Читать книгу Die Nacht gehört den Liebenden - Carina Obster - Страница 5

Drei

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Als ich mich endlich von den Bildern lösen konnte, ging ich die Treppe zur Küche hinunter. Mein Vater erschrak – auch er war mal wieder viel zu vertieft in seine eigenen Gedanken.

»Hey, was schleichst du dich denn so an?«

Ich konnte es nicht leiden, schon so früh am Tag meine eigene Feinnervigkeit vorgespiegelt zu bekommen, deswegen ging ich sofort zur Spüle und hantierte laut mit dem Wasserkocher herum. Mein Vater fragte nicht weiter nach und konzentrierte sich auf seine Zeitung. Dennoch schaute ich ihn verstohlen von der Seite an, um mich an die Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir zu erinnern. Das tat ich immer, wenn ich mich versichern wollte, dass ich wirklich so, wie ich war, existieren konnte; sah ich es in seiner Person quasi objektiv bestätigt, fühlte ich mich besser. Und gerade jetzt brauchte ich diese Selbstbestätigung sehr dringend, denn nur dann konnte ich mich annehmen, akzeptieren, wie ich gehandelt hatte und dass es richtig war.

Draußen sahen die Umrisse der Häuser kühl und grau aus, weil die frühe Herbstsonne bereits darauf schien. Hohe Fenster bildeten den Widerschein einzelner Wolken ab. Ich beschloss, mich nicht weiter einer aufkommenden lähmenden Trübsinnigkeit zu überlassen, mich stattdessen ganz von der Sonne füllen zu lassen, auch wenn das bedeutete, dass ich mein Gehirn aushöhlen musste. Die Gedanken würde ich, wie das fleischige Innere eines Kürbisses mit Fäden und Knoten, einfach hier in der Küche lassen; sollten sie doch dort weiterwuchern, ein unheilvolles Etwas auf dem Fensterbrett, mit dem sich dann die anderen herumschlagen konnten. Mein Vater warf mir einen Blick zu, als hätte er meinen Plan mitbekommen.

»Machst du für mich einen Tee mit?«

Ich wollte mich nicht länger aufhalten lassen und goß eilig das Wasser in die Kanne. Mein Vater wollte noch irgendetwas fragen, aber da war ich schon durch die Haustür verschwunden.

Die Sonne drückte sich scheu hinter den lichten Wolken herum. Sie war wie eine verschämte Tänzerin, die angewiesen wurde, auf der Bühne nicht viel zu tragen und nun notdürftig ihre seidenen Schleier um den Körper hüllte, um sich vor den Augen der Männer zu verbergen. Ich hätte sie gerne enthüllt und mich in ihrem Glanz erwärmt, ganz sanft hätte ich das getan, ohne sie zu verschrecken, und sie danach auch wieder hinter ihren Schleier zurücksinken lassen. Der ganze Tag besaß etwas Zaghaftes, die letzten Blüten erhoben sich blinzelnd ans Licht, die Vögel schlichen sich in die vom Regen übrig gelassenen Pfützen, in denen sie ihre eigenen müden Augen erblickten. An einem solchen Tag begann sich das dichte Geflecht aus alten Sorgen, Hoffnungen und Erwartungen unerwartet zu lichten und sich zu überschaubaren Strängen zu ordnen, deren Wurzeln man zu kennen glaubte. Ob sie wohl gerade ähnlich empfand, in ihrem weißen Zimmer, das von einer unbeteiligten schönen Natur umgeben war?

Nach dem Kuss kam sie mit zu mir nach Hause und wir verbrachten die Nacht miteinander. Wir redeten kaum ein Wort, unsere Körperteile fanden ganz natürlich zueinander, wie vorher unsere Lippen. So, als hätte jeder seine jeweilige körperliche Ergänzung im anderen, und zusammen würden wir ein perfektes Ganzes ergeben, so wie der Mond, dessen Scheibe sich draußen auf dem Wasser wellte.

Aber der Mond verschwand aus dem Wasser; und ich merkte, dass etwas fehlte. Ich neigte meinen Kopf zur Seite: Sie war nicht mehr da. An meiner linken Körperflanke, wo sie gelegen hatte, spürte ich nur einen dumpfen Schmerz. Ich war ein Tier, das im fahlen Mondlicht der ersten Morgenstunden vor sich hin blutete. Vögel kündigten den Tag an, aber ich war nicht bereit, ihn anzubrechen, ihm ein Stück für mich abzuringen. Man hatte mir abgetrennt, was zu mir gehört hatte.

