Читать книгу Miss of the Match - Carina Isabel Menzel - Страница 12

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„Ich kann es immer noch nicht glauben.“ Kiki rutscht unruhig auf meinem Sofa herum und zupft nervös an ihrer Blumenkette. Sie hat mir als „Nervennahrung für später“ Kinderschokolade mitgebracht, von deren Packungen einem seit Neuestem die Nationalspieler als Kinder entgegengrinsen. Nur hat Kiki, wie es mir scheint, Nervennahrung um einiges nötiger als ich. Alle paar Sekunden schnellt ihr Blick auf ihre Uhr und sie wird von Minute zu Minute zappeliger.

Ich lehne mich zurück. Ich bin genervt. Sehr sogar. Seit heute Morgen sind alle Leute, denen ich begegne, furchtbar euphorisch drauf, hetzen herum und können keine Minute stillsitzen. Und alles wegen dieses blöden Eröffnungsspiels. Meine Wohnung ist leider näher am Stadion als Kikis und sie hat schon vor zwei Stunden geklingelt, um hier zu warten, damit ihr Weg nicht so weit ist. Sophie und Rafael haben, wie halb Berlin, vor dem Stadion gecampt, um einen guten Platz zu bekommen, und vor einer guten Stunde hat Sophie völlig aufgekratzt angerufen und in ihr Handy gebrüllt, dass gerade die deutsche Nationalmannschaft in ihrem Bus angekommen ist und sie es tatsächlich geschafft hat, alle auf ihrem Trikot unterschreiben zu lassen. Sophie steht auf die halbe Nationalmannschaft und schwärmt mir andauernd von ihnen vor. Eigentlich schaut sie Fußball nur wegen der Spieler - ich habe mich mit diesen Typen noch nie auseinandergesetzt, kenne sie eigentlich nur flüchtig aus der Werbung oder von diesen vermaledeiten Sammelkarten und finde sie auch nicht attraktiver als andere Männer, nur weil sie Fußballspieler sind.

Das gleiche Trikot wie Sophie, nur ohne Autogramme, trägt Kiki auch gerade, zusammen mit einer schwarz-rot-goldenen Perücke und Make-up in Deutschlandfarben, außerdem baumelt diese verdammte Blumenkette um ihren Hals, an der sie schon die ganze Zeit herumfummelt, als hinge ihr Leben daran. Noch eine halbe Stunde, dann wird sie aufbrechen und sich ins Getümmel stürzen.

Sven ist heute Morgen schon um sieben Uhr abgehauen, um sich mit Jens und Marc vor dem Stadion zu treffen, obwohl das Spiel erst um achtzehn Uhr beginnt. Aber was am meisten nervt: Die Nachbarn neben mir haben wohl keine Karten fürs Stadion bekommen und deshalb bestimmt zwanzig Freunde eingeladen, mit denen sie schon seit zwei Stunden am Durchdrehen sind. Ich kann mich also auf einen ziemlichen Krach gefasst machen, sobald das Spiel beginnt. Hoffentlich verliert Deutschland wenigstens, dann rasten sie nicht so aus und lassen mich in Ruhe.

„Kiki, beruhig dich. Ist doch nur ein Fußballspiel, Mann.“

„Aber was für eins, Cynthia! Sicher, dass du nicht doch mitkommen willst?“ Meine Freundin nimmt ihr Glas und trinkt es in einem Zug leer, dann steht sie auf und tigert im Zimmer umher.

„Ja, ich bin mir sicher. Brauchst du irgendwas zur Beruhigung oder so?“, grinse ich, aber Kiki ist schon auf dem Weg zur Toilette, um zum bestimmt siebzehnten Mal aufs Klo zu rennen.

Mein Gott, bin ich froh, dass ich nicht so fußballverrückt bin. Ich glaube, das ist eher ein Fluch als ein Segen, wenn ich mir die Leute so anschaue. Die Bäckerin heute Morgen hat mir mit zittrigen Händen die falschen Brötchen eingepackt, während sie mich verunsichert mit irgendwelchen Prognosen für das heutige Spiel vollgeschwatzt hat. Was hat man denn bitte für einen Spaß an der WM, wenn man die ganze Zeit zittern muss, ob das deutsche Team weiterkommt? Da ist es doch wesentlich entspannter, wenn einem völlig egal ist, wer Weltmeister wird. Emma sieht das übrigens genau so, sie nimmt sich die Spiele immer auf und schaut sie nur an, wenn Deutschland wirklich gewonnen hat, dann muss sie nicht die ganze Zeit bibbern, aber Hardcore-Fußballfans wie Kiki können sich das nicht leisten.

