daß man hätte glauben können, sie seien statt meiner heute nacht draußen herumgeschwärmt. Sobald wir allein in der Bibliothek waren, begann Choice mich zu frotzeln, weil ich, ohne ein Wort zu sagen, verschwunden war.

»Kokettierst du immer mit deinen Studenten?« fragte sie.

Allein schon diese Anschuldigung machte mich verlegen. Ich rechtfertigte den Spaziergang mit der Begründung, ich habe dem Melonenbaron entkommen müssen, der offenbar Absichten gehabt habe. Ein solcher Obst- und Gemüsemann paßte ohnehin besser zu Choice. »Und im übrigen war das Ganze völlig unschuldig!« verteidigte ich mich, vielleicht gar zu heftig. Choice lachte schallend, Thea lächelte vor sich hin.

»Ich hätte nie gedacht, daß es dir Jünglinge angetan haben. Aber vielleicht hattest du nur die Wahl zwischen zwei Übeln? Der fette Baron fing wahrhaftig an, Choicy Avancen zu machen, nachdem du verschwunden warst, doch ich habe sie gerettet so wie der Kandidat dich. Der Baron ging tief enttäuscht und ließ uns einsam zurück, die Stachelbeeren zu bewundern.«

Ich würdigte es, daß Thea mich zu verteidigen suchte. Wir setzten uns erneut an die Briefe, denn das Abschreiben brachte nicht nur viel Arbeit, sondern kostete auch eine Menge Zeit. Jetzt kam Organisation in die Sache, darauf achtete Thea. Diese Frau hat Sinn für Ordnung. Wir ließen uns, jeder mit einem Briefpacken, nebeneinander am Schreibtisch nieder, der ohne weiteres für alle ausreichte. Ich landete bei der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Nicht ohne Erwartungen zog ich Tinte in den Füllhalter.

Unruhig wie ein Pferd in seinem Verschlag erwartete die Feder den Aufbruch. Wenn man doch mit der Reinschrift anfangen, einfach dahingaloppieren könnte über die leeren Folioblätter. Ein Neuling der Archivforschung hätte wohl in dieser Weise losgelegt, doch ich ließ die Feder in die Jackentasche zurückgleiten und las die Briefe zunächst durch.

Choice hatte zu schreiben begonnen, ein Viertel der Folioseite war bereits mit schlanken, wohlgeformten Buchstaben in grüner Tinte bedeckt. Thea machte es wie ich. Sie hatte den letzten Teil der Briefe erhalten, und ich sah, daß sie ein Papier fortnahm, das um den Brief gefaltet lag. Ich reckte den Hals, um zu sehen, was es sei, und als sie es bemerkte, reichte sie es mir. Es war ein handgeschriebenes Gedicht an »Major Carl Gyllensporre anläßlich dessen Rückkehr aus dem Russischen Sibirien zu der Heimaterde mit Gattin und Kindern, den 17. Juli 1728«. Dann hatte also Beata Hochhauers ältester Sohn die Gefangenschaft überlebt und war gesund und sicher ins Vaterland zurückgekehrt, nicht mehr als aufsässiger Jüngling, sondern als Familienvater, der das Geschlecht weiterführte. Die Gattin war vielleicht Russin, und ein Sohn mußte der Ahnherr der jetzigen Barone von Ekesta sein, und übrigens auch der von Gabriel Månson. Ich gab Thea das Gedicht zurück und begann mit meinem Teil.

Der Alltag und die Welt der Frauen waren das Wichtigste darin. Gewiß vermittelte die Brenner auch Neuigkeiten aus der Hauptstadt, wie daß »unsere gnädige Königin mit einem weiteren Sohn niedergekommen«, daß dieser leider im zarten Alter dahingegangen sei oder daß »die Königin vom Todt ereilet worden, weshalb ich in Versen niederschrieb die Trauer des Frauengeschlechts darob, welche hier beigefügt, und für welche Seine Majestät bezahlet mir ein erklecklich Sümmlein«. Die gute Sophia Elisabeth Brenner war kaum eine Person, die sich selbst verleugnete, und sie zögerte nicht, sich in den Briefen an die Freundin ausgiebig über die eigene Dichtung auszulassen. Sie schickte auch ihre gedruckten Texte, doch die Beilagen waren in der Sammlung nicht mehr vorhanden. Ich vermutete, sie waren mit anderen Akzidenzdrucken gebunden worden und standen vielleicht irgendwo in den Regalen. Ansonsten widmeten sich die Briefe meist den Kindern, dem Heim und dem Gatten. Hier begegnete mir Elias Brenner, der großartigste aller Gatten, und ich fand ihn richtig sympathisch. Und dann die Kinder! Die fünfzehn Kinder, so geliebt, als sie geboren wurden, so betrauert, als sie starben. Ein Brief vom Oktober 1696 handelte beinahe ausschließlich von den Kindern:

Innig geliebte Schwester!

Gar vieles in der Welt ist zu beklagen; doch haben Dein teurer Brief, den ich kürzlich empfangen, und die Nachrichten, so darin enthalten, mich mit großer Freude erfüllt. Gott sei gedankt, daß es Dir und den Deinen auf Ekesta wohlergehet. Die Furcht vor weiteren Kindbetten ist auch mir wohlbekannt, doch möge der Herr darob walten! Auch bereitet mir das Gebären meiner Kinder nicht länger gleiche Mühe, wie einst der Sofia Geburt. In unserem Haus, Brenners und meinem, befinden die Kinder sich wohl. Maßvolles Haushalten ist freilich vonnöten, doch ist die Not selten bei uns zu Gast.

Krankheiten grassieren hier in Stockholm. Die Kunde gehet, daß auch Seine Majestät ernstlich erkrankt sei. Hier bei uns ist die Familie zunächst gewachsen, dann rasch wieder geschrumpft. Den 26. September gebar ich mein elftes Kind: einen gesunden und muntern Knaben, dem wir den Namen Carl gaben – den Namen Deines Herrn Sohnes, den unseres Königs und Erbprinzen! Das Kind ist klein, doch stark, und ich glaube, er wird am Leben bleiben.

Nicht mehr am Leben hindoch sind Margareta und Otto. Die kleine Greta, mein letzter Säugling vor Carln, starb am 2. Oktober, und Otto am 12. selbigen Monats, kaum drei Jahre alt. Die Krankheit traf sie, während ich noch im Kindbette lag, und all mein Sinn von dem neuen Kind, das der Herr uns gegeben, erfüllet war. Auch Marie Aurore war erkrankt, hat sich jedoch gesund erhoben.

