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„Kiki, ich hör dich nicht, ich bin auf dem Weg zur Bahn, verdammt!“

Das Hupen eines Autos direkt hinter mir verschluckt die Antwort meiner besten Freundin. Ich zwänge mich, das Handy an mein Ohr gepresst, durch den dichten Berufsverkehr in Richtung Bahnhof Zoo. In drei Minuten geht meine Bahn, und wenn das Gedrängel auf der Straße vor mir nicht bald lichter wird und sich für mich irgendwo eine Möglichkeit ergibt, zwischen den ganzen hupenden Autos hindurch einen Weg auf die andere Straßenseite zu finden, kann ich zwanzig Minuten dumm rumstehen und auf die nächste warten.

„Kiki, hör mal, ruf mich später noch mal an, ich ...“

Ha, jetzt. Eine Lücke. Ich beeile mich und hetze auf die andere Straßenseite, ohne die verärgerten Gesichter der Autofahrer zu beachten. Auf dem Gehweg angekommen werfe ich einen Blick auf die Uhr und beschleunige meine Schritte. Noch zwei Minuten.

„Ich wollte einfach wissen, ob du heute Mittag mitkommst!“, brüllt Kiki mir ins Ohr.

Ich beachte die rote Ampel zwischen mir und dem Bahnhofsgebäude nicht und beginne zu rennen, klemme mir das Handy zwischen Schulter und Ohr und krame gleichzeitig in meiner Tasche nach dem Ticket. „Kommt drauf an, wohin“, antworte ich und quetsche mich unsanft durch eine Gruppe Rocker, die den Eingang blockiert. Einer pfeift mir hinterher, doch ich beachte ihn nicht.

„Na ja, ich muss noch ein paar Einkäufe erledigen ...“ So wie Kiki klingt, weiß sie genau, dass ich absagen würde, wenn ich wüsste, was für Einkäufe sie wirklich zu erledigen hat. Wahrscheinlich wieder irgendeine Messe, auf die niemand mitwill und die wieder an mir, ihrer besten Freundin seit der zehnten Klasse, hängen bleibt. Na danke.

„Von mir aus. Ich ruf dich in einer halben Stunde noch mal an.“

Ohne auf Kikis Antwort zu warten, beende ich das Telefonat, stecke das Handy in meine Hosentasche und komme gerade rechtzeitig zum Bahnsteig, als die Bahn abfährt.

„Mist“, fluche ich und lasse mich auf einen der blauen Metallsitze sinken, die jetzt, da fast alle Passanten in der Bahn sind, endlich mal frei sind.

Neben mir sitzt eine kleine Gruppe Teenagermädchen mit Schultaschen, die sich zu viert über eine Zeitschrift beugen. Zwei kichern unentwegt, während eine andere nur leicht gelangweilt danebensitzt und frustriert wirkt. Die vierte, die das Heft in der Hand hält, zählt etwas an ihrer Hand ab und ruft jetzt genervt: „Jetzt seid doch mal leise, Mann, ich muss mich konzentrieren!“

Ich lasse meinen Blick zu dem Heft wandern. Welche Spielerfrau wärst du?

Oh Gott, Himmel hilf. Ich schüttele nur den Kopf und sehe wieder weg. Mein Blick bleibt an einer riesigen Werbetafel hängen, die mir gegenüber über den Gleisen hängt. Chipswerbung. Und dem Trikot nach zu schließen, ist der Typ, der die Tüte Championchips breit grinsend in die Kamera hält, einer der deutschen Fußballspieler.

Das bemerkt wohl auch gerade das frustrierte Mädchen neben mir, die wahrscheinlich nicht als Spielerfrau ihres Lieblingsspielers auserkoren wurde, denn auf einmal wird sie ganz aufgeregt und macht ihre Freundinnen auf das Plakat aufmerksam, die daraufhin in ein dreistimmiges hysterisches „Oh, mein Gott!“ ausbrechen.

Es wird mir zu dumm. Ich stehe auf und stelle mich zu einer Reisegruppe Senioren, die etwas weiter abseitsstehen. Vielleicht nerven die mich nicht mit ihrem Fußballgetue.