Diese kommt gerade von der Toilette zurück und nimmt ihre Jacke vom Sofa. „Ich haue dann mal ab“, verkündet sie und rückt die alberne Perücke zurecht. „Mach dir einen schönen Abend.“

„Danke“, entgegne ich und stehe auf, aber Kiki ist schon verschwunden.

Da will man sich einmal freiwillig um seine Bankgeschäfte kümmern und dann hängt das Internet. Genervt haue ich auf die Tastatur, aber der Computer steht still, ich kann nicht mal mehr die Sanduhr bewegen, die sich seit einer guten halben Stunde auf dem Desktop befindet. Seit das Internet wegen Überlastung abgestürzt ist und sich mein Browser erst wiederherstellen musste. Ätzend. Es hockt doch alle Welt im Stadion oder vor dem Fernseher, warum muss man dann noch im Internet nach den Ergebnissen schauen? Das Eröffnungsspiel hat vor einer Viertelstunde begonnen, und weil es in der Wohnung nebenan bis jetzt noch relativ still ist, gehe ich davon aus, dass noch kein Tor gefallen ist. Ist mir auch herzlich egal.

Ich schiebe meinen Laptop zur Seite. Das hat heute keinen Sinn mehr. Wenn sowieso niemand Zeit für mich hat, kann ich auch meinen Stoff für die Uni lernen. Demnächst sind die ersten Prüfungen und ich kam bisher noch nicht dazu, mir irgendetwas anzusehen.

Ich ziehe meine Unitasche heran und nehme die Ordner und Bücher heraus. Gerade habe ich meine Mitschriften aufgeschlagen und will mich daran machen, sie zusammenzufassen, als plötzlich meine Nachbarn und ihre Gäste so laut zu schreien anfangen, dass ich im ersten Moment furchtbar erschrecke. Bis mir kommt, dass wahrscheinlich ein Tor geschossen wurde. Warum sind die Wände nur so dünn? Die Leute da drüben schreien sich die Seele aus dem Leib, tröten lauthals und grölen irgendetwas, sie stampfen mit den Füßen auf den Boden und ich warte ungeduldig, bis sie sich einigermaßen beruhigt haben und der Lärm abebbt. Von draußen dringt Gehupe bis zu mir hoch, aber Verkehrslärm bin ich gewohnt.

Ich habe eine ganze Seite und ein bisschen geschrieben, als das zweite Tor fällt. Es ist inzwischen kurz vor Ende der ersten Halbzeit, wenn ich richtig rechne, und die Deutschen scheinen leider nicht schlechter zu werden, denn ohne Vorwarnung geht drüben wieder der Lärm los und ich lasse mich stöhnend zurücksinken. Offensichtlich sind meine Nachbarn jetzt auch nicht mehr gar so nüchtern, denn die Jubelschreie halten länger an und die Fangesänge sind mindestens doppelt so schief wie beim ersten Tor. Ich hoffe, dass die andere Mannschaft schon drei Tore oder mehr hat, dann würde Deutschland nicht gewinnen und meine Nachbarn würden wenigstens nicht bis spät nachts feiern und Lärm machen. Von Autokorsos und Partys auf der Straße mal abgesehen. Aber wenn ein gegnerisches Tor gefallen wäre, hätte ich das mitbekommen. Dann wären die da drüben sicher in die andere Richtung ausgerastet.

Eine ganze Weile habe ich jetzt meine Ruhe. Ich kann mehrere Seiten zusammenschreiben, nur ab und zu höre ich einzelne Flüche und Schreie oder eine Tröte, aber es stört mich nicht weiter. Zwischendurch merke ich, dass Halbzeitpause ist, denn ich höre Schritte sowohl in der Wohnung neben als auch über mir, Toilettenspülungen rauschen.

