Читать книгу Die Nacht gehört den Liebenden - Carina Obster - Страница 6
Vier
ОглавлениеIch fühlte mich wieder wie mit Dreizehn. Der Sommer schien, jetzt, da ich mit der Schule fertig war, endlos vor mir zu liegen wie früher. Ja, er schien sogar noch endloser zu sein, denn danach erwartete mich nichts, dem ich verpflichtet war. Ich konnte auf die Universität gehen, oder ein bisschen Geld verdienen, oder einfach nur abwarten, was passierte. Das Leben war ein einziger, friedlicher Sommer, der Himmel nach allen Seiten offen und blau.
Ich setzte mich nach draußen in den grünen Klappstuhl, der unter dem Pfirsichbaum stand. Um mich herum wuchs üppiges Gras; mein Vater kümmerte sich nie darum, es zu schneiden, genauso, wie er auch seine Frisur wuchern ließ. Die Pfirsiche über mir waren noch nicht ganz reif und hingen in hellem, samtigem Gelb am Baum; an ein paar von ihnen entdeckte ich rosa Stellen, als wären sie schamhaft errötet.
Ich hatte meinen alten Plattenspieler mit nach draußen genommen, auf ihm spielte ich meine ganze alte Musik. Irgendwann hatte ich beschlossen, mir die Klassiker aus den Sechzigern und Siebzigern originalgetreu nur auf Vinyl zu kaufen. Ich legte eine Platte von Big Star auf, deren Sänger Alex Chilton nach einem Jugendhit mit seiner Vorgängerband nie mehr richtig erfolgreich wurde. Der Name stand also eigentlich im Gegensatz zum Status der Band; doch wenn man es sich genau überlegte, so waren auch die Sterne am Himmel niemals für alle und zu jeder Zeit sichtbar. Am Tag stand eine große, alles einnehmende Sonne am Himmel, die die Menschen ablenkte; in der Nacht sah jeder nur einen Ausschnitt des Sternenhimmels, oder aber es drängten sich sorgenvolle Wolken dazwischen. Man machte also den Stern, der einem zu einer melancholischen Stunde tröstend entgegenblinkte, zu seinem Lieblingsstern, so wie man eine Band, die einem in einer schwierigen Situation aus dem Radio entgegentönte, zu seiner Lieblingsband machte.
Welcher Stern Mia wohl begegnet war? Ich war entschlossen, sie heute aufzusuchen und danach zu fragen. Ich hatte nicht gleich gestern, als ich die Notiz gefunden hatte, hingehen wollen; sie hätte dann das Ausmaß meiner Sehnsucht bemerkt und diese Schwäche wollte ich nicht zeigen. (Wenn es mir schlecht ging, konnte ich mich den Menschen nicht mitteilen; in Gesellschaft anderer löste sich dieses Leiden, das zuhause in meinem Zimmer noch da war, einfach auf, ich bekam es nicht mehr zu fassen, geschweige denn, dass ich es in Worte fassen konnte. Mein Leiden war ein stilles, exklusives Privatvergnügen.) Außerdem grollte die Wunde in meiner Seite nur noch ein bisschen, Mias Notiz hatte sie ein wenig besänftigt.
Ich stellte den Plattenspieler lauter und ließ die Musik durch den Garten schallen. Heute wollte ich die wenigen Sonnenstunden, die meinem Gemüt vergönnt waren, auskosten. Glücklicherweise grenzten an unseren Garten auch keine Grundstücke mit Nachbarn, die stören oder sich beschweren konnten.
Nach ein paar Stunden klappte ich den Stuhl zu und ging mit dem Plattenspieler ins Haus zurück.
Als ich mit meinem Rad vor der Lagerhalle ankam, stand sie schon da. Ein Gefühl, als hätte ich ein Metallgewicht verschluckt, breitete sich in meinem Magen aus. Das Gewicht kam unten auf, und mir dröhnten die Ohren. Ich klammerte mich an mein Fahrrad und tat so, als müsse ich daran noch etwas einstellen. Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, ging ich auf Mia zu.
Da es noch nicht dunkel geworden war, konnte ich sie nun deutlicher als bei unserer ersten Begegnung erkennen. Ihre braunen Haare waren mit einem breiten Band zurückgeschoben und gaben den Blick auf ein herzförmiges, blasses Gesicht frei. Die dünnen Träger eines schwarzen Tops schnitten in ihre mageren Schultern ein; knochige Hüften hielten einen schwarzen Rock mit Punkten. Jetzt sah sie fast schüchtern aus; anstatt gelassen an der Wand zu lehnen, konnte ich erkennen, dass sie sich ganz leicht vor und zurück schwankte.
