Читать книгу Iskandrien - Die ferne Insel - Carl C. Pörksen - Страница 6

Der Auftrag

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Zwischen Toten und Flammen,

zwischen Blut, Holz und Stahl,

stand die Wiege des Kindes,

ein Schreien voller Qual.

2 „Das Lied des Helden“ von Galfir Galbrandsson

Der hagere Mann auf dem Thron winkte ab.

„Vernichtet einfach alles und jeden, der euch begegnet.“

Ein langer, gelblich schimmernder Fingernagel, angespitzt wie ein Dolch zog langsam eine Spur durch die graurote schleimige Schicht. Das Kratzen auf dem Blechteller erzeugte ein kreischendes Geräusch, wie auf einer Schiefertafel.

In der gallerartigen Schicht aus Blut und Hirnmasse einer Fledermaus lagen die kleinen zerbrochenen Knochen des Tieres.

Ein Gesicht starrte konzentriert auf den Teller, die Züge zu einer Fratze verzogen. Kurze, abgehackte Laute kamen aus dem Mund, in dem zwei lückige Zahnreihen um die Vorherrschaft zu kämpfen schienen. Ein Vorhang aus dünnen Haaren hing über den Tellerrand, an einigen Haarspitzen klebten eingetrocknete Teile der Blut- und Hinrmasse.

Zwei knotige faltige Hände umfassten den Teller und warfen die Knochen mit einer kurzen Bewegung auf die Tischplatte.

Der Mann, denn um einen solchen handelte es sich, beugte sich wieder über den Tisch und starrte auf die kleinen Knochenteilchen. Die Knochen lagen innerhalb eines zwei Handteller großen Pentagramms, das mit sorgfältigen Linien auf den riefigen Holztisch gezeichnet war.

„Kch, kch.“ Die Hände machten Bewegungen, als wollten sie ein unsichtbares Insekt vertreiben. Dann grunzte der Mann, drehte sich um und durchmaß den Raum, in dem er sich befand.

Die Einrichtung des Raumes erschien wie eine Mischung aus Studierzimmer, Hexenküche, dem Labor eines Druiden und einem Zoo. An einer der Seitenwände waren Dutzende von Käfigen aufgestellt, einige waren geöffnet und leer. In anderen waren Vögel, Fledermäuse, Ratten, Hunde und sogar zwei Wölfe. Die Tiere gaben keinen Laut von sich. Sie duckten sich in ihre Käfige und schienen nur darum bemüht, nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Es schien, als hätten sie begriffen, dass sie diese Käfige nur noch verlassen würden, um für ein grausiges Ritual getötet oder verstümmelt zu werden. Der Gestank nach Tierkot, Urin, Fell und Federn war betäubend.

Der Mann schien diesen Geruch jedoch gar nicht wahr zu nehmen.

En langes graues Hemd und eine bauschige schwarze Hose umschlotterten seine magere Gestalt. Um die Stirn lag ein rotes Band, dass das dünne weiße Haar notdürftig aus dem Gesicht hielt. Der Mann trug statt Schuhen hölzerne Pantoletten mit stählernen Spitzen, die bei jedem Schritt ein klackendes Geräusch machten.

Er griff nach einem langen schwarzen Stock, dem Insignium eines Druiden, der an einem einfachen Holzstuhl lehnte.

Er stieß den Stock kräftig auf den Boden und sofort öffnete sich eine Tür des großen Raumes, in dem der Mann stand.

„Wein!“ Die Stimme des Druiden klang wie das Krächzen eines Papageien.

Ein junger Diener hatte mit furchtsamer Miene und katzbuckelnd den Raum betreten. Jetzt wirbelte er herum und verschwand wieder durch die Tür.

Der Druide wartete, mit einer Hand auf die niedrige Lehne des Stuhles gestützt.

Die Tür schwang wieder auf und der Diener eilte durch die Tür. In seiner Eile übersah er die schleimige Masse, die von einem umgestürzten Eimer über den Boden geflossen war. Sein rechter Fuß rutschte weg, instinktiv streckte er die Arme vor, um sich abzustützen, der Kelch fiel zu Boden und der Wein ergoss sich über die fleckigen Steine.

Erschrocken sah er zunächst auf den Kelch, dann mit furchtsam aufgerissenen Augen auf den Druiden, der scheinbar uninteressiert auf ihn herab blickte.

Mit einer langsamen Bewegung wurde der etwa eine Mannshöhe lange Stock gehoben. Der Druide sprach eine kurze Formel.

Aus dem stumpfen, knotigen Ende des Stocks schlug ein leuchtend blauer Blitz, der den am Boden liegenden Diener traf.

Ein kurzer Aufschrei, dann zerfiel der junge Mann innerhalb weniger Augenblicke zu Staub.

Geringschätzig grunzend bückte der Druide sich und hob den Kelch auf, der ihm vor die Füße gerollt war.

Er lehnte den Stock wieder an den Stuhl und ließ die freie Hand über dem Kelch kreisen.

Die Tropfen des verschütteten Weines lösten sich vom Boden und aus den Steinen und flogen in den Kelch zurück, bis er wieder voll war mit klarem rubinrotem Wein.

Der Druide nahm einen tiefen Schluck, dann steckte er seinen mageren Finger mit dem langen spitzen Fingernagel in den Wein und rührte ihn mit kreisenden Bewegungen um.

Dazu murmelte er fremdartige kehlige Worte und gab zischende Laute von sich.

Es bildeten sich silbrige Schlieren auf dem Wein, dann veränderte sich die Farbe und es entstand ein klares, scharf umrissenes Bild.

Dieses Bild zeigte ein großes Schiff mit drei Masten, unter vollen Segeln. Die Stückpforten für die Kanonen waren geschlossen und an dem schäumenden Kielwasser war zu erkennen, dass das Schiff gute Fahrt machte.

Weitere Formeln wurden geflüstert, doch das Bild blieb unverändert.

Der Druide runzelte überrascht die Stirn, dann riss er seinen Finger aus dem Wein und schleuderte den Kelch mit einer ruckartigen Bewegung gegen die nahen Käfige.

Überrascht blickte er auf seinen Finger, die Kuppe schmerzte wie verbrannt.

Einen Moment stand er noch grübelnd da, dann ergriff er seinen Stock, wirbelte herum und ging zu der Wand, die den Tierkäfigen gegenüber lag. Er drückte an einer bestimmten Stelle gegen die Wand, wodurch sich ein Teil der Mauer drehte und den Zugang in einen dunklen, niedrigen Gang öffnete.