So gab uns der Herr im selben Umlauf des Mondes eine Taufe und zwei Begräbnisse. Obgleich ich der Geburt schnell genas, fiel es mir schwer, mich den beiden kleinen Särgen zu nähern. Doch blicke ich auf zum Mond, und der Mond spendet Trost. Mag sein, er ist jetzt im Herbst ein wenig bleich, doch ist es derselbe Mond wie zur Mittsommerzeit. Und ich glaube und hoffe, Greta und Otto ruhen nun, da ich sie nicht mehr in die Arme schließen kann, in Frieden bei Gott.

Ich bin auf ewig Deine Dir herzlich zugeneigte Freundin

Sophia E. Br.

Stockholm, den 20. Oktober 1696

Ich legte den Brief auf den Schreibtisch und stützte das Kinn in die Hände. Das 17. Jahrhundert war mir ganz nah, all seine Hoffnung und Verzweiflung. Ich spürte die Untergangsstimmung von Epidemien, die nicht zu begreifen und zu erklären waren, und zugleich das Vertrauen jener Zeit auf Gott, der trotz allem die Dinge zum besten fügte.

Der Himmel gen Norrköping war grau verhangen. Dichter Regen fiel, doch war er leicht und sommerlich lau. Heute saßen keine Barone unter dem Hofbaum, und keine Reitpferde stolzierten über den Vorplatz. Das einzige menschliche Leben, das ich entdecken konnte, waren ein paar Kinder, die verloren oben bei den Gesindehäusern spielten.

Vor zweihundert Jahren hatte Ekesta nicht viel anders ausgesehen, selbst wenn die Gebäude kleiner und einfacher gewesen waren. An einem verregneten Sommertag war Beata Hochhauer zu einer abseits gelegenen Küche geeilt, um die Mägde bei der Zubereitung der Braten zu beaufsichtigen, die von Kühen oder Schweinen des Hofes stammten. Baron Gustaf saß gewiß über seinen Rechnungen oder der Korrespondenz, die Kinder weilten beim Gesinde oder büffelten Französisch mit dem Informator. Es war ebenso still wie heute.

Urplötzlich wurde es dunkel über dem Schreibtisch, und mit voller Kraft prasselte der Regen auf den Hofplatz. Thea schaltete das elektrische Licht ein, und im selben Augenblick blitzte und donnerte es ganz in der Nähe. Choice ließ den Füllfederhalter fallen und schrie auf. Langsam rollte er über das Folioblatt, prallte am Papierrand leicht zurück, ließ sich jedoch nicht aufhalten und rollte bis auf den Brief der Brenner. Die Reste des Lacks stoppten ihn, und er blieb liegen. Langsam breitete sich ein grüner Fleck von der Spitze her aus.

»Gewitter!« jammerte Choice. »Mein Gott, wie schrecklich!«

Ich griff nach ihrem Federhalter und schraubte die Kappe darauf. Der Klecks war mitten in einem Wort gelandet und bereits zentimetergroß. Ich hoffte, der Brief ging dennoch zu deuten.

»Vergeßt nicht, wenn es brennen sollte, müssen wir zuerst die Briefe retten!«

»Und das Arsenal«, sagte Thea. Dann betrachtete sie Choice, die wahrhaftig zitterte. »Ach du armes Ding, hast du Angst vor Gewitter?« Choice nickte. Sie wirkte zerbrechlich, hatte fast Tränen in den Augen und war keineswegs tatkräftig und verwegen. Thea geleitete sie zum Sofa und hieß sie sich hinlegen.

»Das zieht bald vorüber«, sagte ich, und im selben Augenblick ertönte ein weiteres Krachen. Das Gewitter stand jetzt fast direkt über Ekesta. Ich war in Gedanken noch immer bei Beata Hochhauer, an jenem dunklen Sommertag vor etwa zweihundert Jahren, und jetzt sah ich, wie sie aus der Küche trat und im Regen stand. Beim Informator drinnen warfen die Kinder ihre Grammatikübungen hin und faßten sich bei den Händen, und vielleicht erbleichte ja auch ihr Lehrer.

»Besteht Gefahr für das Haus?« fragte Choice.

»Kaum. Es hat schon mehr als hundert Jahre hier gestanden.«

Ein drittes Krachen erschütterte das Gebäude, und der Blitz spiegelte sich im Dekor der Buchrücken. Ohne daß wir uns abgesprochen hatten, sammelten Thea und ich die Briefe ein und legten sie mit unseren Papieren ins sichere Dunkel des Arsenals. Thea setzte sich ans Kopfende des Sofas zu Choice, strich ihr über das Haar und versuchte sie zu beruhigen. Das Arsenal stand sicher zwischen ihren Füßen.

Der Donner rollte in Wellen heran wie Kanonengrollen, plötzlich erschien drüben bei den Stallungen ein Feuerschein. Er kam aus dem Nichts, und rasch stiegen Flammen auf. Menschen liefen von allen Seiten herbei, aus Gesindehäusern, Speichern und Ställen. Choice lag reglos auf dem Sofa und hielt die Augen geschlossen. Thea bedeutete mir zu schweigen. Es krachte gegen den Verputz der Hauswand, als die Eingangstür aufgestoßen wurde und Kandidat Månson herausstürzte. Hinter ihm liefen die Kinder des Barons und schließlich das Hausmädchen, das sie zu hindern suchte.

Was da brannte, war kein Stall, soviel konnte ich erkennen, dennoch schien das Gebäude nicht wertlos. Man bildete eine Eimerkette, und die kleineren Kinder sausten mit den leeren Gefäßen zurück. Es war ein allzu hektisches Spektakel, als daß ich im Haus bleiben konnte. Ich trat auf die Treppe, nahm einen Schirm in Empfang und schob mich langsam näher. Der Gewitterregen war heftig, und es blitzte noch immer. Die Eimerkette, das Gedränge, Rufe – dort vorn war Leben, und ich wollte ihm nahekommen. Während Choice sich also vom Gewitterschock zu erholen suchte, ohne von dem Brand zu wissen, schlich ich mich wie ein neugieriges Gör oder ein Zeitungsschreiberling immer näher an das Feuer heran.

Es war die Wagenremise, die da brannte. Einige Männer mühten sich, die Fahrzeuge herauszuziehen. Sie glichen Arbeitern einer Lancashireschmiede, rußgeschwärzt und umgeben von Flammen und Funken. Ein Landauer und ein Einspänner, kaum vom Feuer berührt, standen bereits vor dem Stall in Sicherheit, und jetzt kämpfte man mit einer Kutsche. Die Regentropfen zischten, als sie auf das Eisen des Wagens schlugen, doch kühlten sie es so rasch ab, daß andere Hände zugreifen und die Kutsche fortrollen konnten. Die Männer liefen in das brennende Gebäude zurück, und dieses Mal ging Kandidat Månson mit ihnen. Ich war seinetwegen etwas in Unruhe.