Rafael hat erzählt, dass die Arbeiter im Wasserwerk die Spiele anschauen müssen, um in der Halbzeitpause irgendeinen Knopf zu drücken, damit mehr Wasser in die Leitungen gepumpt wird, weil zu dem Zeitpunkt ganz Deutschland aufs Klo rennt. Kiki meinte, sie würde ihr Studium sofort abbrechen, um in einem Wasserwerk zu arbeiten („Ich mein ... hallo? Fußballschauen und dafür noch bezahlt werden, wie geil ist das denn?!“). Mir tun die armen Kerle eher leid.

Nach einer Viertelstunde kehrt wieder Ruhe ein, das Spiel geht weiter. Nicht lange, dann fällt offensichtlich das drei zu null. Ich bin gerade dabei, die verschiedenen Kreuzungsschemata leise vor mich hin zu murmeln, als es wieder laut wird. Ich werde aus meiner Konzentration gerissen und räume verärgert mein Zeug zusammen. Ich glaube kaum, dass es einen Sinn hat, heute zu lernen. So wie es aussieht, wird Deutschland gewinnen und dann wird es so laut sein, dass ich meinen Prüfungsstoff sowieso vergessen kann. Ist das nicht langweilig, wenn ein Spiel so früh entschieden ist?

Ich stehe auf und beschließe, ins Bett zu gehen. Dann muss ich mich später nicht über den Krach ärgern. Wenn ich schlafe, bekomme ich das einfach nicht mit.

Doch leichter gesagt als getan. Nachdem ich mich gerade ausgezogen und ins Bett gelegt habe, wird anscheinend mit Fäusten an die Schlafzimmerwand, die direkt an die Nachbarswohnung angrenzt, getrommelt. Auftakt zum nächsten Jubelgeschrei. Das kann ja wohl nicht wahr sein! Meine Nachbarn haben offenbar beschlossen, dass Deutschlands Sieg nichts mehr im Wege steht, und beginnen schon damit, die Siegerparty zu feiern. Na großartig! Ich schließe die Augen und versuche, den Lärm irgendwie auszublenden, aber es geht nicht. Ich zähle Schäfchen, höre Musik und singe laut mit, aber das Gejubel drüben ist lauter. Ich kann meinen iPod so laut drehen, dass er mich warnt, ich solle meine Ohren schonen ‒ meine Nachbarn übertönen die Musik immer noch. Ich verziehe mich mit meinem Bettzeug in die Küche, das von der Nachbarwohnung am weitesten entfernte Zimmer. Ohne Erfolg.

Irgendwann wird das Spiel ja hoffentlich vorbei und die Fans müde sein. Ich lege mich wieder ins Bett und sage Formeln auf, bis es mir schließlich gewaltig stinkt. Die Party ebbt einfach nicht ab. Entschlossen stehe ich auf, schnappe mir im Gehen meinen Bademantel, werfe ihn über und marschiere zielstrebig auf die Tür nebenan zu. Dort ist der Krach fast unerträglich. Im Hausflur stehen mehrere leere Bierkästen, über die ich fast stolpere, vor der Wohnungstür meiner Nachbarn liegen zwei Pizzakartons. An dem Geruch erkenne ich, dass sie noch gefüllt sein müssen. Kommt davon. Wenn man so laut feiern muss, bekommt man eben nicht mit, wenn der Pizzabote klingelt. Warum der dann so dumm ist und die Pizzen nicht für seine eigene WM-Party wieder mitnimmt? Ich schüttele den Kopf. Wahrscheinlich hat er so viel zu tun, dass es ihm auf das eine oder andere Trinkgeld nicht ankommt.

Dann werden sie wahrscheinlich auch mich nicht hören. Egal. Versuchen kann ich es ja. Entschlossen drücke ich den Klingelknopf, so fest es geht. Nichts passiert. Noch einmal. Wieder nichts. Wütend haue ich mit beiden Fäusten gegen die Tür. Nach drei Versuchen wird die Tür endlich aufgerissen, dröhnende Musik und laute Stimmen kommen mir entgegen wie eine Flutwelle. Automatisch trete ich einen Schritt zurück. Ein junger Mann, vielleicht so alt wie ich, mit beflecktem Trikot, schief sitzender schwarz-rot-goldener Lockenperücke und Bierflasche in der Hand steht mir gegenüber.

