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Fünf

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Ich war auf dem Heimweg, und doch gab es hier Orte, die mich festhalten wollten. Solche Orte konnten sich nicht in der Stadt befinden, sie waren dort zu überlaufen und nicht verlassen genug; es gab immer ein Gebäude, das zu nah daran gebaut war oder Leute, die dort vorübergingen. Außerhalb der Stadt war das anders. Da war das Waldstück, in dem ich mich früher immer mit meinem Vater herumgetrieben hatte, der Hügel, von dem aus ich gerne die Gegend betrachtet hatte, die alten Bahngleise, bei denen ich mit Mia gewesen war.

Sie führten ins Nichts, diese Bahngleise; sie begannen beim Ostbahnhof der Stadt, in der Nähe meines Zuhauses, und verliefen sich dann in die Natur, bis sie von Heidekraut umschlungen wurden und in den grünen Boden hineinstachen. Es sah aus, als würden sie dort unterirdisch weiterlaufen, wo kein Mensch ihnen folgen konnte.

Mia und ich folgten diesen Gleisen eines Abends, als sie sagte, sie hätte keine Lust auf die Stadt. Wir erzählten uns von den Romanzen, die wir gehabt hatten, bevor wir einander kennenlernten.

Mia hatte sich vor einem halben Jahr von ihren langjährigen Freund getrennt, der Drummer in einer Band war; sie nannte ihn einen „Geistesgestörten“, der sie einfach habe fallen lassen.

»Davor war nicht viel los«, meinte sie, »die Schule war in der Unter- und Mittelstufe nur von Idioten bevölkert.«

»Ging mir genauso.«

Trotzdem konnte ich mir schwer vorstellen, dass niemand für dieses fragile Wesen wenigstens die Beschützerrolle hatte übernehmen wollen. Ich erzählte ihr von meiner Exfreundin, die etwas älter als ich gewesen war.

»Ungewöhnlich für eine Achtzehnjährige, sich in einen Jüngeren zu verlieben. Sie hat mich auf einige neue Dinge gebracht, vor allem musikalisch.«

Mia sagte nichts und stocherte mit ihren Blicken im Gras neben den Schienen herum.

»Sie war so der Belle and Sebastian-Typ, wahrscheinlich kannst du dir denken, was das heißt−«

Ihr Gesichtsausdruck schnitt mir den Satz in der Mitte ab.

»Ja, das heißt, dass du sie wohl gar nicht vergessen kannst!«

Mia lachte freudlos auf.

Mein betretenes Schweigen ließ einen zähen Klumpen aus Angst und Wut zwischen uns entstehen, der unsere ganze Kommunikation noch verlangsamte. Das „Nein“ aus meinem Mund klang wie aus einem kaputten Radio.

Mias Augen waren kalte, regenverhangene Täler. Sie drehte sich auf dem Absatz um und lief die Bahngleise in entgegengesetzter Richtung zurück.

Ich stürzte ihr nach, rief zaghaft ihren Namen. Nach wenigen Metern gab ich es auf. Es hatte keinen Sinn, ihr nachzulaufen; die Bäume neben den Gleisen standen schon schwarz vor dem nachtblauen Himmel. Sie würde sich nicht aufhalten lassen, so wenig wie in unserer ersten Nacht. Sobald der Tag wich, sog die Dunkelheit sie auf. Ich aber wollte nicht wieder alleine meinen Kopf auf mein Kissen legen und ging weiter in die andere Richtung, in die Dunkelheit hinein.

Ich war seltsam ruhig. Ich wagte es mir zwar kaum einzugestehen, aber die Tatsache, dass ich diesmal wusste, dass sie nicht wegen einer meiner eigenen Unzulänglichkeiten abgehauen war, machte mich so ruhig. (Das meinte man wohl damit, dass Liebe egoistisch war: Es hing so viel Eigenliebe daran, die der andere erst einmal zufriedenstellen musste.) Es gab mir die Chance, sie zum ersten Mal wie ein Insekt unter der Lupe zu betrachten, einige Beobachtungen zusammenzuführen, ganz abgelöst von meinen eigenen Gefühlen. Sie war nach außen hin nicht unbedingt verschlossen, aber bestimmte Situationen bewirkten, dass sie sich in sich zurückzog, als hätte man einen empfindlichen Fühler berührt. Man musste also herausfinden, wo diese Berührungspunkte lagen oder sie würde ein mystisches Wesen bleiben. Oder ein unkartiertes Gebiet, wie es in einem Song von The Divine Comedy hieß.