Ihre Augen waren nun nicht mehr schwarz, sondern von einem dunklen Karamell. Je nach Belieben würde sie das Karamell aufwühlen und umrühren und es wieder in den Sog verwandeln können, in den ich vor zwei Nächten gestolpert war.
Doch jetzt begrüßte sie mich nur mit einem schwachen „Hey…“. Es lief für mich alles auf die eine Frage hinaus, und ich wollte sie ausspucken, ohne noch länger darauf herum zu kauen. Doch sie würde sie wie ein schleimiges Etwas zu ihren Füßen betrachten und sich davor ekeln. Ich sagte stattdessen:
»Ich hab deine Nachricht gefunden.«
»Ich weiß.«
Meine Aussage war, wenn nicht abstoßend, so doch überflüssig gewesen; hätte ich die Notiz nicht entdeckt, wäre ich ja wohl auch nicht aufgetaucht. Vor ihr schien mir jedes Wort bedeutungslos zu sein, es war besser, so wenig wie möglich zu reden. Doch da fing sie selbst an:
»Hör mal, tut mir Leid, dass ich einfach abgehauen bin. Ich hab manchmal so meine Anwandlungen…« Sie richtete ihre großen braunen Augen auf mich.
»Kein Problem.«
Je länger sie mich anschaute, desto mehr krampfte sich das Lächeln in mein Gesicht ein.
»Und was hast du gestern gemacht?«
Schon wieder eine falsche Frage. Das klang ja, als wollte ich sie kontrollieren.
Sie lächelte.
»Wollen wir vielleicht mal zu den anderen rübergehen?«
Die anderen hatte ich noch gar nicht bemerkt. Wie beim letzten Mal standen sie um die Tonnen herum, diesmal nur ohne Gelächter. Ich hatte nicht gedacht, dass Mia überhaupt zu der Gruppe gehörte, weil sie immer so abseits stand. Später sollte ich begreifen, dass es diese Art anziehende Menschen gab, die in jeder beliebigen Gruppe aufgenommen wurden und trotzdem immer von außen auf das Geschehen blickten, wodurch sie wiederum von den anderen Mitgliedern mit verhaltener Distanz, aber niemals mit Verachtung betrachtet wurden.
Ich hatte keine große Lust, die anderen kennenzulernen, doch sie zog mich an ihrem dünnen Arm mit sich. In der Tischrunde öffnete sich artig eine kleine Lücke, in die wir hineinglitten.
»Na Mia, dein Neuer?« Ein Typ, dem die glatten schwarzen Haare beinahe über die Augen fielen, grinste mich an.
»Das ist Benji.«
Ich wagte einen schüchternen Gruß in die Runde. Ein Durcheinander von Hallos, nickenden Köpfen und aufblitzenden Zähnen antwortete mir. Soweit ich erkennen konnte, waren etwas mehr Männer als Frauen darunter. Alle waren dunkel gekleidet, mit schwarzen Leggings und Jacken. Es sah aus, als wären sie öfter nachts unterwegs und hätten das Gefühl für die Farben des Tages verloren. Sie würden in der Dämmerung aus ihren Höhlen kriechen und ihre bereitgelegten schwarzen Hüllen überstreifen. Mia wirkte in dieser Runde wie ein kleiner seidener Nachtfalter, der immer wieder nach oben ausbrach und über dem Geschehen schwebte. Ich wollte dieses zarte Wesen vor den anderen bewahren und flüsterte ihr ins Ohr: »Hast du Lust, noch woanders hinzugehen…«
Sie lächelte, ohne mich anzusehen, drehte sich dann zu mir und flüsterte spaßeshalber in mein Ohr zurück: »Na gut.«
Sie verabschiedete sich schnell von allen, während ich schon dabei war, mein Fahrrad zu holen. Wir verschwanden miteinander bis zum Ende der Gasse. Komischerweise war es mir jetzt noch wärmer als am Tag, als hätte die Dunkelheit einen Umhang, gefüttert mit der Leidenschaft und Ungewissheit eines Liebenden, um mich gelegt. Die Stimmen, die noch einen Augenblick vorher in voller Lautstärke erklungen waren, wurden leiser und tröpfelten in einzelnen Tönen vor sich hin, die das Dunkel verschluckte, so dass ich bald glaubte, die Stimmen hätten nur in meinem Kopf existiert. Alle Störfunktionen waren abgeschaltet, nur Mias Summen war zu hören, das leicht durch die Sommernacht schwebte.
»Weißt du, ich mag diese Tage, an denen sich das Wetter für die Extreme entscheidet. Es sollte entweder heiß sein oder stürmen und schneien. Aber alles dazwischen kann ich nicht leiden, wenn es so halbherzig dahinwettert und sich nicht anstrengen will… Oh, sieh dir nur die Häuser hier an!«
Ich hatte es auch bemerkt: Die Fassaden sahen aus, als hätte man Schuhkartons unterschiedlichster Farben übereinander gestapelt, da war tiefes Nachtblau mit goldenen Punkten über schlichtem Weiß, Quittengelb neben mediterranem Rot. Einige Stellen waren mir grünen Ranken überwachsen.