„Ahh, Pizza is da!“, lallt er und bricht in schallendes Gelächter aus. „Kommsu auch rein? Willsu mitfeiern?“

Ich kann nichts erwidern, denn in dem Moment springt ein mindestens genauso betrunkenes Mädchen, ich schätze es auf das gleiche Alter, von hinten auf den Rücken des Mannes und kreischt: „Deutschland ist Weltmeister!“

„Tut mir wirklich leid, aber ich finde den Lärm, den Sie veranstalten, nicht angemessen, wenn Sie verstehen, was ich meine“, versuche ich es, obwohl ich weiß, dass diese Menschen ganz bestimmt nicht kapieren, was ich meine.

Das Paar starrt mich einen Moment lang verständnislos an, dann kichert das Mädchen hysterisch, lässt sich vom Rücken des Mannes gleiten, fährt sich durch die langen blonden Haare und hält mir seine Bierflasche hin. „Komm rein und schau den Rest vom Spiel mit uns an.“

Ich schüttele verärgert den Kopf. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie etwas zu laut sind. Ich würde gerne schlafen und ...“

Bevor ich meinen Satz zu Ende führen kann, drängelt sich Luisa, meine Nachbarin, die das Ganze hier organisiert hat, zwischen den Menschen hindurch. Sie ist immerhin schon Mitte dreißig und betrinkt sich nicht mehr ganz so haltlos. „Cynthia?“ Auch sie trägt ein Trikot und hat auf den Wangen Klebetatoos in Deutschlandfarben, etwas genervt schiebt sie die albern kichernde, junge Frau zur Seite. „Ist etwas?“

Ich komme mir unter ihrem besorgten Blick vor wie ein kleines Mädchen, das alleine daheim ist und die Anweisung bekommen hat, wenn es unter dem Bett spuke, sich an die liebe, nette Nachbarin zu wenden, die sicherlich helfen werde, die Gespenster zu vertreiben.

„Es ist sehr laut“, meine ich verärgert. „Ich würde gerne schlafen und ... ich habe morgen eine wichtige Prüfung“, füge ich flunkernd hinzu.

Luisa runzelt die Stirn. „Oh, das ... das tut mir wirklich leid, aber ...“ Sie sieht etwas ratlos aus. Als wolle sie sagen: „Ist ja schön und gut, dass du morgen deine Prüfung verkackst, aber wir wollen hier nun mal eine WM-Party feiern.“ Fehlt nur noch das Schulterzucken. „Muss halt sein.“

Ich schnaube entrüstet, bevor mir einfällt, dass sie gar nichts dergleichen gesagt hat.

Luisa sucht sichtlich bemüht nach irgendetwas Zuversichtlichem, das sie mir mitteilen kann. „Vielleicht kann ich meinen Gästen sagen, dass sie etwas leiser ...“

Von wegen. Plötzlich schwillt der Lärm wieder an und ich denke mir, dass die Gegner der Deutschen ja wohl nicht so blöd sein und noch ein Tor reinlassen werden, aber irgendwer brüllt: „Vier zu null!“, und mir wird klar, dass das Spiel vorbei ist, die Party allerdings gerade erst richtig anfängt. Schließlich muss man jetzt den Sieg feiern. Autohupen dringen von draußen herein. Irgendwer schmeißt eine Luftschlange in Deutschlandfarben direkt vor meine Füße und im Hintergrund sehe ich vier oder fünf trikotbekleidete Typen in einer Polonaise durch den Flur trampeln, während sie in einer völlig falschen Tonlage die deutsche Nationalhymne grölen.

Ich sehe ein, dass es wirklich keinen Zweck hat. „Ist okay. Vielleicht werde ich jetzt leichter einschlafen.“ Ich ringe mir ein falsches Lächeln ab. „Jetzt wo die größte Aufregung vorbei ist.“ Ich drehe mich auf dem Absatz um und gehe zurück zu meiner Tür.

„Gute Nacht!“, ruft Luisa mir noch hinterher, bevor sie die Pizzakartons reinholt und die Tür schließt.

Der Lärm wird augenblicklich etwas gedämpft, aber nicht lange und er kommt mir wieder genauso laut vor. Langsam beginnt mein Kopf zu dröhnen. Ich lehne mich entnervt und verzweifelt gegen die Wohnungstür. Diese WM macht mich jetzt schon krank.

Miss of the Match

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