Und doch bewegte ich mich gerne durch unkartiertes Gebiet. Mein eigener Schatten war, genauso wie die der umstehenden Bäume, gespenstisch lang. Ich merkte unter meinen Füßen, wie die harten Schienen im weichen Waldboden verschwanden; ich hatte das Ende der Strecke erreicht. Eine Wand aus Bäumen stand vor mir. Für heute war es Zeit, zurückzugehen.

Als Mia sich auch die nächsten Tage nicht meldete, wurde ich unruhig. Ich verstand auf einmal, warum Liebe unmittelbar mit Einsamkeit zusammenhing; wenn man jemanden liebte, spürte man das Fehlen dieses Menschen umso mehr. Und alle Dinge und Situationen, sogar das Telefonieren mit dem geliebten Wesen, würden nur Zeichen seiner Abwesenheit sein.

Ich versuchte, meine Gefühle, da sie noch frisch waren und noch nicht verrotteten und mich vergifteten, für meine Songtexte fruchtbar zu machen. Dabei schaute ich ab und zu aus dem Fenster und zu den hohen Bäumen in der Ferne, die den Waldrand säumten. Zwischendurch hörte ich meinen Lieblings-Piratenradiosender „Shrunken Planet“, der viel Folk spielte. Wenn die Saiten in meinem Raum erklangen, hörte es sich wirklich an, als wäre der Planet auf meine vier Wände, und die Wiese bis zu dem Waldstück hin geschrumpft, die ich von meinem Dachfenster aus sehen konnte.

Irgendwann aber begannen die Gitarren gleichförmig auf mich einzudringen, die Wände schienen näher zu rücken. Meine vor einigen Stunden noch frischen Gefühle geronnen zu einem Sediment, das sich auf meinem Grund absetzte und mich träge machte. Ich griff nach dem Hörer neben meinem Bett; ich musste mit jemandem sprechen. Schon nach dem zweiten Klingeln hob jemand ab.

»Hallo Aida, hier ist Benji…«

»Hey! Du, wir haben aber heute keine Bandprobe, oder? Oder hab ich da was verpasst?«

Ich konnte förmlich hören, wie sie sich am anderen Ende der Leitung auf die Lippen biss.

»Nein, heute nicht.«, beruhigte ich sie. »Aber ich wollte fragen, ob ich trotzdem vorbeikommen könnte?«

Eine halbe Stunde später saß ich in einem Korbsessel neben Aida im farbenfrohen Hippie-Wohnzimmer ihrer Eltern. Aida war das weibliche Wesen, das bisher am längsten mit mir befreundet war; sie wusste Dinge über mich, die ich nie jemand anderem erzählt hatte. Wenn man sie so sah, mit ihren kurzen Haaren und ihren schwarzen Klamotten, konnte man sie für kühl und verschlossen halten; doch tatsächlich war sie ein einfühlsamer Mensch.

Ich erzählte ihr von Mia und was sich bisher in unserer Beziehung ereignet hatte. Aida starrte nachdenklich in eine Ecke des Zimmers.

»Deswegen bist du also bei der letzten Probe abgehauen? Benji, Benji, deine Frauengeschichten sind nicht gut für unsere Band.«, scherzte sie. »Aber mal im Ernst: Ich glaube, deine Mia hat irgendein Problem mit sich selbst. Hat sie dir viel von sich erzählt?«

»Nein, nicht wirklich. Darüber reden wir nicht so oft. Wir reden überhaupt gar nicht so viel.«

»Kann ich mir denken, wenn sie so 'ne Träumerin ist wie du. Aber du solltest sie mal direkt darauf ansprechen, was mit ihr los ist. Sonst steckst du ewig in dieser emotionalen Achterbahn fest. Was willst du jetzt eigentlich machen, wieder zu diesem Treffpunkt da gehen?«

Ja, was sollte ich tun? Ihr hinterher laufen oder warten, bis der kleine Falter von allein zu mir zurückgetaumelt kam, mit seinen leicht lädierten Flügeln, die nervös hin- und herflatterten?

Einen Tag später jedoch erübrigte sich die Frage. Ich lag dahindämmernd auf dem Bett hinter verschlossenen Jalousien, da vibrierte plötzlich das Handy auf meinem Nachttisch. Ich war sofort hellwach und griff auf die Tischfläche. Meine Fingerspitzen stießen gegen das Handy, ohne dass ich es zu fassen bekam, es rutschte über den Tisch und flog auf den Boden. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es nur sie sein konnte. Und sie drohte mir wieder zu entgleiten, wieder fern zu werden, wenn ich nicht schnell genug war. Ich ließ mich über meine Bettkante nach unten auf den Boden fallen und griff stöhnend hinter meinen Kopf nach meinem Handy.