„Das schaffen die nie, ich sag’s dir. Im eigenen Land mit so einem Trainer. Ich sag’s dir, Adelheid, damals 1974 ...“

Das gibt’s doch nicht! Am liebsten hätte ich geschrien. Entschlossen packe ich meinen iPod aus, um für den Rest der Wartezeit etwas anderes zu hören.

„Noch zwei Tage, meine Herrschaften, ist das nicht ein wunderbarer Gedanke?“ Professor Schelm strahlt die Menge gelangweilter Studenten an, die sich jetzt, da er von seinem eigentlichen Thema, der Translation der Aminosäuren, abgeschweift ist und auf die Weltmeisterschaft zu sprechen kommt, in ihren Bänken etwas aufrichten und interessiert nach vorne zum Rednerpult sehen. Nur ich werde noch gelangweilter. „Die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land“, der Professor streicht seinen weißen Kittel glatt, den er eigentlich nur anhat, um schlauer zu wirken, „ist eine Ehre für uns alle, nicht wahr? Es ist mit das größte Ereignis in eurem bisherigen Leben, oder? Ich meine, die WM wurde natürlich schon in Deutschland abgehalten, aber es ist doch einfach wunderbar, sich auf ein derartiges Ereignis freuen zu können, habe ich recht?“

Auf allen Seiten wird begeistert auf die Tische geklopft. Professor Schelm tritt hinter seinem Pult hervor und fährt sich durch die wenigen silbergrauen Haare, die er noch auf dem Kopf hat. Er rückt seine Brille zurecht und sein Blick wandert durch die Reihen.

„Wir alle werden natürlich hinter unseren Spielern stehen, nicht wahr?“

Das ist eine der Sachen, die ich an unserem Professor nicht leiden kann. Er muss sich immer erkundigen, ob er auch richtig liegt, egal, was er von sich gibt.

Zustimmendes Geklopfe und ein gerufenes „Aber hallo!“ sind die Antwort.

„Natürlich ist Fußball ein Sport und Sport ist anstrengend, auch für den Körper, oder?“ Er grinst nun übers ganze Gesicht und ich ahne schon, was jetzt kommt.

Jennifer neben mir offenbar nicht, denn sie beugt sich rüber, wobei ihre zehntausend Armreifen klimpern, und flüstert mir begeistert zu: „Endlich mal ein Thema, das alle interessiert.“

Ha, danke. Ihr betörendes Vanilleparfum hüllt mich ein und ich muss niesen.

„Gesundheit!“, kommt es aus mehreren Ecken.

Sie sind echt alle wach, kaum hat jemand das Thema WM angesprochen. Unglaublich.

Herr Schelm nutzt es aus. „Sie wissen gar nicht, was genau im Körper beansprucht wird, wenn er solchen Leistungen ausgesetzt ist, oder?“ Er hat seinen Vortrag beendet und begibt sich wieder hinters Pult, wo er seinen Zeigefinger anfeuchtet und eine Seite in seinem Ordner umblättert, bevor er uns wieder ansieht. „Doch genau das werden Sie jetzt erfahren.“

Ich muss grinsen und diesmal bin ich diejenige, die sich interessiert aufrichtet. Ich hab’s gewusst. Allgemeines Stöhnen macht sich breit. Die Studenten sinken wieder tiefer in ihre Sitze. Jennifer neben mir sieht ernsthaft beleidigt aus.

„Superüberleitung, Professor!“, erlaubt sich jemand, voller Ironie zu rufen.

Der Professor hebt die Schultern und tippt auf das Papier vor sich. „Wir sind hier schließlich nicht ausschließlich zum Spaß.“

Meine Füße sind eingeschlafen. Ich wackele mit den Zehen, um die Taubheit zu vertreiben. Kiki neben mir wippt ungeduldig auf der Stelle auf und ab.