Er trat in den Gang und verschloss sorgfältig die Geheimtür hinter sich. Auf ein Fingerschnipsen entflammten mehrer Fackeln an den Wänden und erhellten drei Gänge, die sich nach rechts links und voraus erstreckten. Er wählte den Gang voraus und ging wenige Schritte. Dann drückte er neben einer der Fackeln gegen die Wand und es öffnete sich eine weitere Geheimtür. Sichernd blickt er in den dahinter liegenden Raum

Die Erbauer des Raumes und des ihn umgebenden Schlosses hatten diesen Raum als Thronsaal und damit als herausragenden Teil des Bauwerks vorgesehen.

Kräftige marmorne Säulen, jede einzelne so dick, dass ein ausgewachsener Mann sie nicht umfassen konnte, trugen eine einst himmelhoch erscheinende Decke.

Die ehemals weißen, mit feinen roten Äderchen durchzogenen Säulen waren mit wunderbar gearbeiteten Formen und Figuren, Abbildern von Menschen, Tieren und anderen Wesen, Schlachten- und Liebeszenen, Meeren, Wäldern und Bergen verziert.

Der Detailreichtum und die perfekte Ausführung dieser fantastischen Arbeiten ließ darauf schließen, dass hier die besten zwergischen Handwerker ihr Können eingesetzt hatten.

Die riesige Halle hatte an den beiden Längsseiten zwanzig Fuß hohe und fünfzehn Fuß breite Fenster. Die Scheiben waren aus edlem Quarzsand gebrannt und zeigten die Götter der Zwerge, der Elfen und der Menschen. Hier saß Ordan, der Kriegsgott der Menschen in einer Schachpartie mit Tongdur, dem zwergischen Gott der Esse und des Feuers. Dort verfolgte Aldanur, der elfische Gott der Jagd ein fliehendes Reh, flankiert von Balondur, dem axtschwingenden Zwergengott des Kampfes und Baccarus, dem menschlichen Gott des Weines und des Feierns.

Alles zeugte von Eintracht, Schönheit und Lebensfreude.

Der Boden des Thronsaals stieg an den Längsseiten um zwei Stufen an. Hier hatten bei den rauschenden Festen, die die ursprünglichen Bewohner des Schlosses gerne und oft gegeben hatten, die Gäste gesessen.

Von hier hatten Sie den Vorführungen der Gaukler und Jongleure, der Künstler und Schauspieler zugesehen. Hatten Axt- und Schwertkämpfer, Ringer, Boxer und Peitschenschwinger angefeuert oder selber getanzt, gesungen und getrunken.

Jetzt war die ganze Pracht des Raumes überzogen von einer schmierigen, rußigen Staubschicht. Die Säulen starrten vor Dreck und die Fenster waren so blind, dass kaum ein Sonnenstrahl herein schien. Nur durch ein fast vollständig zerbrochenes Fenster versuchte die Sonne Zugang zu bekommen, aber hier hingen schwere Vorhänge und schlossen die Helligkeit aus.

Der ganze Raum wurde von Fackeln und großen eisernen Feuerbecken mit flackerndem Licht erfüllt, dass die Schatten an den Wänden und der Decke nicht durchdringen konnte.

An der östlichen Stirnseite des Raumes befand sich eine riesige Tür, mit zwei schweren Flügeln, die von innen mit einem langen massiven Riegel verschlossen werden konnte. Von dort führte ein langer, ehemals roter Teppiche durch den gesamten Raum. Über diesen, jetzt verschlissen wirkenden und verdreckten Teppich waren früher Könige und Fürsten, Politiker und Diplomaten, Bittsteller und mit Geschenken beladene Diener gegangen. Sie hatten den gesamten Raum durchmessen, um dann an der anderen Seite des Raumes vor dem hohen Thron nieder zu knien.

Der Thron war etwa acht Fuß hoch, aus dunklem edlem Holz. Auf der glatten unbequemen Sitzfläche lag ein dickes Kissen, doch der feine Brokat war inzwischen fleckig und rissig. Zum Thron hinauf führten vier Stufen, die über die gesamte Breite des Raumes verliefen.

Auf den Stufen lagen zerbrochene Stühle, zerschlagene Tische, zerdrücktes, lang verfaultes Obst und dunkle Flecken und verschrumpelte Brocken ließen andere noch schlimmere Dinge erahnen.

Durch den gesamt Raum zog ein modriger, strenger Gestank der so intensiv war, dass die Augen zu tränen begannen und sich ein klebriger Belag auf der Zunge bildete.

Der Druide schien jedoch von dem Aussehen und dem Zustand des Raumes völlig unbeeindruckt. Er durchmaß den Raum mit schnellen schleichenden Schritten und setzte sich auf den hohen Thron.

Neben dem Thron stand ein kleiner Tisch und darauf lag eine zierliche silberne Glocke.

Mit einem höhnischen Grinsen griff der hagere Mann zu der Glocke und ließ ein leises Klingeln ertönen.

Obwohl das Klingeln kaum zu hören gewesen war, öffnete sich im gleichen Moment die Tür und ein junger zitternder Mann in einer Dieneruniform trat ein. Mit eiligem Schritt rannte er durch den Raum und warf sich vor den Stufen zum Thron so vehement auf die Knie, dass er noch einige Schritte über den Boden rutschte.

„Herr!?!“

Der Diener hielt den Blick intensiv auf den Boden gerichtet, um seinem Herrn keinen Grund für Unmut zu liefern.

Es hatte sich rasend schnell rum gesprochen, dass der andere Diener nicht mehr aus dem Laboratorium heraus gekommen war.

Mit seiner krächzenden Stimme verlangte der Druide „Schickt Käpt’n Blackard zu mir.“

„Ja, Herr!“ Der Diener sprang auf und rannte durch den Raum zur Tür. Die Tür schloss sich knirschend hinter ihm, dann herrschte Ruhe, nur unterbrochen von einem leisen Geräusch, einem Schluchzen nicht unähnlich.

Der Druide lehnte sich auf dem Thron zurück und schloss die Augen.

Im nächsten Moment, wie ihm schien, öffnete sich erneut die Tür und ein hünenhafter Mann betrat den Raum. Der Mann trug ein rotes Hemd, darüber eine schwarze Weste, schwarze Hosen und hohe braune Lederstiefel. Auf dem Kopf hatte er einen dunkelblauen breitkrempigen Hut, unter dem ein Kopftuch zu erkennen war.