»Ja?«

»Hey…hier ist Mia.«

Jetzt, da ich tatsächlich ihre Stimme hörte, erschrak ich doch ein wenig, dass sie nun so nah war. Zugleich wurde ich mir meiner eigenen schwachen Lage bewusst, wie ich da telefonierend auf dem Boden lag und an die Decke starrte.

»Hey…« Meine Stimme klang anders auf dem Fußboden, sie vibrierte dumpf in meinem Brustkorb.

»Du, magst du vielleicht bei mir vorbeikommen? Ich bin ein bisschen krank…«, kam es schwach aus dem Hörer.

Die Erleichterung stieß mir die Worte fast aus dem Hals heraus: »Ja, mach ich gern!«

Ich fuhr mit der Straßenbahn in den Westen, quer durch die Stadt. Durch das rückwärtige Fenster entschwanden die Welt und das Gebäude aus Zweifeln und Depression, das ich über die letzten Tage hinweg aufgebaut hatte. Dabei war die Schwüle über der Stadt verschwunden, der Himmel war von leichten Regenwolken bedeckt. Einige Leute in der Bahn hatten ihre von der Hitze der letzten Tage erfüllten Körper sorgsam in Jacken geborgen.

An einer der letzten Haltestellen stieg ich aus. Nach einigen Reihen von Hochhäusern bog ich in eine Allee mit Bäumen ein. Mias WG war in einer Seitenstraße mit niedlichen Reihenhäusern. An einer Seite des Hauses befand sich ein überdachter Balkon; grüne Ranken zogen sich auf einem Spalier an der Hauswand nach oben. Ich musterte die vielen Klingelschilder am Gartentor – anscheinend hatte Mia einige Mitbewohner.

Ich sah eine dunkle Gestalt am unteren Fenster. Eine halbe Minute später öffnete sich die Haustür und Mia schlüpfte heraus. Sie trug einen groben dunkellila Bademantel, in dem ihre dünnen Arme fast verschwanden. In ihren Hauspantoffeln schlurfte sie zum Gartentor.

Sie fiel mir in die Arme und streichelte den Haaransatz in meinem Nacken; ich fühlte ihren kleinen Körper durch den Bademantel hindurch. Dann nahm sie mich an der Hand und zog mich hastig zum Hauseingang, wobei sie fast über ihre Pantoffeln stolperte. Ich verspürte den Drang zu lachen und wollte fragen, was los sei, da standen wir schon in der Diele und sie brachte mich mit einem Kuss zum Schweigen.

»Ich will einfach nicht, dass gleich alle mitbekommen, was los ist«, flüsterte sie.

»Zum Glück ist eh fast keiner da.«

Sie zog mich weiter durch den Flur zu einem offenen Zimmer. An der Wand hing so etwas wie ein Putzplan, auf den ich nicht weiter achtete.

»Komm, setz dich. Willst du was trinken?«

»Ja, danke, Wasser wär gut.«

Ich befand mich in dem Zimmer, das auf den überdachten Balkon hinausging; er enthielt eine altmodische Sitzecke, einen Sessel, einen Fernseher und einen Schrank mit CDs und DVDs. Mia kam mit einem Glas in der Hand wieder.

»Magst du dich nicht setzen?« Sie zeigte auf die Sitzecke.

»Hmm, ich dachte, wenn du schon krank bist, sollte ich dir vielleicht irgendwas kochen, Suppe oder so?«

Ich hatte noch nie für jemanden gekocht; im Grunde hielt ich mich nicht gerne in der Küche auf, dort gab es immer irgendetwas zu erledigen, zu dem ich keine Lust hatte.

»Weißt du was«, meinte Mia, »lass uns doch zusammen Suppe kochen. Mir geht’s auch jetzt schon wieder besser.«

Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar, das wie das ungeordnete Gefieder eines Vogels aussah. Ich musste ihr einfach verfallen sein, dachte ich, allein wegen dieser selbstvergessenen, kindlichen Gesten.

In der Küche blubberte auf dem Herd ein Topf vor sich hin. Mia hob prüfend den Deckel.

»Uuuh…das ist von meiner Mitbewohnerin, die macht gerne exotische Eintöpfe.«

Sie zeigte nach oben. Kurz unter der Decke klaffte ein tellergroßes Loch.

Mia kicherte: »Da ist mal ein Basketball dagegen gekracht. Seitdem werfen wir da aus Spaß alles Mögliche rein.«

»Wird das dann nicht irgendwann voll?«

»Nein, es verschluckt einfach alles. Wir nennen es unser Schwarzes Wurmloch.«

Sie streckte sich nach oben zu einem Schrank und durchstöberte ihn. Der grobe Bademantel rutschte dabei nach oben über ihre winzigen Knöchel. Auf einmal begann sie zu lachen.