„Können die nicht ein bisschen hinmachen?“, motzt sie. „Warum lassen die nicht einfach mehr Leute rein? Haben die Schiss, wir rennen uns da drin gegenseitig über den Haufen?“

„Es war deine Idee hierherzukommen“, gebe ich zurück.

„Zum Glück. Das hätte ich komplett vergessen.“ Rafael sieht von seinem Smartphone auf, auf dem er zum Zeitvertreib irgendein schwachsinniges Spiel spielt. Natürlich in der WM-Edition.

„Du hättest es spätestens dann gemerkt, wenn du am Sonntag ohne dagestanden wärst.“ Sophie lacht und wirft ihre Haare zurück. Auch sie wirkt ungeduldig und trommelt mit den Fingern auf den Pfeiler neben sich.

Ich muss ebenfalls grinsen. Normalerweise habe ich nichts dagegen, etwas mit meinen Freunden zu unternehmen, aber heute hätte ich gut und gerne daheimbleiben können. Trikots shoppen können sie auch ohne mich. Aber nein, ich muss unbedingt mit, als Beraterin. Meiner Meinung nach ist es sowieso völlig schwachsinnig, sich für neunzig Euro eines dieser unförmigen Dinger zu kaufen, mal davon abgesehen, dass man sie eh nie anziehen kann außer zur WM- oder EM-Zeit, ohne komisch angesehen zu werden. Und was hat man davon, wenn Deutschland tatsächlich gewänne, ein ungültiges Trikot mit einem Stern zu wenig auf der Brust zu besitzen? Okay, die Antwort meiner Freunde kenne ich sowieso: neues kaufen.

Schon alleine das hier würde mich davon abhalten. Wir stehen seit zwanzig Minuten in einer Schlange, die zweimal um das Gebäude herumführt, nur um in diesen Laden reinzukommen, der sich WM-Store nennt. Er hat bestimmt drei Stockwerke und extra zur Weltmeisterschaft mussten mehrere Geschäfte ausziehen. Jetzt hängen draußen Plakate von der Nationalmannschaft, dem Maskottchen und den Stadien, sodass man nicht ins Innere sehen kann. Kiki hat sich geweigert, ihr Trikot im Internet zu bestellen, weil sie Angst hat, es könnte nicht rechtzeitig zum Eröffnungsspiel da sein, deswegen sind wir hier und vor uns stehen noch mindestens dreißig Leute. Die Schlange scheint nicht kürzer zu werden und es darf immer nur eine begrenzte Anzahl Kunden in den Store, in dem übrigens nicht nur Trikots verkauft werden, sondern laut Kiki alles, was etwas mit der WM zu tun hat. Sie hat mir vorhin gesagt, dass sie sich geschworen hat, nur ein Trikot zu kaufen und sonst nichts, denn wahrscheinlich würde sie da drin verführt werden, alles einzutüten.

„Was wird hier eigentlich verkauft, wenn keine WM ist?“, frage ich in die Runde.

„Nichts. Dann lebt der Typ, dem das gehört, von seinen Zinsen“, antwortet Rafael, ohne aufzusehen. „Der ist der Einzige, der Trikots im Laden verkauft. Was glaubst du, was der für einen Umsatz macht?“ Ich schüttele den Kopf. Oh Mann.

Nach weiteren zwanzig Minuten sind wir endlich vorne in der Schlange und werden von einem Typen im Deutschlandtrikot eingelassen. „Willkommen im Paradies“, grinst er, hält die Tür auf und ich frage mich, ob er den ganzen Tag über überhaupt etwas anderes sagt und ob ihm dieses Dauergrinsen nicht langsam wehtut. Neben ihm steht ein als WM-Maskottchen verkleideter Mensch ‒ ein ziemlich lächerlicher, knallbunter Igel im Trikot ‒ und winkt affig.

„Alter Schwede!“, staunt Rafael, nachdem wir den Laden betreten haben.

„Oh mein Gott!“, kreischt Sophie begeistert, während Kiki einfach nur dasteht und sich überwältigt umblickt. Selbst ich bin für einen Moment sprachlos.