Ein goldener Ohrring wies ihn als Mitglied der Piratengilde aus.

An der Hüfte hing ein breites, scharf geschliffenes Schwert und unter der Weste lugten der Griff eines Dolches und eines kurzen Entermessers hervor.

Das Gesicht des Mannes war fast vollständig von einem schwarzen Bart verdeckt, der von vielen grauen Fäden durchzogen wurde.

Eine große Nase, die offensichtlich schon häufiger gebrochen worden war, stach aus dem Gesicht hervor. Beherrscht wurde das Gesicht jedoch von großen fast wasserklaren Augen, die mit kaltem, gnadenlosen Blick die Umgebung musterten.

Langsam aber offensichtlich unbeeindruckt näherte Blackard sich dem Thron.

„Ihr habe nach mir gerufen, … Herr!?!“ Die Stimme des Mannes war wie ein tiefes Donnergrollen.

Dem Druiden war das Zögern des Kapitäns durchaus aufgefallen. Er atmete tief durch. Derzeit war dieser Mann noch wichtig für ihn, aber irgendwann …!

„Ich habe einen neuen Auftrag für euch, Käpt’n Blackard. Von der Alten Welt nähert sich ein Schiff, in Begleitung von zwei anderen Schiffen. Es sind alles Kriegsschiffe. Das Schiff, auf das es ankommt wird wohl in einigen Tagen die Nebelinseln passieren und dann Kurs auf unser Festland nehmen. Ich möchte, dass ihr dieses Schiff, genau wie die anderen aufhaltet und zerstört. Tötet jeden Einzelnen an Bord und versenkt das Schiff. Die Ladung könnt ihr wie immer für Euch behalten, aber kein Lebewesen von diesem Schiff darf unsere Insel erreichen.“

Der Druide beugte sich vor und musterte Blackard mit scharfem Blick.

„Habt ihr das verstanden?“

Der Kapitän grinste verächtlich. „So schwer war das ja nicht, also wie immer. Woran erkenne ich das Schiff?“

Der hagere Mann auf dem Thron winkte ab.

„Vernichtet einfach alles und jeden, der euch begegnet. Allerdings …:“

Er zögerte kurz, dann griff er zu der Kette, die um seinen Hals hing, erhob sich und näherte sich dem Hünen.

„Bei diesem Schiff wird euch eine andere Art des Widerstandes entgegen schlagen. Möglicherweise werdet ihr viele eurer Männer verlieren, denn es befindet sich ein starker Zauberer an Bord.“

Blackard winkte lässig ab.

„Da wo ich diese Kerle her habe, die mit mir kommen werden, gibt es auch neue. Es müssen nur so viele überleben, dass ich wieder zurück segeln kann. Das erhöht auch den Anteil an der Beute.“

„Es ist anscheinend ein Magiemächtiger an Bord und wenn der Zauberer Magie einsetzt, gegen euch, dann kann ich versuchen euer Schiff zu schützen, und diese Kette …“ er versuchte, dem Kapitän die Kette umzuhängen, doch selbst mit gestreckten Armen kam er nicht über den Kopf des Mannes. Auch weil der Kapitän keine Anstalten machte sich zu beugen oder seinen Hut vom Kopf zu nehmen „… wird euch schützen. Es sollte daher also schnell gehen. Macht euren Männern das klar.“

„Ich verstehe mein Geschäft“, grollte der Kapitän. Er nahm die Kette in die Hand und sah auf das blinkende Amulett.

Der Druide ging rückwärts zu seinem Thron zurück und ließ sich auf den Sitz gleiten.

„Dann solltet ihr jetzt lossegeln.“

Blackard verneigte sich spöttisch lächelnd, dann drehte er sich um und verließ den Thronsaal.

Hoch über seinem Kopf, im unergründlichen Schatten der Balken und Träger raschelte es leise und ein großes gelbes Auge folgte dem Kapitän mit seinem Blick, bis sich die Tür hinter ihm schloss.

Nat erwachte, sein Schädel brummte und seine Augen waren verklebt, als hätte ihm jemand Honig übers Gesicht gekippt. In seiner Kehle war ein trockenes Kratzen und seine Arme schienen Tonnen zu wiegen.

Mit geschlossenen Augen überprüfte er seine Körper.

Füße? Kalt, aber noch da.

Beine? Weich, kribbelnd, aber auch noch da.

Körpermitte? Inaktiv und ohne besondere Beeinträchtigungen.

Bauch? Grummelnd, leer, ansonsten flau.

Brust? Herz schlug noch, Atmung ruhig und regelmäßig.

Hals? Trocken, kratzig aber erträglich.

Arme? Schwer, und kraftlos.

Kopf? Aha, Kopf? Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn er sich richtig gut gefühlt hätte.

Die positive Nachricht allerdings war, er spürte sich, also lebte er noch, mehr oder weniger.

Langsam öffnete er die verklebten Lider. Grelles Licht stach in die Augen und schien sich direkt bis ins Hirn zu brennen.

Er schloss die Lider, dann unternahm er einen neuen vorsichtigen Versuch.

Zögernd ließ er die Helligkeit auf seine Augen wirken und sein Sichtfeld aufklaren.

Nach mehrfachem heftigem Blinzeln begann er erste Dinge um sich herum zu erkennen.

Er war auf jeden Fall nicht mehr in der Gefängniszelle, soviel wurde ihm auf den ersten Blick klar.

Über seiner Lagerstatt, bei der es sich offensichtlich um ein festes, aber nicht unbequemes Bett zu handeln schien, hing eine schwankende Lampe.

Das Bett war in eine Nische in die Wand eingebaut.

Von dort aus sah Nat einen kleinen Holztisch, mit drei einfachen Stühlen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein weiterer Tisch, auf dem sich Papierrollen und Folianten stapelten.

Das Licht fiel durch zwei, mit Sprossen unterteilte Fenster. Unter diesen Fenstern lief eine breite Sitzbank mit dicken Kissen.

Alle Wände waren aus Holz, auch Fußboden und Decke waren vollständig aus Holz.

Es dauerte noch einen kurzen Moment, bis Nats Gehirn alle Eindrücke verarbeitet hatte und die entsprechende Schlussfolgerung gezogen hatte.

Er befand sich auf einem Schiff.

Jetzt drangen auch die typischen Geräusche eines Schiffes an seine Ohren. Das Knallen der Segel im Wind, das Knarren und Ächzen des Holzes und des Tauwerks und die Rufe der Seeleute, sowie das Rauschen und Gluckern des Wassers, das an der Bordwand entlang gischtete.