Die Eimerkette versuchte das Feuer an der Ausbreitung zu hindern. Zu den Ställen war der Abstand groß, doch die Scheune lag unmittelbar daneben. Auch wenn sie zu dieser Jahreszeit kaum allzu gut gefüllt sein mochte, gab es wohl trockenes Heu genug für einen gehörigen Brand. In der entgegengesetzten Richtung lagen die Häuser der Arbeiter, und ich verstand sehr wohl, daß sie ihr Eigentum um nichts in der Welt verlieren mochten, auch wenn es bei einer Auktion keine großen Summen gebracht hätte. Um Chaiselongue und Schreibtisch daheim in meiner Wohnung würde auch ich recht heftig kämpfen. Eine Frau meines Alters trat aus einer Tür, einen Säugling auf dem Arm und zwei Kleinkinder am Rockzipfel. Sie betrachteten den Brand sehr gelassen. Eine Hauskatze fand einen behaglichen Platz zu meinen Füßen, wo der Schirm den Regen fernhielt und das Feuer von der Remise gut wärmte.

Jetzt rollte erneut ein Wagen heraus, geschoben von den Männern und dem Kandidaten.

»Aus dem Weg! Aus dem Weg!« riefen die Männer, und die Löschenden, die Kinder und Katzen – ja auch ich – eilten vom Wagen fort, ohne richtig zu begreifen warum. Der Kandidat schrie nach Wasser.

Dieser Wagen rauchte schlimmer als die anderen, und als man die ersten Eimer über ihn goß, verdampfte das Wasser sofort. Er schien ziemlich übel zugerichtet, war ohne Deichsel. Obgleich ich ihn ganz aus der Nähe gesehen hatte, erkannte ich ihn erst wieder, als das ganze Fahrzeug zu vibrieren begann, und der Kandidat brüllte: »Lauft, verdammt noch mal! Lauft!« Und wir liefen. Alle stürzten auf das Herrenhaus zu, und ohne nachzudenken beugte ich mich hinunter, hob eins der Kleinkinder auf den Arm und nahm es mit. Ich blieb auf dem Hofplatz stehen und sah mich um. Die Kleine in meinen Armen wimmerte vor Angst, wegen der Hitze und auch wegen mir. Sie drückte sich an mich, weil nur ich vorhanden war, und ich strich ihr beruhigend übers Haar.

Im selben Augenblick explodierte das Automobil. Kleine Kinder schrien. Ein Alter brummelte schadenfroh, hier sehe man, was herauskomme bei dem neumodischen Zeugs. Kandidat Månson stand im verbrannten Anzug da, das Gesicht schwarzgestreift, und ich wollte ihn nicht blamieren, indem ich nachschaute, ob er weinte. Die Remise brach krachend zusammen, und die Flammen zuckten.

Jetzt spürte ich, daß der Regen nachgelassen hatte und das Gewitter vorüber war. Thea kam auf die Treppe heraus und betrachtete uns und die Verwüstung. Es bestand wohl kaum mehr Gefahr für die anderen Häuser. Die Leute gingen langsam zurück, und ich übergab das Kind seiner Mutter. Das eingestürzte Gebälk brannte noch immer, doch nicht unkontrolliert. Ein gewissenhafter Mensch hatte eine Wache aufgestellt, die ab und an die Glut ausstampfte oder einen Eimer Wasser über ein Flämmchen goß. Bald wird es lediglich eine schwarze Lücke in der Häuserreihe geben. Kandidat Månson zog ein studentisches Seidenschnupftuch aus der Tasche und schneuzte sich.

»Was für ein Mißgeschick«, sagte ich.

Der Kandidat nickte. Nun mußte er wohl seinem Großonkel Bericht erstatten. Nicht sehr viele Wagen standen draußen, also war der größte Teil der Gutsfuhrwerke gewiß zerstört: Schlitten, Wagen, vielleicht auch Erntegerät. Wirtschaftlich konnte der Brand für den Hof schlimme Folgen haben, falls das Zerstörte nicht gut versichert war.

»Oh, das Auto!« seufzte der Kandidat und begann den Ruß von der Stirn zu reiben. »Was der Onkel wohl sagen wird?«

*

Brief von Elisabet Gran an Balle Bondeson v. 3.6.1910

Ekesta, den 3. Juni 1910

Bester Balle!

Hier lebt man herrschaftlich, kannst Du glauben, schlürft französische Liköre und macht Bekanntschaft mit schwedischen Stachelbeeren. Das Archiv ist ausgezeichnet – id est, ein kleiner Verschlag auf dem Dachboden, doch das Bündel Papiere, auf das wir aus waren, ist ein großer Erfolg. 42 Briefe der Brenner, da hat Schlippenbach was zu schlucken! Ansonsten fühlt man sich wie ein Pascha.

Ein Problem plagt mich hier. Meine Kolleginnen sind richtig nett, und wir kommen tatsächlich bestens überein – doch wenn ich meine Crux erwähne, schauen sie mich nur mit großen Augen an. Sag mir, Balle, wenn Du den Geijer studierst, seine Füße zählst oder was Du sonst mit den Versen machst, glaubst Du, ihn weniger zu verstehen, weil Dir eine halbverrückte Ehefrau und kleine Tochter fehlt, Du nicht im Reichstag sitzt oder aus Värmland stammst? Siehst Du, das aber fange ich an zu glauben. Nein, nicht Värmland, da gingen sie mit mir durch. Aber sieh, Bruder Balle, die Brenner und ich sind schwerlich irgendwo gleich. Wenn auch ihr Vater ein Bürgerlicher war, meiner es ebenfalls ist und wir beide ein wenig Latein verstehen, so hört die Gemeinsamkeit damit s. z. s. auf.

Jetzt klingt die Sache sehr verworren. Bester Balle, Prachtjunge! Stell Dir die Familie Brenner vor, eine begüterte Beamtenfamilie: mitten im Ruhm der Großmachtzeit, mitten in all den Schrecklichkeiten, Krieg, Tod und whatnot. Und der Kern der Familie war Sophia Elisabeth Brenner – sie, die nicht, wie sonst üblich, ihren Mädchennamen benutzte, sondern sich äußerst loyal wie der Gatte schrieb. Ich habe begonnen, sie zu mögen. Denk Dir irgendeine Frau (außer mir natürlich, das verbiete ich Dir): Heute ist die Welt voller Gänse, die fortwährend in Ohnmacht fallen und mitten am Tag zu Bett gebracht werden müssen – der eine unserer beiden Barone ist mit einer solchen vermählt: Nervenfieber und in die Schweiz weggesperrt, in der Hoffnung, sie möge bald sterben. Der Brenner schwanden wahrhaftig nicht die Sinne. Wann hätte sie dazu Zeit gehabt? Sie mußte sich schließlich um Heim und Dichtung kümmern. Sie war kein zartwandiges Gefäß, in Furcht vor Schwangerschaft oder um die Figur jammernd. Der Tod im Kindbett schreckte sie nicht. Sie vertraute auf den Herrn.