Hätte ich damals gewusst, dass dieser Schmerz nur der Vorbote weiterer, noch verworrenerer Qualen sein würde, hätte ich seine Wurzeln vielleicht sofort aus meinem Herzen gerissen. So aber umhegte ich sie still. Trotz meiner schmerzenden Seite versuchte ich, mich aus dem Bett zu winden. Ich ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. An den Küchenwänden glitten die Lichter der Autos von der nahe gelegenen Schnellstraße entlang, von den Jalousien in kleine, schmale Stücke geschnitten. Das Licht flackerte und riss dann wieder ab wie ein Filmstreifen, so dass ich dachte, jemand wolle mir eine Geschichte vorführen. Ich setzte mich an den Tisch und betrachtete die Wand, bis sie stillstand und wieder weiß, sich unberührt ins Tagesleben einfügte.

Mir fiel ein, dass ich Bandprobe hatte. Die Aussicht darauf, Songs zu spielen, war fast das Einzige, das mich aus dem Haus locken konnte. Ich ging nach oben und packte meine dunkelrote E-Gitarre ein, die einsam an der Wand lehnte. Meine schmerzende Seite, so gut es ging, ignorierend, kletterte ich auf mein Fahrrad und verließ die Hofeinfahrt.

Im Grunde war es sowieso wieder höchste Zeit, dass wir an neuen Songs arbeiteten. Unser letztes Konzert war im September gewesen, und danach hatte sich jeder ein bisschen in der Winterruhe vergraben. In meiner Schublade häuften sich Textentwürfe und Tabulaturnotizen. Sie waren in tiefer Melancholie geschrieben worden, und wenn man sie nun an das Frühlingslicht hielt, würden sie wehmütig zu strahlen beginnen.

Unsere Band spielte Britpop, aber nicht nach dem Vorbild der Imitationen der Nullerjahre, die wiederum von naiven Vorstadtbengeln kopierten wurden. Auch nicht nach dem Vorbild der Beatles, die mittlerweile jeder Hardrocker prahlerisch als Einfluss angab. Wir waren Kinder der Neunziger, als die Popmusik bereits ihre Unschuld verloren hatte, aber noch nicht zur Hure geworden war. Als sie ihr süßes Heranwachsen genoss und sich aus dem Kleiderschrank ihrer Eltern täglich neue Klamotten zusammennähte. Von ihren Eltern hatte sie auch gelernt, nie zu viel Lipgloss aufzutragen, sondern lieber ungeschminkt daherzukommen. Wir mochten Blur und Pulp, aber auch die Pixies und Yo La Tengo.

Unser Sänger hieß Lukas, und wenn er nicht mit uns probte, saß er zuhause und malte. Sein großes Ziel war es, am Goldsmiths College in London aufgenommen zu werden. Er litt unter leichten manischen Episoden, die er mittlerweile so instrumentalisieren konnte, dass ihm dabei die erstaunlichsten Bilder gelangen. Man konnte leicht neidisch auf ihn werden, wenn man nicht wusste, dass die Kehrseite seiner manischen Phasen die Depression war.

Aida war unsere Bassistin. Sie war bei Hippie-Eltern aufgewachsen, die ihr früher Perlen in die Haare flochten. Aus Protest dagegen hatte sie sich in den letzten Jahren ihre Haare kurz schneiden lassen und begonnen, Gothic und New Wave zu hören. Sie sah beinahe schon aus wie Siouxsie Sioux.

Am Schlagzeug saß Mirko, in dessen Gesicht sich kaum einmal ein Muskel rührte. Er erzählte wenig von sich. All seine Emotionen schienen in seine Hände verlagert zu sein, die beim Schlagzeugspiel wie entfesselt über Toms und Becken wirbelten. Den meisten Bands fehlte ein guter Drummer, und wir waren froh, dass wir ihn hatten.

Ich bog in die Straße zum Anwesen von Aidas Eltern ein, in deren Garage wir probten. Man konnte hier wirklich von einem Anwesen sprechen; natürlich hätten es sich ihre Eltern niemals selbst gekauft, sie hatten es vererbt bekommen. Nach und nach hatten sie dann das alte Biedermeier-Interieur durch bunte Gardinen, Patchwork-Decken und Korbstühle ersetzt. Aidas Mutter hatte uns angeboten, unsere Proben in einem alten Zimmer im Haus selbst zu veranstalten, doch wir hatten uns ganz traditionell für die Garage entschieden. Außerdem befürchtete Aida, ihre Mutter würde sonst andauernd bei den Proben hereinplatzen, um uns irgendwelche Leckereien vorbeizubringen.

Aida war gerade dabei, ihren Bass zu stimmen, als ich in die Garage trat.

»Na, wo sind denn die anderen?«

»Mirko ist auf der Toilette und Lukas übt den perfekten Sprung ins Publikum…«

Mit einem amüsierten Lächeln im linken Mundwinkel nickte sie in Richtung des nachbarlichen Blumenbeetes, in das sich Lukas immer wieder mit theatralischer Geste rücklings fallen ließ.