Nachdem die Bestandsaufnahme erbracht hatte, dass Nat noch alle Glieder besaß, bemühte er sich jetzt, diese auch zum Einsatz zu bringen.

Er schwang seine langen Beine aus dem Bett und richtete sich auf. Durch das Aufrichten verstärkten sich für einen Moment die Kopfschmerzen, dann wurde aus dem bohrenden Schmerz und dem Druck hinter den Augäpfeln eine erträgliche, aber immer präsente Dauerpein.

Ganz vorsichtig stellte Nat die nackten Füße auf den Boden und wartete, bis das Schwindelgefühl allmählich abklang.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er statt seiner Kleidung nur ein halblanges Nachthemd trug, das zudem nicht die für ihn erforderliche Größe hatte. Es endete bereits kurz unterhalb der Körpermitte, also nur knapp ausreichend um noch schicklich zu sein. Und über seiner kräftigen Brust klaffte es deutlich auf, hier hatte man erst gar nicht den Versuch unternommen, es zu schließen.

Nat sah sich suchend um und entdeckte an einem Haken neben dem Bett saubere und neue Kleidung und darunter hohe weiche Lederstiefel.

Er untersuchte die Sachen und stellte fest, dass sie zwar gebraucht, aber frisch gewaschen waren.

Er zog sich schnell das Nachthemd über den Kopf und trug jetzt nur noch seine Brouche, die weite Unterhose, die mit einem dünnen Strick gehalten wurde.

Schnell griff er sich das wollfarbene Hemd, die blaue Weste und die braunen Hosen und schlüpfte in die Sachen.

Über den Stiefeln lagen grobe gestrickte Wollsocken die er anzog, dann waren die weichen Stiefel dran.

Die Kleidung passte wie für ihn geschneidert. Da keine anderen Sachen zu sehen war, hoffte er jetzt nur, dass diese Dinge auch für ihn gedacht waren.

Nach einem erneuten Rundblick, der ihm allerdings keine neuen Erkenntnisse brachte ging er zu der niedrigen Tür, die gegenüber der Fensterseite in das Schiff hinein führte.

Für einen kurzen Moment kam ihm die Idee, dass man ihn eingeschlossen haben könnte, aber die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen.

Nat blickte in einen kurzen Gang, von dem links, rechts und voraus weitere Türen abgingen.

Nach rechts endete der Gang an der anderen Bordwand. Zu der einen Seite führte eine Tür in die Nachbarkajüte. Zur anderen Seite führten einige Stufen hinauf auf das Deck des Schiffes.

Nat wandte sich nach rechts und stieg die knarrenden Stufen hinauf. Geblendet vom strahlenden Sonnenlicht blinzelte er, bis sich seine Augen auf die klare Helligkeit eingestellt hatten.

An Deck herrschte emsiges Treiben. Überall waren Matrosen dabei Seile zu spannen, Segel zu reffen, das Deck zu schrubben und Tau- und Segelwerk zu flicken.

Zwei Männer schlugen mit schweren Holzhämmern die Dauben auf ein neues Fass. Ihre Schläge krachten mit perfektem Gleichklang auf den schmalen Metallreifen und trieben ihn über die leicht gebogenen, sorgfältig zusammen gefügten Seiten des Fasses.

An der Backbordreling stand ein Matrose mit einer großen polierten Metallscheibe und blinkte Signale hinaus aufs Wasser.

Der Richtung der Signale folgend entdeckte Nat ein weiteres Schiff, dass in einer Entfernung von etwa hundert Schritt parallel seine Bahn zog. Auch von dort blinkten Signale, als Antwort auf die hier gegebenen Zeichen. Neben dem Signalgeber stand ein Schreiber, der die Zeichen in einem dicken Buch sorgfältig vermerkte.

Nat trat einen Schritt nach vorne und wäre fast mit einem anderen Mann zusammen gestoßen, der mit einem kompliziert aussehenden Gerät an ihm vorbei die Stufen zum Achterdeck hinauf hastete.

Nat sah sich das Schiff etwas genauer an.

Offensichtlich handelte es sich um eine Bargalone, mit drei Masten, an denen sich die Segel im Wind blähten.

Das Schiff war in sehr gutem Zustand. Die Aufbauten waren sorgfältig gestrichen, die Metallteile zeigten kein Anzeichen von Rost und das Tauwerk war straff gespannt. Hoch am Großmast war ein Ausguck, auf dem ein Matrose mit einem Fernrohr den Horizont beobachtete.

Auf der Galion, der Plattform am Bug des Schiffes, übten Seesoldaten den Kampf mit Holzschwertern und –äxten.

Nat konnte auf dem Schiff kein bekanntes Gesicht entdecken, was ihn darauf schließen ließ, dass es sich bei dem Schiff nicht um einen Handelsfahrer seines Onkels handelte.

Jetzt bemerkte er auch, dass alle Matrosen einheitliche Kleidung trugen und weitere Seesoldaten überall auf dem Schiff kleineren Pflichten nachkamen oder herumlungerten.

Demnach handelte es sich hier offensichtlich um ein Kriegsschiff.

Das erklärte auch die Kanonen auf dem Oberdeck und die Bündel von Schwertern und Hellebarden, die an verschiedenen Punkten des Schiffes strategisch geschickt aufgestellt waren ohne den normalen Betrieb zu behindern.

Nat schlenderte unbehelligt über das Deck. Niemand schien von ihm Notiz zu nehmen.

Er hatte erwartet, dass man ihn ansprechen würde, als Jemand, der hier nicht hergehörte, hier nichts zu suchen hatte oder einfach fremd war.

Aber bei der Vielzahl an Personen, allein hier an Deck, war davon auszugehen, dass sich sowieso nicht alle kannten.

Er sah sich weiterhin suchend um. Bei einem Blick über die Steuerbordseite, stellte er fest, dass auch hier ein Kriegsschiff, offensichtlich eine Joreale, eine parallele Bahn zog.

Mit langsamen Schritten trat Nat an die Reling und stützte sich auf das umlaufende, etwa drei Fuß hohe Geländer.

Die Joreale verfügte über ein hohes Achterkastell und hatte einen nicht unerheblichen Tiefgang. Demnach war sie offensichtlich gut beladen. Vielleicht eher mit Menschen und nicht mit Waren, denn auf dem Deck bewegten sich viele Personen.