Mag sein, die Großmachtzeit war voller Kraftweiber. Dennoch muß die Brenner mehr gewesen sein als andere. Wollte sie schreiben, fiel wahrhaft niemand in Trance vor ihrem Genie. Nein, die Dichtung mußte warten, bis es still geworden war daheim, die großen Töchter beim Nähen saßen, die Knaben beim Informator studierten und das letzte Wickelkind schlief. In diesen Stunden gelang Frau Brenner ein Hochzeitsvers, ein Epitaphium oder ein scherzhaftes Gelegenheitsgedicht. Es verwundert mich keinesfalls, daß sie gern Sonette schrieb – vierzehn Zeilen erfordern vielleicht eben die Zeit, die ein Wickelkind schläft oder ein Braten bis zum Wenden braucht. Das Reimgeflecht war im voraus erdacht, beim Glätten der Laken oder als sie die Töchter ermahnte.

L. B.! Du weißt, ich bin keine Gans oder will es zumindest nicht sein. Hier komme ich nun zurück zu Geijer: Können Lic. Jansson, Red. Nordin und ich die Sophia Elisabeth Brenner überhaupt verstehen? Wir sind moderne, gebildete Frauen. Die Arbeit an der Herausgabe bewältigen wir schon, doch sind wir imstande, sie zu verstehen? Einen Mangel haben wir jedenfalls: Keine von uns ist vermählt und keine hat auch nur ein einziges Kind geboren. Was glaubst Du? Ist es dumm, über Verstehen nachzugrübeln, soll ich nur publizieren, damit nicht alles verquer läuft?

Doch vielleicht grabe ich mir die Fallgrube ja selbst. Braucht es Verständnis für die Wissenschaft? Muß ich die Brenner verstehen, um sie herauszugeben? Du kannst wohl nach Linköping ins Freimaurerhotel schreiben, falls Du eine Meinung hast.

Die Sonne scheint hier beinahe jeden Tag. Gestern war Gewitter, und der ganze Wagenpark brannte ab zum freiherrlichen Ärgernis aller Barone. Einer von ihnen macht mir stets den Hof, und ein jüngerer Verwandter konversiert ständig mit mir. Aber ich sitze auf meinem Glasberg und lasse Briefabschriften um mich gleiten. Ich verbleibe

Tua

Lissie.

*

4.6.1910

Heute morgen in aller Früh, ehe die anderen erwachten und das Frühstück serviert wurde, schlich ich mich ganz allein nach draußen, um über diese Crux nachzudenken: Verstand ich die Brenner? Oder, was die Sache noch schlimmer machte: Verstanden wir die Brenner? Die Frage quälte mich, und ich wollte eine Lösung finden.

Die Junimorgen sind fast immer sonnig, ungeachtet wie der Tag dann wird. Noch war es kühl, doch klar, und die Schatten waren scharf markiert, so deutlich, daß jeder Grashalm sich abzeichnete. Es duftete frisch, ob vom Grün, von den Blumen oder vom Tau, wußte ich nicht zu sagen, aber es kitzelte angenehm in der Nase. Feuchte Halme umspielten meine Füße, als ich über den Rasen ging. Wie konnte ich es erfahren? Wie konnte ich sie verstehen? Draußen auf dem Feld kamen drei Rehe gelaufen, sie hielten inne und blickten sich um. Auch ich blieb stehen. Ihre kleinen dreieckigen Köpfe bewegten sich hin und her, und dann verschwanden sie mit großen Sätzen in der Sicherheit des Waldes.

War ich wirklich Weibs genug, um die Brenner zu verstehen? Mein ganzes Leben hatte ich der Wissenschaft gewidmet. Die Brenner war freilich zur Schule gegangen, in die deutsche Schule unter lauter Knaben, doch war sie sichtlich nicht zur Gelehrten bestimmt. Das hatte es für Mädchen nicht gegeben. Sie war nur von so außerordentlicher Begabung gewesen, daß die Gelehrsamkeit dennoch haftenblieb.

Mit einer beruflichen Laufbahn hatte die Brenner natürlich nicht rechnen können, ich glaube nicht einmal, daß ihr der Gedanke gekommen war. Selbst noch bei unseren Müttern war das kaum der Fall. Einundzwanzig Jahre alt – nach damaligem Maß bereits ein wenig verblüht –, hatte sie Elias Brenner geheiratet und war eine Frau des Familienlebens geworden. Mit dreiundfünfzig war sie Witwe. Das jüngste Kind war damals eben erst zehn Jahre alt. Achtzehn Jahre darauf starb sie.

Unsere Gelehrsamkeit reicht wohl aus, um die Brenner zu verstehen. Doch in allem übrigen ... Ich steckte die Hände in die Taschen der Leinenjacke und ging weiter. Selten war mir eine Frau begegnet, die dem Männergeschlecht so feindlich gesinnt war wie Choice. Indes wußte ich nichts über Thea und die Männer. Ich persönlich hatte nie größere Ambitionen zum Heiraten, doch ausgeschlossen habe ich die Sache nicht. Vermutlich hätte ich wohl gekonnt, wenn ich gewollt hätte. Leutnant Färla war recht entzückt von mir als frischgebackene Abiturientin, küßte mir die Hand und deutete an, er könne mir alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Doch wenn auch Monokel, Uniform und all die anderen Offiziersattribute mich bestrickten, so gefiel es mir doch besser, wie vorgesehen nach Uppsala zu fahren, als mich einem Leutnant zu versprechen und als Ehefrau in einen Garnisonsort zu ziehen. Dann wäre auch ich jetzt vermutlich so ein schwächliches Weibsbild, fiele bei den merkwürdigsten Anlässen in Ohnmacht und behauptete hartnäckig, Strindberg sei der Antichrist persönlich. Es kam ganz anders, und Gott sei Dank dafür.

Meine Füße hatten den Weg über den Rasen gefunden, und jetzt stellte ich fest, daß sie zum See unterwegs waren. Ich ging die Böschung hinunter und betrat den Pfad. Um mich herum sangen die Vögel durchdringend. Ein leichter, lauer Wind wehte, ein Zephir, ein Lüftchen von Westen, von Finspång her. Der Duft des Grases und der Blumen wurde im Gehölz stärker. Auch nach Erde roch es. Die Natur blühte, die Vögel boten ihre Liebe feil. Ich war keusch und reingewaschen und erinnerte mich kaum, wann die Leidenschaft mich das letzte Mal in ihren Fängen hielt. Es war Jahre her, Myriaden von Jahren. Wenigstens in der Wirklichkeit.