»Das ist doch das Hundertwasser-Haus!«, meinte ich.
»Hundert Wasser? Klingt schön…«
»Du kennst Hundertwasser nicht? Hast du das Haus hier noch nie gesehen?«
»Früher war ich nie so oft in der Stadt unterwegs…Wir sind auch erst später hier hergezogen…«
Ihre Augen bekamen einen abwesenden Ausdruck.
»Wir haben hierher mal einen dieser dämlichen Schulausflüge gemacht, versuchte ich die Situation aufzulockern. Die meisten haben das natürlich nur wieder als Anlass für eine Sauftour genommen… Hundertwasser forderte übrigens, dass jeder Mensch das Recht haben solle, auch die Außenwände seiner Wohnungen nach seinem eigenen Belieben zu gestalten.«
»Hier leben bestimmt sehr freie Menschen.«
Mia sah sehnsüchtig zu den Fenstern auf.
»Na ja, dort drin wohnen vor allem Sozialhilfeempfänger.«
Mia lachte und knuffte mich in den Arm.
»Sag ich doch!«
Dann lief sie davon, weiter die Straße entlang.
Wir waren in einer Straße angelangt, die von mehreren Klubs und Vergnügungslokalen gesäumt wurde. Menschen aller Couleur drängten sich vor den Eingängen, unter leuchtenden Reklameschriften. Auf der anderen Seite sah ich eine Gruppe Mädchen mit Cowboystiefeln und passenden Hüten stehen.
»Müssen wir hier wirklich durch?«
Mia kicherte.
»Ich fürchte ja, aber am Ende der Straße wartet eine Belohnung.«
Sie nahm mich an der Hand, und wie zwei Flüchtige schlängelten wir uns durch den Strom aus Männern mit Bierflaschen in der Hand, geschniegelten Poloshirtträgern und Mädchen mit Neontops. Als wir uns an den letzten Grüppchen vorbeigedrängt hatten, breitete sich die Straße leer und weit vor uns aus. Mia drehte sich zu mir und bevor ich mich noch auf irgendetwas einstellen konnte, spürte ich ihre dunklen Lippen auf meinem Mund. Ich atmete tief durch.
»War das die Überraschung?«
»Das war Teil Eins.«
Sie führte mich weiter die Straße entlang und hielt vor einer unauffälligen braunen Tür an.
»Das ist Teil Zwei.«
Hinter der Tür war die Nacht noch dichter als draußen. Die Wände sahen aus, als wären sie aus kaltem Stein gehauen worden. Die Tanzfläche im hinteren Teil war von einzelnen niedrigen, mit eisernem Efeu und Rosen verzierten Gittern eingefasst. Nur wenige Stroboskoplichter tanzten über den schwarzen Boden. Das gleiche galt für die Gäste – abgesehen von einer Frau, die sich ausgiebig mit dem Barkeeper unterhielt, waren wir die einzigen Personen. Ich musste schmunzeln:
»Du kennst also das berühmte Hundertwasser-Haus nicht, dafür aber sämtliche obskuren Bars dieser Stadt?«
Sie reagierte nicht auf meine Bemerkung und zog mich zur Bar.
»Zwei Granatäpfel, bitte.«
Sie drückte mir ein blutrotes Getränk in einem halbhohen Glas in die Hand.
»Probier mal, das ist der Trank der Unsterblichen, grinste sie. Und wir sind heute unsterblich, weil wir jung sind.«
Die Unsterblichkeit schmeckte zugleich süß und bitter, wie dunkle Beeren, und rann berauschend die Kehle hinab. Mia legte den Kopf in den Nacken, um die letzten Tropfen einzusaugen; die Kurve ihres Halses sah wie ein zierlicher Bergabhang aus. Mit einem Schwung stellte sie ihr Glas auf den Tisch vor uns und stürzte auf die Tanzfläche.
»Ich liebe dieses Lied!«
Es lief gerade ein düsteres Stück von Interpol; grünliches Licht flackerte dazu über den Boden und die höhlenartigen Wände. Und Mia begann, sich langsam im Kreis zu drehen, wie ein taumelnder Falter. Mia, mein Nachtfalter. Ich wusste noch nicht, dass sie wirklich ein flüchtiges Wesen war, das man eingesperrt hatte und dass nun immer wieder gegen die Wände und das Licht taumelte. Und dieses Hin- und Herflattern für die Unsterblichkeit hielt.