Nat erkannte sogar eine Gruppe Soldaten, die mit kurzen Bewegungen auf dem Deck exerzierten. Die Seeleute sahen den Soldaten grinsend zu, wie sie in ihren Uniformen schwitzend auf dem Deck herum stolzierten.

Nat beschirmte seine Augen mit einer Hand und las den Namen des begleitenden Schiffes, die Santinus.

Das war nach Nats Kenntnis der Name eines unbedeutenden Heiligen, der kurz nach der Entdeckung der Fernen Insel losgezogen war, um die dortigen Heiden zu bekehren.

Nat drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling. Von hier aus musterte er das Achterdeck, auf dem der Rudergänger das fast mannshohe Steuerrad bediente. Vor ihm blitzte die Sonne auf dem polierten Kupfer des Kompasses, daneben hing die Schiffsglocke, die leicht im Wind schwang.

Schräg hinter dem Rudergänger stand ein kleiner, schlanker Mann, mit schwarzem Haar, das von grauen Fäden durchzogen war. Sein wind- und wettergegerbtes Gesicht zierte ein riesiger schwarz-grauer Schnauzer, dessen Enden sorgfältig hochgezwirbelt waren.

Seine Autorität ausstrahlende Haltung und sein Blick, der jedes Detail des Schiffes, des Wetters und der Mannschaft in sich aufzunehmen schien, machte deutlich, dass es sich bei diesem Mann nur um den Kapitän der Bargalone handeln konnte.

An der Steuerbord-Reling des Achterdecks stand ein weiterer Mann, der jetzt interessiert zu Nat herunter sah.

Nat sah den mitternachtsblauen Umhang mit den blitzenden Goldfäden und war einen Moment lang verwirrt. Das war der Mann der … ja, was überhaupt … zuletzt bei ihm im Gefängnis gewesen war.

Hatte dieser Mann ihn dort herausgeholt? Und was tat er hier auf dem Schiff?

Ganz langsam kamen Nat die Ereignisse der letzten Tage in den Sinn und ihm wurde klar, dass er jetzt – in der Mitte des neuen Tages – eigentlich tot sein müsste. Die Knie wurden ihm weich und er stützte sich mit beiden Händen halt suchend auf die Reling.

Weitere Fragen schossen ihm durch den Kopf. Wohin segelte dieses Schiff? Wer hatte den König und seine Richter davon überzeugt, ihn gehen zu lassen?

Es sollte doch an ihm ein Exempel statuiert werden!

Zögernd löste er sich von der Reling und ging auf die Treppe zum Achterdeck zu.

Der Mann sah ihm erwartungsvoll entgegen, hatte sich ihm jetzt ganz zugewandt.

Mit immer langsameren Schritten erstieg Nat die Treppe zum Achterdeck. Seine Annäherung hatte jetzt auch das Interesse des Kapitäns geweckt. Klare graublaue Augen musterten ihn von oben bis unten, der Blick des Kapitäns verharrte dann auf Nats jungenhaftem Gesicht. Überrascht warf er dem Mann im blauen Umhang einen schnellen Blick zu. Dieser nahm jedoch von den Blicken des Kapitäns keine Notiz.

„Na, mein junger Freund. Endlich ausgeschlafen?“ Ein freundliches Lächeln überzog sein Gesicht mit einem Netz von Falten.

„Ich vermute, Du wirst Hunger und Durst haben. Und außerdem wirst Du sicherlich eine Menge Fragen haben, die ich Dir auch gerne beantworten werde. Dafür haben wir noch ganz viel Zeit.“

Eigentlich nur von durchschnittlicher Größe ließen ihn sein Gebaren und seine Selbstsicherheit wie einen deutlich größeren Mann erscheinen.

„Zunächst sollte ich Dir jedoch den Kapitän dieses wunderschönen Schiffes, der Katalanya vorstellen.“ Er legte Nat eine Hand auf die Schulter und führte ihn zum Kapitän.

„Nat, das ist Kapitän Nilsson, der erfahrenste Kapitän der Flotte seiner Majestät, König Prilip des IV.. Kapitän, dies ist Nat Ermstyrk, der junge Mann, von dem ich euch bereits erzählt habe.“

Nach einem weiteren, abschätzenden Blick streckte der Kapitän Nat die rechte Hand zur Begrüßung entgegen. Nat ergriff die kleine, schwielige Hand zu einem kräftigen Händedruck.

„Ihr hattet mir gesagt, dass es sich um einen jungen Mann handelt, Jargo. Aber sooo jung …!“

„Das ist eine Entscheidung der Götter, Christoph. Wer bin ich, mir über diese Entscheidung Gedanken zu machen. Aber wollen wir den Geschehnissen nicht vorgreifen.“

Er dirigierte Nat in Richtung der Treppe.

„Wenn Du uns jetzt entschuldigst. Ich werde dafür sorgen, dass unser junger Freund auf diesem ungastlichen Kahn etwas zu essen bekommt. Und nach Hunger und Durst werde ich versuchen auch seine Neugier zu stillen.“

Jargo schob Nat die Treppe hinunter und zur Tür, die zu den Kajüten am Heck des Schiffes führten.

Vor der Kajüte, in der Nat erwacht war angekommen, wandte Jargo sich nach rechts und öffnete die Tür, die Nats Tür gegenüber lag.

Nat folgte ihm neugierig.

Vor ihm öffnete sich eine große Küche, die sich über die ganze Breite des Schiffes erstreckte. An der Decke hingen schwere gusseiserne Pfannen und Töpfe. In der Mitte war ein großer Herd, in dem Tag und Nacht ein Feuer brannte, damit der Koch jederzeit ein schnelles Essen bereiten konnte. An der Steuerbordseite hingen zudem große Schinken und verschiedenstes Geflügel. Der Boden war mit frischem Sand bestreut, damit das aus den Töpfen spritzende Fett den Boden nicht in eine schmierige Rutschfläche verwandelte.

Aus einem kleinen Nebenraum erklang Rascheln und Knistern.

„Hey Koch“, rief Jargo laut.

Einem lauten „Klong“ folgten unsägliche Flüche. Schimpfend und sich den Kopf reibend kam der dickste Mann in die Küche, den Nat je gesehen hatte.

„Verdammt seiest Du, Du …. Oh, ihr seid es. Was führt euch in meine bescheidene Küche.“

Der Blick, den der Koch den beiden Männern zuwarf strafte seine devoten Töne Lügen.

Jargo ignorierte das Verhalten des Mannes.

„Ich möchte ein kräftiges Frühstück für meinen jungen Freund hier. Und dazu einen großen Krug eures feinen Bieres.“

Jargo schlug dem Mann freundschaftlich auf die Schulter.