Geliebt hatte ich in der Tat. Ich war so verliebt gewesen, so verliebt in meinen Helge; wir lebten in der allerschönsten Studentenehe, schliefen in meinem Zimmer oder seinem, obgleich wir wußten, daß wir es weder sollten noch durften; wir bereiteten einfache Speisen auf dem Spirituskocher und gingen zusammen ins Theater: zweiter Rang zweite Reihe, denn die Zuschüsse von daheim sahen derartige Ausschweifungen nicht vor. Die Tischgemeinschaft, bei der wir uns das erste Mal trafen, war unser Freundeskreis, sechs Studenten und eine Studentin, gut verteilt über die Fakultäten.

Vieles lernte ich dort beim Mittagstisch und zusammen mit Helge. Niemals wäre ich in die Forschung eingestiegen, hätte ich nicht erst das normale Leben kennengelernt. Das war es ja auch, was zum Bruch führte. Nach allen Liebkosungen und zärtlichen Worten kam es zum großen Eifersuchtsdrama zwischen Helge, mir und Carl Gustaf Leopold. Elias Brenner hatte seine Frau zu ihren Studien ermuntert. Helge Andersson ging in die Luft, als sich die Studien wichtiger erwiesen als er. Denn er hatte einen Referendarposten in Luleå erhalten – in seiner Studienzeit gab es wohl der Vergnügungen etwas zu viel und der Juristerei zu wenig – und ich war soeben mit Schlippenbach übereingekommen, mein Leben der Wissenschaft zu weihen. Das Resultat war der Explosion des Automobils nicht unähnlich: zunächst Hitze, Rauch und Beben und schließlich der endgültige Knall, der alle Menschen so rasch davonlaufen ließ, wie sie nur vermochten. Helge drohte sogar, alles meinem Vater zu berichten. Ich erwiderte, er könne es gern tun, wenn er dazu imstande sei. Je mehr sich Helge ins Zeug legte, desto kühler wurde ich. Es war fast, als hätte man eine kleine Luke geöffnet, so daß Durchzug entstand, und mit jedem Windstoß in unserem Streit wehte ein wenig Liebe hinaus. Ich suchte Helges Hemden und Gesetzesbücher zusammen und schickte das Paket mit Grüßen vom Professor heim an seine Mutter. Das war zwar nicht nett von mir, doch in jenem Augenblick erschien es mir äußerst angemessen.

Zur Eheschließung kam es, was meine Person betraf, also nicht. Unverheiratet und kinderlos gehe ich hier durch den Eichenhain und grüble. Was macht einen Menschen zur Frau? Die biologische Funktion? Das Leben, das man führt?

Die Eichen, hoch und mächtig, warfen ihre Schatten über den Hain. In Dodona stand eine sprechende Eiche, und in ihrem Rauschen gab Obergott Zeus Orakelantworten für die Zukunft. Im Hain von Ekesta sprachen die Eichen nicht. Sie rauschten eintönig und beruhigend. Ich stand in ihrem Schatten, legte den Kopf in den Nacken und rief zu den Kronen hinauf: »Antwortet, ihr Eichen! Wie kann ich verstehen?«

Die Blätter bewegten sich leise. Eine hockende Gestalt war dort oben zu erkennen, doch war es wohl eher ein Ast als ein Baumgott. In einem Eichenhain am Morgen kann man leicht die Götter sehen, an welche die Antike glaubte, als die Welt noch jung war. In jedem Baum, in jeder Quelle wähnte man eine Gottheit. Ich fragte mich, woran meine Vorväter wohl geglaubt hatten. Erneut rief ich zu den Bäumen hinauf.

»Hmmmm«, flüsterten die Kronen zur Antwort, doch klüger wurde ich daraus nicht.

Was meine Ausbildung, meine Art zu denken, einen großen Teil meines Umgangs anbelangt, bin ich eigentlich ein Kerl. Die Dozenten Huund, Wallin und Bondeson sprechen nicht feiner mit mir als zueinander, und ich schätze es, sie als Kollegen zu haben.

Der See lag vor mir, morgenstill. Ein Sprachforscher hatte mir einst erklärt, der Name Glan rühre eben von dessen heller Wasserfläche her, die oft, wie heute, ganz reglos erscheine. Dennoch behaupteten die Leute der Gegend, der See sei unberechenbar und blitzschnell aufgewühlt. Weiter draußen lagen verstreut ein paar Boote mit Berufsfischern oder Anglern. Der Morgen war still, hier an Land ebenso wie draußen auf dem See.

Langsam wanderte ich zum Wasser hinunter, bis an den Uferrand, von dem die Steine weit hinausreichten. Kein Mensch war in der Nähe. Ich zog die Jacke aus und legte sie auf einen großen Felsbrocken, wo sie sicher schien. Die Angler waren weit weg. Vorsichtig schnürte ich die Schuhe auf, streifte sie ab und stellte sie neben den Stein. Alles war ruhig und das Frühstück noch in weiter Ferne. Ich sah mich gründlich um. Dann löste ich die Strümpfe und rollte sie über den Spann. Den einen Fuß an Land und den anderen im Wasser konnte ich fühlen, daß es recht warm war. Da wurde ich kühn. Zog mich aus und watete ins Wasser. Die Steine wurden kleiner, je weiter man hinauskam, und da sie rund waren, spürte man sie kaum unter den Füßen. Als mir das Wasser bis zu den Schenkeln reichte, begann ich zu schwimmen. Hinter dem Schilf sah ich fast den ganzen See, der sonnenbeschienen und still vor mir lag. Die Schwimmzüge hinterließen kleine Wellen, und von den Fingern breiteten sich Wasserringe aus.

Es war warm und angenehm im Wasser. Ich schwamm ein Stück in Richtung Finspång, machte kehrt und legte eine kurze Strecke gen Norrköping zurück. Ein Boot weit draußen wurde landeinwärts gerudert. Wie eine Diana im Bad schwamm ich an Land, schüttelte das Wasser ab und stand splitternackt und tropfend am Strand. Hätte in den Booten ein Jäger heimlich Ausschau gehalten, ich hätte ihn verwandelt und ihm ein schreckliches Schicksal bereitet. Das Hemd mußte als Handtuch herhalten. Als ich es anzog, war es feucht und unangenehm auf dem Körper, doch als ich zum Herrenhof hinaufging, trocknete es rasch.

Vom Hof waren laute Rufe und Lärm zu hören. Pferde wieherten, das Klappern von Wagen ertönte, die man offenbar herbeigeschafft hatte. Die Schafe lauschten mit erhobenen Köpfen, und die Lämmer sprangen um sie herum. Kinderstimmen waren stärker oder schwächer zu vernehmen, je nachdem, wie ihr Spiel über den Stallplatz wogte. Ein kleines Mädchen winkte eifrig in meine Richtung, mein kleiner Schützling vom Brandtag. Sie hatte beschlossen, mir auf ewig dankbar zu sein. Am nächsten Tag war sie mit einem großen Strauß weißen Labkrauts erschienen, mit viel Liebe und mit sehr kurzen Stengeln gepflückt.