»Wir haben hier Hühnersuppe von Omas Kochtopf von 2007.«

Sie warf eine Tüte auf die Linoleumplatte neben dem Herd und sah mich an.

»Also ich weiß nicht…« Ich wollte nicht, dass Mia noch kränker wurde als ohnehin schon.

»Hmm.« Ihre Augen funkelten. »Ich hab eine Idee, wie das Ganze zur besten Suppe wird, die du je gegessen hast!«

Mia nahm kurzerhand den Topf ihrer Mitbewohnerin vom Herd, stellte einen anderen auf die heiße Platte und schüttete das Suppenpulver hinein.

»Oh nein! Das Wasser!«, schrie sie auf und lief mit dem Topf zum Spülbecken. Lachend drehte sie die Hähne auf; der Wasserstrahl prahlte vom Topfrand ab und spritzte auf ihren Bademantel.

»Oh…hoppla!«

Sie stellte den Topf auf den Herd zurück und hastete wieder zum Küchenschrank.

»Und jetzt muss ich das noch verfeinern!«

Sie kramte in den Gewürzen herum und stellte verschiedene Tüten und Döschen in rascher Folge auf die Tischplatte. Dann nahm sie zwei in die Hände und begann, großzügige Mengen davon in die Suppe zu schütten. Mit ihrem wirren Haar sah sie aus wie eine kleine Hexe, die einen Zaubertrank zusammenbraute. Die benutzten Gewürze schleuderte sie in eine Ecke neben dem Herd. Als sie nach den letzten zwei Dosen griff, stellte ich mich hinter sie und hielt ihre Arme fest.

»Hey! Meinst du nicht, dass es genug ist?«

Sie kicherte und schmiegte sich an mich. Ich schlang meine Arme um ihren Körper und drückte einen sanften Kuss auf ihren vom Schlaf noch warmen Nacken. Sie schmiegte ihren Hintern an mein erwachendes Glied.

Dann nahm sie mich, ohne sich nach mir umzusehen, an der Hand und zog mich aus der Küche, den Gang entlang bis zu ihrem Zimmer. Sie legte sich mit dem Rücken zu mir aufs Bett und schob ihren Bademantel nach oben; darunter hatte sie nichts an. Ich öffnete meine Jeans und legte mich hinter sie. Als ich in sie eindrang, gab sie nur einen kurzen Laut von sich. Sonst hörte ich nichts mehr als meinen eigenen Atem, der noch schneller und lauter wurde, kurz bevor ich kam. Dann hörte ich nichts mehr. Bevor ich einschlief, sah ich die Buchstaben des Radiohead-Plakats über dem Bett vor den Augen.

Fitter Happier More Productive

Comfortable

Fond But Not In Love

Still Kisses With Saliva.

Ich wachte davon auf, dass Mia über meine Beine aus dem Bett kletterte und dabei wirre Worte murmelte. Sie fegte mit ihrem Bademantel den Gang entlang zur Küche und schrie leise auf. Das Abendlicht fiel aus dem Küchenfenster golden in den Gang ein. Verwirrt knöpfte ich meine Jeans zu und folgte dem goldenen Streifen.

Mia stand am Herd und versuchte mit zitternden Händen, den Topf von der heißen Herdplatte zu schieben. Rund um die Platte und auf dem Boden schwamm schäumendes, mit grünen Gewürzstückchen durchsetztes Wasser. Mia drehte sich um.

»Essen ist fertig!« Sie lachte schon wieder.

Wir nahmen den Topf mit ins Wohnzimmer und setzten uns in die Eckbank.

»Du musst zuerst kosten, ich bin schließlich die Königin und noch dazu krank«, scherzte Mia.

Ich tauchte den Löffel ein und musste auch lachen, als ich ihn an die Lippen setzte, so dass ich die Suppe fast wieder verschüttet hätte. Ich tastete probeweise mit der Zungenspitze in die Suppe.

»Hey, schmeckt eigentlich ganz gut!«

Ich schlürfte die ganze Suppe vom Löffel. Die Gewürze hinterließen ein wohliges Brennen in meinem Rachen. Ich erinnerte mich an den „Granatapfel“, den ich mit ihr in der Bar getrunken hatte. Dann tauchte ich den Löffel wieder in die Suppe und fütterte Mia damit.

»Mmmmh…« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Das wird unser Vermächtnis an die Welt.«

Nachdem wir fertig gegessen hatten, kuschelte sich Mia zu mir in die Ecke und wir sahen zu, wie der Abdruck der Abendsonne auf der Wand langsam nach unten sank.


Die Nacht gehört den Liebenden

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