„Und wenn ihr dann euren Helfer anweisen könntet uns die Sachen in die achterliche Backbordkajüte zu bringen, wären wir euch zu Dank verpflichtet.“

Mit einem jovialen Grinsen drehte Jargo sich um und schob Nat zur Tür hinaus.

Als er die Tür verschloss erlosch das falsche Grinsen.

„Schon meine Mutter hat immer gesagt - Mit Köchen und Kutschern soll man sich immer gut stellen: Dann gibt es immer was Leckeres zu essen und man muss nicht mit vollem Bauch laufen. - Wo sie Recht hatte, da hatte sie recht.“

Nat und Jargo betraten die Kajüte. Nat ließ sich auf einem der Stühle nieder und Jargo stellte sich ans Fenster und blickte nach draußen.

„Du hast viele Fragen und ich will gerne versuchen sie dir zu beantworten. Aber zunächst will ich Dir eine Geschichte erzählen, die vielleicht auch deine Geschichte ist oder deine Geschichte werden wird.“

Vor über einhundert Jahren befuhr ein Schiff der sylthanischen Könige, die Santaanna den Rand des bekannten Meeres, immer an den Nebelinseln entlang.

Das Schiff hatte den Auftrag das Meer zu vermessen und mögliche weitere Inseln im bekannten Inneren Meer zu finden.

Aus einem Grund, den keiner mehr kennt, kam das Schiff von seinem Kurs ab und steuerte auf den dichten Nebel zu. Der Nebel ist, wie du sicher weißt, mit Blicken nicht zu durchdringen. In einem Moment siehst du den strahlenden Sonnenschein, einen Schritt weiter nur noch undurchsichtiges Grau.

An Bord der Santaanna war Gunhold Wardström, ein hervorragender Kartograph und großer Wissenschaftler seiner Zeit.

Als ihm klar wurde, dass das Schiff sogleich in die undurchdringlichen Nebel eintauchen würde, bestimmte er nach dem Stand der Sonne und seinen Aufzeichnungen der letzten Stunden den Ort, an dem das Schiff in den Nebel eintauchte, sowie die Richtung, die man nahm.

Er hieß den Kapitän der Santaanna das Ruder zu befestigen und den Kompass zu beobachten, damit das Schiff die Richtung hielt.

Nach wenigen Momenten stellte der Rudergänger fest, dass der Kompass sich wie wild drehte und eine genaue Richtungsangabe unmöglich war. Also hielt man nur das Ruder, in der Hoffnung, möglichst gerade aus zu fahren.

Die Santaanna drang tiefer und tiefer in den Nebel ein und zu beiden Seiten des Schiffes schoben sich riesige Klippen und Ausläufer der Nebelinseln vorbei.

Einige Male rieb das Schiff an Steinen und Felsen entlang, aber nichts hielt ihre Fahrt auf. Die Segel hingen schlaff herab, aber verschiedene Strömungen trieben das Schiff immer weiter voran.

Nach unbestimmbarer Zeit, in der die Männer durch eine unsichtige graue Welt glitten, endete der Nebel und die Santaanna fuhr in den strahlenden Sonnenschein hinaus.

Bei einer schnellen Positionsbestimmung stellte Wardström fest, dass sie offensichtlich den Gürtel der Nebelinseln durchfahren hatten und nun in bisher unbekannten Gewässern fuhren.

Er nahm seine gewissenhaften Aufzeichnungen wieder auf und begann sogleich, auch diese Seite des Meeres zu kartographieren.

Bei der Beobachtung des Wassers und der Strömungen, fiel dem Kapitän auf, dass nur wenige Schiffslängen von der Stelle, an der die Strömung sie durch den Nebelgürtel geführt hatte, die Schaumkronen des langsam dahin gleitenden Schiffes in die Nebelbank hinein trieben. Daraus folgerte er, dass es hier an dieser Stelle auch eine Strömung gab, die wieder in die Nebel hinein und damit – hoffentlich - zurück in das bekannte Meer führte.

Er sprach Gunhold Warström darauf an und man beschloss, zu versuchen, durch diese Strömung wieder zurück zu kommen. Sollte das gelingen, würde man zurück nach Sylthana fahren.

Dann wollte man beim König um die Unterstützung für eine große Expedition bitten, mit der man dann diesen Teil des Meeres und die mögliche „Neue Welt“ erkunden wollte.

Gunhold Warström schloss seine Arbeiten für die Positionsbestimmung ab.

Der Kapitän ließ zudem einen Sack mit Kanonenkugeln befüllen. An diesen Sack wurde mit einem langen Tau ein Holzkreuz aus etwa 5 Fuß langen Latten gebunden.

Dann wurden Sack und Kreuz ins Wasser geworfen. Nun markierte das Holzkreuz die Stelle, an der die Santaanna in die „Neue Welt“ eingefahren war.

Mit langen Staken wurde das Schiff wieder auf Kurs gebracht, bis es von der Strömung zurück in den Nebel gezogen wurde. Wie vermutet führte auch dieser Weg ohne Störungen durch die zähen grauen Luftmassen zurück in die bekannten Meere.

Auch hier verankerte man ein Holzkreuz als Markierung.

Die Besatzung der Santaanna setzte Segel und mit dem Wind fuhr man hinaus auf das offene Meer. Bei Einsetzen der Dunkelheit überprüften Gunhold Wardström und der Navigator der Santaanna die tatsächliche Position und nach einigen Tagen lief man in Sylthana ein.

Der König Sebold, der Schöne, übrigens ein Urahn unseres geliebten Königs Prilip des IV. war sofort Feuer und Flamme für die Idee der Entdeckung neuen Landes und setzte alle Hebel in Bewegung, um eine große Expedition ausrüsten.

Nur 20 Tage nach dem Treffen Gunhold Wardströms mit dem König lief eine Armada von 6 Schiffen mit Männern, Soldaten, Material, Nahrung, Wasser und allem was man sonst so brauchte aus. Sogar 15 Frauen, 2 Priester und 1 Mönch begleiteten die Reise.

Aufgrund der genauen Messungen von Wardström und dem Navigator, einem redseligen Mann namens Heriold, fand man problemlos die Durchfahrt durch den Nebel und war nach wenigen Tagen in den Gewässern der neuen Welt.

Alle Bewegungen genau kartographierend bewegte man sich im Zickzack über das Meer, bis man am Horizont eine Küste entdeckte.