Der Morgen war vorüber und der Vormittag angebrochen. Meine Seele wandte sich Tee und Toast zu, und ich beschleunigte die Schritte. Na was! Es kann ja wohl nicht stimmen, daß ich mich für diese Tätigkeit nicht eigne. Ich bereute fast den Brief an Balle Bondeson. Mehr Frau als Schlippenbach war ich schließlich auf jeden Fall!

*

7.6.1910

Ich habe Ekesta hinter mir gelassen und schreibe jetzt in einem Linköpinger Hotelzimmer. Es ist immer schwierig für einen Norrköpinger, in diese Stadt zu kommen, und ich vermisse die ländliche Gegend der Barone. Sie war so schön, so einfach. Fabian Gyllensporre zeigte sich beunruhigt, wie wir nach Finspång gelangen sollten, jetzt wo das Automobil »unbrauchbar« war. Genau so drückte er sich aus, und es fiel mir schwer, respektvoll zu bleiben. Gabriel Månson hatte erzählt, der Blechhaufen sei an die Hütte von Lotorp verkauft worden, um Hämmer daraus zu schmieden. Nun wollten wir weiter südwärts, nach Linköping, also ging es erst mit dem Boot Richtung Skärblacka und dann mit dem Zug über Kimstad.

Nach dem Frühstück rollte die Kutsche zum See hinunter, nicht durch den Eichenhain natürlich, sondern auf besser gebahntem Weg. Ein paar Töpfe Farbe hatten dem Schwarz abgeholfen, das vom Feuer zurückgeblieben war, und Kandidat Månson handhabte die Zügel auf vernünftigere Weise als das Steuer des Automobils.

Der Tag war genauso schön wie all die bisherigen auf Ekesta – der Brandtag ausgenommen –, und die Sonne und das Leben überhaupt vermittelten mir ein Gefühl von Wohlbehagen und Wehmut zugleich. Der Wald um uns herum warf Schatten, doch ab und an brachen kleine Sonnenflecken durch das Geäst. Mein breitkrempiger Hut beschattete Gesicht und Nacken, und obgleich einige hartnäckige Bienen glaubten, die Verzierungen seien echte Blumen, so hielt die Krempe sie auf gehörigen Abstand von meinem Gesicht. Choice und Thea saßen in unserem Rücken und plauderten, und ich thronte neben dem Kandidaten auf dem Kutschbock. Er trug dünne weiche Lederhandschuhe, und die Zügel waren geflochten, damit sie nicht aus den Händen rutschten. Die braunen Lenden des Pferdes bewegten sich auf und ab vor unseren Augen, und weiter vorn spitzte das Tier ein Paar folgsame Ohren. Der Kandidat und ich sprachen nicht, fühlten uns gewiß aber dennoch wohl. Ich hätte ihn mir gern als jüngeren Bruder gewünscht, zumindest beinahe.

Kandidat Månson brachte den Wagen am Landesteg zum Stehen, half uns heraus und schickte den Mann zurück, der die Reisekoffer gefahren hatte. Wir kamen gerade zur rechten Zeit. Aus Richtung Finspång glitt ein weißes Dampfboot heran, und Musik begleitete es. Blechblasinstrumente schmetterten, ein fröhlicher Männerchor sang aus voller Kehle »Sehnsucht nach dem Lande«. Thea steckte sich eine Zigarette an und betrachtete das Boot mit einem Blick, den ein Groschenheftverfasser spöttisch nennen würde, den ich aber eher als höhnisch beschreiben möchte. Sie redete nicht so viel wie Choice oder ich, ihr Gesicht aber gab recht klaren Bescheid über das, was sie empfand. Was Blicke nicht auszudrücken vermochten, teilte sie durch ein Wedeln der Zigarettenspitze mit.

Ich fühlte, wie die Musik mich mitriß und frohgemut stimmte, zumindest oberflächlich. Das Dampfboot legte am Steg an, und eine ganze Gesellschaft stieg aus. Die Sänger und die Blechbläser gehörten dazu. Sie stellten sich dicht am Rand des Landestegs auf und schmetterten weiter in sommertypischem vaterländischem Geist. Männer und Frauen in Sommerkleidern, mit flachen Strohhüten und Sonnenschirmen entstiegen dem Boot. Alle waren jung, Kinder waren nicht dabei. Sogleich begann meine Phantasie ein Gewebe um sie zu spinnen, doch der Anblick einer Standarte brachte mich rasch wieder zur Erde zurück: »Fingspongs Guttemplerloge« stand darauf. Mit jenen fühlte ich keine Verwandtschaft.

»Nun müssen wir an Bord«, sagte Thea. »Adieu, Kandidat Månson!«

Sie schüttelten dem Kandidaten die Hand, nahmen ihre Handkoffer und stiegen die Landebrücke hinauf. Ich blieb stehen, an den Augen des Kandidaten hängengeblieben. Die Guttempler betrachteten leicht mißtrauisch seine weiße Mütze, die nicht eben von Nüchternheit zeugte.

»Dozentin Gran ...«, begann er, ein wenig linkisch und dümmlich. Ich wollte ein »Kandidat Månson« lispeln, blieb aber stumm. Er wiederholte meinen Namen und Titel, und ich war verwundert, daß er so jung war und dennoch ein erwachsener Mensch.

»Gabriel ...«, sagte ich, doch kein Ton kam aus meinem Mund. Da streckte er die Arme nach mir aus. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und spürte den Parfümduft. Dann umarmte ich ihn sehr hastig, als wäre ich seine Tante, und hörte zugleich den ganzen uns umgebenden Spektakel. Der Puls hämmerte. Das Blasorchester lärmte. Unsere Koffer wurden an Bord gehievt. Die Sirene des Dampfboots zeigte die Abfahrt an. »Lissie!« rief Choice. »Komm!«

Im nächsten Augenblick stand ich an der Reling, winkte hastig und wandte mich ab, als bedeute der Abschied rein gar nichts. Mein Gesicht schien von lästiger Röte. Die Stimmen der Reisenden schwirrten durcheinander. Einige Männer hatten sich offenbar von den Guttemplern inspirieren lassen und stimmten »Blühende Täler so schön« an. Wir bekamen Fahrt, und der Wind packte zu. Vermutlich war er es, der meine Augen tränen ließ. Als ich über die Schulter schielte, sah ich nur einen weißen Fleck, es mußte der Wagen sein. Ich putzte die Brille mit einem Zipfel des Halstuchs.

Wir spazierten damenhaft über Deck und fanden einen Platz im Schatten. Die noble Welt von Finspång musterte uns interessiert und arrangierte ihre Hüte, als das Boot die Richtung wechselte. Thea stellte das Arsenal zwischen die Knie, zündete sich erneut eine Zigarette an und nahm unser Verzeichnis über die bereits bekannten Briefe zur Hand.