»Du siehst aus, als hättest du schlecht geschlafen, meinte Aida und sah mich aufmerksam an.«

»Ich hab so gut wie gar nicht geschlafen.«

»Woran liegt’s?«

Ich war versucht, ihr meine Gefühlen preiszugeben, ihr meine Wunde an der Seite, die nun leicht zu brennen angefangen hatte, zu zeigen. Ihr Blick hielt mich fest, rüttelte und zog an den Türen zu meinem Inneren, doch da traten Mirko und Lukas in die Garage und ihr Blick ließ mich fallen. Die Türen klappten zu.

»Und, Benji, neue Texte von dir?«, fragte Lukas.

»Klar, da liegt ein ganzer Stapel in meiner Schublade zuhause.«

»Fine. Aber lasst uns erst mal ein paar alte Songs spielen, damit wieder Öl ins Getriebe kommt, ja?«

Wir entschieden uns für ein altes Cover, Leave Before the Lights Come On von den Arctic Monkeys. Das war früher der Song, mit dem wir uns am Ende der Gigs von der Bühne verabschiedeten. Ich hielt ihn für den stärksten Song der Monkeys, schwermütiger als vieles, was man sonst von ihnen hören konnte. Ich mochte auch das Video dazu, in dem eine Frau ihren Selbstmord ankündigt, um Männer auf sich aufmerksam zu machen. Sie wirft im passenden Moment ihren Schuh von einem Gebäude, und der Mann auf der Straße rennt die Stockwerke zu ihr hoch, um sie vor dem Sprung zu bewahren.

Als wir den Song anspielten, durchfuhr mich plötzlich die Erkenntnis, wie sehr er meiner eigenen Situation glich. „Well, oh, it isn’t what it was/She’s thinking he looks different today”… Bereute sie es, mit mir die Nacht verbracht zu haben? Sie war in der tiefsten Nacht verschwunden – um nicht der Enttäuschung im nüchternen Morgenlicht begegnen zu müssen? In meiner Seite klaffte ein wunder Abgrund, in dem es zu brennen begann. Es heulte und jaulte darin, wie die Gitarre, die ich spielte. Gefräßige Wölfe, die ich ausrotten musste, auch wenn ich mich dabei selbst auslöschte. Mir sausten die Ohren von dem Geräusch, und dann hörte ich plötzlich nichts mehr, alles war in Watte gepackt. Ich streifte mir in Zeitlupentempo den Riemen meiner Gitarre über den Kopf, ließ sie auf den Boden gleiten und rannte zu meinem Fahrrad. Die anderen blieben bewegungslos stehen, wie Pappfiguren.

Gleichgültig ließ ich mich über Steine und Vertiefungen in der Straße hinweggleiten, wollte nur noch in mein Bett stolpern. Ein Trauerrand aus Wolken war am Horizont. Meine Wunde war taub geworden, vielleicht hatte sich ja eine dieser weichen, kühlenden Wolken darauf gelegt. Es begann zu tröpfeln.

Ich schleppte mich über die Treppe nach oben und ins Bett.

Das restliche Wochenende verbrachte ich an eben diesem Ort und drängte meinen ganzen Körper um diese Wunde zusammen. Dabei hörte ich Mixtapes, die mich an alte Lieben erinnerten, alte Wunden. Die aber waren schon verheilt, man kratzte nur die Kruste weg und betrachtete die Struktur darunter, die wie ein altes Relief aussah. Diese Lieben hatten nichts mit der gegenwärtigen zu tun. Ich hatte immer versucht, mich nach dem Ende einer Liebe vor einer neuen zu schützen, aber nach einiger Zeit vergaß ich diese Vorsicht und stolperte und schlug mich blutig vor Leidenschaft.

Ein paar Mal rief jemand an, aber ich wollte nicht ans Telefon gehen. Die Möglichkeit, dass sie anrufen könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Sie wirkte wie jemand, der nie jemanden anrufen musste, der immer nur angerufen wurde. Doch ihre Nummer hatte sie mir auch nicht gegeben. Am Ende besaß sie gar keinen Wohnsitz mit Telefon wie alle anderen, sondern erschien am Abend, wenn alle Straßen dunkel und sie sichtbar wurde, und zog in Rauchschwaden durch die Stadt.

Nur, um mir die Zeit zu vertreiben, schaute ich auf mein stummes Handy, das noch auf dem Nachttisch lag. Keine neuen Nachrichten. Ich klickte in meine Notizen, die ich mir immer auf dem Handy machte, wenn ich mein Notizbuch nicht zur Hand hatte.

Da. Es sah zwar genauso wie die anderen Einträge aus, doch ich merkte sofort, dass eine andere Hand es getippt hatte. Eine fragile Hand, mit fliegenden Fingern:

Du weißt ja, wo du mich findest.


Die Nacht gehört den Liebenden

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