Das Geschäft scheint sich in die Unendlichkeit zu ziehen. Und alles, was man sich zu einer Fußballweltmeisterschaft nur wünschen kann, türmt sich um herum und vor mir auf. Angefangen bei Trikots. Die Kleidung von so ziemlich jedem Team der Welt ist hier zu finden, ordentlich sortiert nach Shirts, Hosen, Strümpfen, Trainingsjacken und Schuhen. Besonders teuer sind die Matchworn-Trikots, getragene Trikots der Nationalspieler. Hoffentlich sind die wenigstens gewaschen. Wahrscheinlich nicht. Das war’s auch schon mit bunt, sonst ist alles in drei Farben gehalten: Schwarz. Rot. Gold. Regale bis zur Decke voller Fanartikel. Flaggen fürs Auto und Überzieher für die Außenspiegel. Perücken in allen Größen und Formen. Etwas weiter hinten Wände voller Blumenketten. Noch weiter hinten Tröten und Kastagnetten, Pfeifen und Trommeln. Wir stehen auf Kunstrasen und direkt neben dem Eingang wird Torwandschießen, Tischkicker, Human Soccer oder FIFA angeboten, über etliche Fernseher flimmern Aufzeichnungen der deutschen Nationalmannschaft bei den letzten Weltmeisterschaften. Die Mitarbeiter tragen alle eigene Trikots mit ihrem Namen auf dem Rücken. Die Menschen sind beladen mit Fanartikeln, Kinder rennen begeistert durch die Gegend, schreien ausgelassen und wedeln mit ihren Errungenschaften.

„Wahnsinn“, haucht Kiki. „Los, sehen wir uns um.“

Im zweiten Stockwerk geht es genau so weiter. In Kühlregalen, die sich über die ganze Wand ziehen, stehen ordentlich Cola- und Bierdosen sowie -flaschen, signiert von den deutschen Spielern und Trainern. Überall Plakate und Pappaufsteller mit den einzelnen Typen in Trikots, die auf die Menschenmassen, die überall stehen und staunen, herabblicken. Das hier scheint eine Art Lebensmittelabteilung zu sein, denn etwas weiter hinten finden wir Gummibärchen, Kekse und alles erdenklich Essbare in Fußballform und Schwarz-Rot-Gold.

Ein Stockwerk höher gibt es Stuhl- und Sofabezüge. Bettwäsche. Handtücher. T-Shirts, sogar Cocktailkleider und High Heels in den Deutschlandfarben. Geräumige Umkleiden bieten Platz zum Anprobieren. Aus Hunderten Lautsprechern schallen Fußballlieder und WM-Hymnen und die ausgelassenen Besucher grölen laut mit.

Der vierte Stock ist noch geschlossen. Laut Kiki finden dort während der WM Public Viewing und anschließend (wenn das Spiel gewonnen wurde) Partys statt.

Wir verbringen mehrere Stunden nur damit, uns umzusehen und die einzelnen Dinge zu bestaunen. Ich bin völlig überwältigt von dem Ganzen, sodass ich komplett vergesse, dass es etwas mit Fußball zu tun hat. Sophie bringt mich sogar dazu, eines der Cocktailkleider anzuprobieren, von denen sie sich später eines kauft, und Kiki zwingt mich, ein Trikot anzuziehen und davon Bilder in der Umkleidekabine zu schießen. Als Beweis, dass ich auch mal ein Trikot anhatte.

„Wenn sie erst mal Weltmeister sind, wirst du stolz darauf sein“, behauptet sie.

Wir stehen ewig vor den Kühlregalen, weil meine Freunde exakt die Coladosen mit den Unterschriften ihrer Lieblingsspieler haben wollen, aber sie sind nicht die Einzigen, die die Regale aus- und umräumen, bis sie die richtigen Dosen gefunden haben. Die passenden Trikots sind schnell gefunden, und als wir am Abend das Gebäude verlassen, schleppen Rafael, Sophie und Kiki ganze Tüten voller Fanzeugs mit nach Hause - so viel zum Thema „Nur ein Trikot kaufen“.

Miss of the Match

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