Nachdem man einige Zeit an gefährlichen Riffen und tückischen Untiefen entlang gefahren war, entdeckte man einen natürlichen Hafen, an der Spitze einer Halbinsel.

Hier wurden die Schiffe entladen und man gründete die erste Stadt auf dem, was wir heute „die Ferne Insel“ nennen, Rimmond.

Über die weitere Besiedelung der Insel muss ich Dir sicher nichts erzählen. Das gehört seit langem zu den Geschichten die gelehrt und immer wieder erzählt werden.

Unsere Vorfahren fanden bei der Besiedelung unglaubliche Dinge, unschätzbare Reichtümer, aber auch furchtbare Feinde und grauenerregende Wesen und Monstren.

Jeder kennt die Geschichten über gigantische Behemoth, mächtige Drachen, die ganze Armeen vernichteten wie Andere ein paar Fliegen und ein wildes und wunderbares Land.

Auch andere menschliche und menschenähnliche Rassen wie Zwerge, Elfen und Barbaren beanspruchten große Teile der Insel für sich. Allerdings blieben sie in den Regionen, die ihren Lebensweisen am ehesten entsprachen. Die Elfen besiedelten die waldreiche, immergrüne Region Endoria, die Zwerge fühlten sich nur in den tiefen Höhlen der Berglandschaft Borgkarst heimisch. Und die Barbaren mit ihrer unsteten und wilden Lebensweise hatten ihr Zuhause in den kargen Ebenen Alturiens.

Jenseits der Länder der Zwerge und Barbaren gab es eine riesige Sumpflandschaft, die aufgrund der furchtbaren Wesen, die in ihr lebten und ihres krank machenden Klimas an sich schon unbesiedelbar war.

Die Versuche, dem Land und seinen Bewohnern den Willen der Menschen aufzuzwingen scheiterten ein ums andere Mal und man gewann die Erkenntnis, dass nur ein friedliches Miteinander zu einer erfolgreichen Besiedelung der Insel führen würde.

Vor fünf Jahren, und somit mehr als einhundert Jahre, nachdem der erste Mensch aus der alten Welt seinen Fuß auf die Ferne Insel setzte, wurde das Konzil von Rimmond abgehalten, ein Treffen von Vertretern aller menschlichen und menschenähnlichen Rassen, die diese neue Welt bevölkern.

Hier kam es nach vielen schwierigen Verhandlungen und wochenlangen Sitzungen zu einer Einigung, in der jeder Gruppierung sein eigenes Gebiet fest und unbestreitbar zugeteilt wurde. In der Regel handelte es sich um diese Gegenden, die ohnehin schon von diesen Rassen bevölkert wurden.

Die Waldgegenden Endorias für die Elfen, die raue Bergwelt Borgkarst für die Zwerge und die Tundra Alturiens für die Barbaren.

Den Menschen blieben die Ebenen Thorlands, in denen auch alle, hauptsächlich von Menschen bevölkerten Städte liegen.

Natürlich gab es Gegner einer solchen Abmachung, Sturköpfe in allen Rassen, die den Frieden auf der Insel durch die Ausrottung aller Anderen erreichen wollten.

Doch sie schienen nach und nach in allen Völkern weniger Gehör zu finden, so dass man überzeugt war, den Frieden auf diese Weise erhalten zu können.

Zudem gründete man den Thing, einen gemeinsamen Rat, der sich aus Vertretern aller Rassen zusammensetzte und der Streitfragen unter den Völkern klären sollte.

Aber vor einiger Zeit begannen Vorkommnisse, die als Einzelaktionen verbohrter Wesen angesehen wurden, die ein friedliches Miteinander nicht ertragen konnten.

Ländereien wurden verwüstet, Minen geflutet, Wasserläufe umgeleitet und Quellen vergiftet.

Dann begannen die Angriffe auf verschiedene Siedlungen.

Und immer besteht der Eindruck, dass die anderen Völker die Angreifer sind.

Elfen fluteten die zwergischen Minen, Zwerge leiteten die Wasserläufe der Tundra um, nach einem Angriff auf eine Menschensiedlung steckten Barbarenwaffen in Leichen der Überfallenen.

Langsam zeigen die Angriffe Wirkung, nach den vielen Jahren des Kampfes untereinander und den wenigen Jahren des Friedens. An den Grenzen zu den anderen Gebieten entstehen neue Wachtürme, Wehrburgen und Mauern. Kleinste Anlässe führten zu heftigem Streit zwischen den Rassen.

Der Frieden auf der Fernen Insel steht oder stand auf tönernen Füßen.

Vor einigen Umläufen erreichten den König Hinweise, dass der Frieden zwischen den Völkern nur mehr als hehrer Gedanke existiert und jedes weitere Vorkommnis die Lunte an dem Pulverfass Iskandrien, dies der einheimische Name der Insel, entzünden kann.

Dies war die letzte Depesche, die uns von der Fernen Insel erreichte, seitdem ist kein Schiff mehr in Sylthania oder den anderen Ländern der Alten Welt angekommen.

Diese Expedition ist jetzt die dritte, die das Ziel hat die Ereignisse auf Iskandrien zu erforschen. Deshalb auch die Begleitschiffe und die vielen Soldaten. Man ist darauf eingerichtet, sich gegen Widerstände durchzusetzen.“

Nat schwirrte der Kopf. Natürlich kannte er die Grundzüge der Geschichte, aus alten Sagen, aus dem Unterricht, dem er sich nicht hatte entziehen können und aus Geschichten von Personen, die die Ferne Insel bereist hatten.

Allerdings hatte seine Mutter kein Reden über die Insel in ihrem Haus und in ihrer Nähe zugelassen. Für sie schien dieser Ort nie zu existieren.

Aber was er nicht verstand …

„Was habe ich damit zu tun? Ich bin ein, zu Unrecht, zum Tode Verurteilter, der nicht kämpft, der von der Fernen Insel nicht mehr weiß, als das, was ihr mir gerade erzählt habt und der niemanden kennt der dort lebt. Was zur Hölle soll ich da?“

Seine Verwunderung wich einem zunehmenden Ärger, der sich vom Bauch her ausbreitete und langsam durch den ganzen Körper zog, so dass sich seine Nackenhaare aufstellten und er die Hände zu Fäusten ballte.

Jargo hob beschwichtigend die Hände.

„Das mein junger Freund, kann ich Dir nicht beantworten. Ich kann Dir aber sagen, warum Du hier auf diesem Schiff bist. Womit wir zur nächsten Geschichte kommen.“

Mein Name ist Jargo Gudhilfsson und ich bin ein Magier der Kategorie IV.