»Dreizehn Stück an Erik Benzelius d. J., kann das stimmen?« fragte sie. »Begonnen 1710.«

»Ja«, erwiderte ich und fügte hinzu: »Es gibt auch einige von Elias Brenner. Vielleicht sind sie es wert, angesehen zu werden.«

»Da geht es sicher nur um Numismatik«, meinte Choice. »Was denn sonst bei Männern!«

Ich bemerkte, mir erscheine Assessor Brenner richtig angenehm. Das hätte ich natürlich nicht sagen sollen, denn jetzt begann das Frotzeln: »Jedenfalls war er kein Student«, sagte Choice.

Thea warf mir einen ihrer Blicke zu, der in dechiffrierter Form bedeutete, ich würde mich zuweilen etwas unpassend aufführen. Choice ging zum erneuten Angriff über, und wir ernteten Blicke unserer Banknachbarn. Da mischte sich Thea ein und brachte uns zur Ruhe: »Nun, den Kandidaten dürftest du in nächster Zeit wohl kaum zu Gesicht bekommen. Benzelius war doch wohl einer dieser Kulturfreunde unter Karl XII.?«

Beide nutzten wir freudig die Gelegenheit, uns gegenseitig kleine Vorträge über karolinische Kulturkoterien zu halten und verbreiteten uns lang und überschwenglich über Benzelius’ Bedeutung. Theas Eingreifen in unseren Streit war wie ein Lichtpunkt im nächtlichen Dunkel, wie eine Quelle im undurchdringlichen Urwald. Erst als wir in Skärblacka anlegten, verstummten Choice und ich; da hatte sich unsere Freundschaft vom Eindringen der Männerwelt erholt.

Nach Kimstad zu reisen ist kein Vergnügen, und nach Linköping weiterzufahren war auch nicht besser. Ein wenig traurig war ich schon. Im Hotel wartete ein Brief von Balle Bondeson, in dem er erklärte, er glaube, Geijer sehr gut zu verstehen trotz Ermangelung von Ehefrau, Wahnsinn und Reichstagssitz, doch könne er nicht ausschließen, die Sache in anderem Licht zu sehen, wenn er jemals derartige Accessoires erwürbe. Daß ich die Brenner verstehe, war für ihn selbstverständlich, und die Ideen vom Kinderkriegen hielt er für Dummheiten. Die Umstände, unter denen die Dichtung der Brenner entstanden war, spielten doch wohl keine größere Rolle! Auch du, mein Balle ...

Das Gymnasium war leer und wirkte kalt und staubig, wie Schulen in den Ferien für gewöhnlich. Wände, Bänke, Ecken und Winkel, alles roch nach Schule und weckte Erinnerungen an jene Zeit. Nicht fröhliche Erinnerungen tauchten auf, sondern all die Unbeholfenheit, die Angst, etwas Falsches zu sagen, und das Gefühl, die Kleidung wäre stets von falschem Schnitt, egal, wie richtig sie schien. Thea blickte zu den ehrwürdigen Stuckarbeiten auf und fragte sich laut, warum in aller Welt sie die Ferien in einer Schule verbringen müßte.

Ein mißgelaunter Hausmeister empfing uns und führte uns zum Bibliothekar, der keinen Hehl daraus machte, an einem solchen Tag wie dem heutigen nur zu gern auf den Roxen zum Angeln zu wollen. Er war kein alter Mann, doch seine Gestalt schien vom Leben in der Bibliothek geprägt: grau wie Bücherstaub in Kleidung und Gesicht, als einzige Farbe in all der Düsternis blaßblaue Tintenflecke auf den Wechselmanschetten. Als er im Katalog nachschlug, glichen seine Augen denen eines Barsches, den man soeben mit gebrochenem Genick ins Boot geworfen hatte.

Bei Sonnenschein beißen sie schlecht, doch sagte ich es nicht laut.

Hier in Linköping hatten pedantische Schulbibliothekare gewirkt, keine sorglosen Freiherren. Benzelius’ Korrespondenz war geordnet nach Jahren in dicke Bände gebunden, und es kostete viel Zeit, in jedem Folianten den richtigen Brief zu finden. Im Unterschied zu den Hochhauer-Briefen waren sie jedoch weder besonders lang noch sonstwie merkwürdig. Uns begegnete das gelehrte Weibsbild, das oft in lateinisch schrieb, zuweilen auch französisch, und die für das Interesse des gelehrten Herrn Bibliothekars an ihrer Dichtung dankte. Von häuslichem Leben und Kleinkindern war kaum etwas zu spüren. Beim Himmel, schließlich schrieb sie an einen Mann.

»Schau, jetzt kann Assessor Brenner nicht kontrollieren, was sie schreibt!« rief Choice und schlug einen Brief vom 3. Februar 1717 auf. Der Gatte war tot, und die Finanzen der Familie schlechter als je zuvor.

Edler und hochgelehrter Herr Professor und Bibliothecarius! In Ansehung der Freundschaft und Vertrautheit, die der hochgelehrte Herr Professor allzeit meinem seligen Gatten erzeiget hat, nehme ich mir die Freiheit, mit ergebenen Worten Ihnen meinen Sohn Carl Brenner zu recommendiren, der dem hochgeschätzten Herrn Professor dieses Schreiben eingehändigt. Indem das Stipendium Stieglerianum einzig auf arme Studierende gerichtet ist, versagen mir Trauer im Herzen und Scham, so ganz und gar auszudrücken, wie sehr er zu dieser Klasse mit vollem Rechte zu zählen ist. So man schon zu Lebzeiten seines seligen Vaters nicht vermochte, ihn auf die Academie zu entsenden, obgleich er große Lust und Neigung zum Studieren verspüret, so ist es mir jetzo noch viel weniger möglich, welches ich mit gramvollem Herzen beklage. Daher überreiche ich Ihnen, edler und hochgelehrter Herr Prof., mein ergebenstes Gesuch, daß es Ihnen gefallen möge, mittels Ihrer hochgeschätzten Recommendation für meinen armen Sohn einzutreten, was diesen Jüngling gleich mir zu unaufhörlicher Dankbarkeit, Ehrerbietung und Dienstschuldigkeit auf ewig verpflichtet und ich mit aller Verehrung zeit meines Lebens verbleibe

des edlen und hochgelehrten Herrn Professors

und Bibliothecarius

Gehorsamste Dienerin

Sophia El. Brenner

Stock: d. (3. Febr. 1717)

Unser Bibliothekar brachte uns die letzten Bände. Sein Körper war zusammengefallen, und die Knie schienen auf dem Boden zu schleifen. Doch obgleich er klein und schwächlich war, trug er Berge von Handschriften, alle voluminös und gebunden. Seine Arme wirkten unnatürlich muskulös, verglichen mit dem Rest des Körpers. Wir kopierten, so rasch wir vermochten. Unsere Reflexionen hielten wir soweit wie möglich zurück, doch konnten wir unsere Sorge ob des einundzwanzigjährigen Carl Brenner nicht verschweigen, der wegen der Armut der Familie an Universitätsstudien gehindert war.

Der Bibliothekar blieb uns im Nacken, die Hechte des Roxen spukten in seinem Kopf. Die gutentwickelten Arme wurden Fischflossen immer ähnlicher, und das graue Gesicht schrumpfte zum Fischkopf – doch nicht zu dem eines Hechts, sondern im Höchstfall dem eines Barsches.

Der junge Carl Brenner wurde in mehreren Briefen erwähnt, und am 7. Mai desselben Jahres bat die Brenner »den mir wohlgesonnenen, hochzuverehrenden Hr. Prof., wenn ein Stipendium entweder des sel. Stieglers oder eines anderen für einen Studierenden unvergeben sei, der mit eigenen Mitteln nur wenig oder gar nichts vermag, um an der Academie sich aufhalten zu können, bitte ich ergebenst, mein Sohn Carl möge hierbei Berücksichtigung finden«. Las man dergleichen, war es schön, das Fazit in Händen zu halten. Wir wußten, daß Carl schon recht bald als Auskultant beim Höchsten Landesgericht von Svealand eintrat und sein Leben als Richter in Västmanland beschloß.

Die Briefe reichten bis 1728, und meist bewegten sie sich in gleich niedriger, doch menschlicher Sphäre. Geldprobleme standen im Zentrum, und die Brenner tat ihr Möglichstes, um sich der Bibliothek des Gatten zu entäußern. Stets bat sie um Verzeihung, daß sie mit Lappalien behellige.

Obgleich ich die Briefe in Ekesta erfreulicher fand, begriff ich den Wert der hier vorhandenen. Man erfuhr von literarischen Kontakten der Brenner, dem ganzen Netz hochgestellter Persönlichkeiten, die an ihrer Stellung im literarischen Leben jener Zeit Anteil hatten. Vielleicht sollte ich einen Miscellanceartikel über die Sache publizieren, ehe mir irgendein Professor zuvorkam.

Der letzte Brief drückte Bedauern aus, da sie nicht daheim gewesen sei, als ihr Wohltäter einen Besuch abstatten wollte. Ich kopierte ihn, und kaum hatte ich den Stift niedergelegt, als der Bibliothekar den Band schon aufgenommen und zugeschlagen hatte.

»Bei Anbruch der Nacht beißen sie gut«, sagte ich, und er starrte mich wütend an. Die Zähne im Unterkiefer ragten immer weiter hervor. Ich begriff, daß wir hier nicht den gleichen Erfolg erzielt hatten wie in Ekesta, und versuchte die Sache zu bemänteln, indem ich für die Hilfe dankte, die man uns trotz der Störung mitten in den Sommerferien gewährt hatte. Der Bibliothekar starrte mich an, und ich starrte zurück. In der Luft zwischen uns war kein Funke, nirgendwo ein Punkt, an dem wir uns begegneten. Vielleicht hatte er überhaupt aufgehört, Luft zu verbrauchen. Thea und Choice verstauten die Papiere im Arsenal. Ich unternahm einen letzten Versuch: »Eine wunderbare Landesbibliothek haben Sie hier in der Schule. Was für Sammlungen, was für Donationen!«

»Schon möglich«, brummte der Bibliothekar. Er war offenbar am Roxen hängengeblieben. Griesgram, dachte ich.

»Dann sind wir fertig. Vielen Dank für die Hilfe«, sagte Thea; wir gaben dem Bibliothekar die Hand und betraten die dunklen Flure des Gymnasiums. Ich fand vor allem, es rieche dort nach Mann, eine Art muffiger Jünglingsgeruch.

»Ich will einen Schnaps«, stöhnte ich. »Ich will zum Freimaurerhotel, möchte ein ordentliches Büfett mit Schnaps und dann ein großes unweibliches Beefsteak mit Zwiebeln!«

Das Männergeschlecht widerte mich an. Der Bibliothekar hatte sich als Vertreter einer Gattung erwiesen, die ich nicht begriff, und obendrein war er nicht gewillt, mit mir zu reden, obgleich wir scheinbar eine Sprache sprachen. Dabei hatte ich noch am selben Morgen an Kandidat Månsons Jackett gelehnt ...

»Ich habe doch gesagt, Männer sind widerwärtig«, meinte auch Choice.

»Du hast ja deine Gründe, das anzunehmen«, erwiderte Thea.

Ich aber mochte Baron Fabian trotzdem gern, auch Schlippenbach und meine Mitdozenten, ja sogar die meisten meiner Studenten. Wie die Brenner habe ich einen Vater, der mich stets ermuntert und unterstützt.

»Männer sind eine andere Gattung«, erklärte Choice.

Mich ekeln doch wohl auch keine Pferde, nicht einmal Hechte an, obgleich sie völlig anders sind als ich. Ich habe nichts gegen Finnen und Russen. Warum läßt mich ein einziger Griesgram von Bibliothekar beim Gedanken an das Männergeschlecht Ekel empfinden?

Wir gingen zu den Freimaurern und aßen ein ordentliches Mahl. Linköpinger mit glänzenden Wangen schielten zu uns herüber und murmelten etwas von Blaustrümpfen. Zum ersten Mal auf unserer Reise holte Choice ihren Notizblock heraus und bereitete einen Artikel vor:

Müssen frauen hungern?

Das schlanke, bleiche Frauenideal hält Schweden schon seit langem in seinen Fängen. Dieser Tage sah man drei Damen, keine von ihnen aufgedunsen oder fett, beim Diner im größten Hotel einer unserer Bischofsstädte. Gleich den meisten Umsitzenden leiteten sie ihre Mahlzeit mit Büfett und kleinem Schnaps ein, worauf zwei der Damen Beefsteak mit gedünsteten Zwiebeln verspeisten, und die dritte – eine Bekennerin des ganz und gar gesunden Vegetarismus – aß Spargel mit italienischem Käse. Im Unterschied zu den Umsitzenden waren jedoch diese drei Damen, o wie entsetzlich!, ohne männliche Eskorte! Den Abend lang wurden sie schmähenden Zurufen ausgesetzt, von denen »Blaustrumpf« noch der am wenigsten diffamierende war. Die jüngste von ihnen wurde obendrein mit einem höchst schamlosen Antrag bedacht, unterbreitet von einer Herrengesellschaft jenes Ordens, der als Eigentümer des Hotels fungiert. Rechnet man in der Provinz nur Männer zu Menschen? Erwartet man, daß Frauen sich zu Tode hungern?

Choice

In Linköping war der Flieder verblüht, und an den Büschen hingen nur noch verdorrte Rispen. Wir richteten unsere Schritte nach Süden, doch das ist eine andere Geschichte.

Die zehnte Göttin des Gesangs

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