Die Zauberei oder Magie unterteilt sich je nach Anspruch und Wirkung auf verschiedene Kategorien. Außerdem gibt es verschiedene Grundrichtungen.

Es gibt die Naturmagie der Druiden und Hexen, die Lebensmagie der Magier und Heiler und die Todesmagie der Nekromanten und Schwarzmagier.

Die Kategorien beziehen sich auf die Macht, die Anhänger der jeweiligen Grundrichtungen bei Wirken der Zauber erreicht haben.

Als Magier der Kategorie I kann man Lebensmagie wirken, wie einfache Segenssprüche oder die Heilung leichter Wunden .

Die weiteren Kategorien erschließen sich dann mit der Zeit von alleine.

Wenn ich mein Leben der Lebensmagie überordnet habe und wenn ich sie vielfach zum Wohle der Menschen einsetze erreiche ich die nächsten Stufen.

Als Magier der Kategorie II kann ich die Abwehr und die Gesundheit von Personen verstärken. Ab der III. Kategorie stehen mir als Anhänger der Lebensmagie leichte Angriffssprüche wie Pfeile aus Licht oder Verwirrung der Sinne meines Gegners zur Verfügung.

All diese Zauber kosten mich als Magier jedoch eine Menge an Kraft und Konzentration.

Als Magier der Kategorie I kann ich keinen Pfeil aus Licht erschaffen. Ich kenne vielleicht die Worte und weiß, die Hände zu bewegen. Aber ich habe nicht die Kraft und Konzentration, einen so machtvollen Spruch zu wirken.“

Jargo sah aus den Augenwinkeln, wie Nat unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte, während ihm gleichzeitig fast die Augen zu fielen. Er lächelte.

„Geduld mein junger Freund. Gestehe einem alten Mann die Freude zu, mit seinen Fähigkeiten zu prahlen. Ich verspreche Dir, dass Du in dieser Geschichte bald auftauchen wirst.“

Nat errötete, weil Jargo ihn so durchschaut hatte. Er setzte sich aufrecht hin und bemühte sich, Jargo’s weiteren Ausführungen zu folgen.

„Wir Magier sind jedoch nicht für den Kampf geschaffen. Wir helfen Bestehendes zu bewahren, wir beraten und unterstützen. Wir bieten Anhängern der Lichtmagie und der Götter Heilung und Wissen.

Wir haben Schulen und Orden gebildet, in denen unsere Brüder neben Lesen und Schreiben auch einfache Grundregeln der Magie vermitteln.

Ich war bis vor kurzem Lehrer an der Schule des Lichts in Sylthana, Du wirst sicherlich schon einmal von dieser Schule gehört haben.

Meine Aufgabe war neben der Unterrichtung der Schüler das Finden magisch begabter Personen.

Nicht jeder kann die Geheimnisse der Magie erlernen. Manchen ist zwar ein wacher Geist gegeben, die Magie bleibt ihnen jedoch für immer verschlossen.

Andere wiederum scheinen dem einfachen Unterricht nur mit größter Anstrengung folgen zu können, die Magie jedoch wohnt in Ihnen und steht ihnen in erstaunlichem Maße zur Verfügung.

Als Magier der Schule des Lichts ist auch die Deutung der Sprüche des Orakels von Asyan unsere Aufgabe.

Jeweils für ein Jahr übernehmen Mitglieder unseres Ordens den Dienst in den Heiligen Hallen des Orakels.

Dann unterbreiten wir dem Orakel die Anfragen der Bittsteller und deuten ihnen die Antworten des Orakels.

Das Orakel antwortet nur auf die Fragen, die ihm gestellt werden. Es agiert nie ohne Grund.

Seit einigen Umläufen habe ich nun meinen Dienst für das Orakel verrichtet, habe die Anfragen überbracht und die Antworten dargelegt.

Eine Arbeit, die, unter uns, einem Magier mit meinen Fähigkeiten nicht zugemutet werden sollte. Aber ich hatte eine Wette um …. Ach, das tut hier nichts zur Sache

Jedenfalls, ich versah den Dienst für das Orakel, als ich eines Nachts im Schlaf eine Stimme hörte, die immer wieder die gleichen eindringlichen Worte sprach.

„Höre meine Worte und errette die Welt. Höre meine Worte und errette die Welt.“

Ich folgte dem Klang der Worte und stellte fest, dass die Worte aus dem „Mund“ des Orakels kamen.

Ein unglaublicher Vorgang. Niemand hatte eine Anfrage an das Orakel gestellt. Das Orakel hatte bei seinen Antworten nie gezögert, es konnte sich nicht um die Antwort auf eine Frage des Tages handeln.

Das Orakel sprach direkt zu mir. „Du bist auserwählt. Finde den Einen, der in sich die Kräfte des Vaters trägt. Finde den Einen, der einer fernen Welt den Frieden bringen kann. Wisse um seine Macht und sorge für ihn, bis er seine Pflicht erkannt hat.“

„Aber woran soll ich ihn erkennen?“

„Sieh die Aura des Vaters, sie wird nur schwach sein, denn er weiß nichts von ihr. Er wird den Tod blicken und es wird nichts geben, dass er verliert.

Aber sorge für ihn, die Mächte des Todes wissen von seinem Kommen. Und nun geh.“

Nur wenige Stunden später verließ ich den Orakelberg von Asyan und begab mich auf die Suche nach dem Einen, nach dem Friedensbringer.

Ich bin durch das ganze Land gereist und war jetzt in Sylthania, um bei meinem Orden um Unterstützung für meine Suche zu bitten.

Ich sprach mit zwei weiteren Magiern unseres Ordens und bat sie darum, das Orakel nach zusätzlichen Anhaltspunkten für meine verzweifelte Suche zu befragen.

Dann tratst du durch die Tür und ich sah es sofort. Die Aura war sehr blass, dein Unwissen und deine Niedergeschlagenheit ließen sie nur noch flackern, wie eine Kerze im Wind. Und dennoch war sie da, es bestand kaum ein Zweifel.

Als ich dann hörte, dass du zum Tode verurteilte warst, also den Tode blicktest und dass sich niemand für dich eingesetzt hatte, du also nichts verlorst, war ich sicher, dass meine Suche ein Ende hatte.“

Jargo sah in Nats zweifelnde Augen, in den Ausdruck völligen Nichtverstehens.

„Ich weiß, dass es viel gibt, was Du jetzt zu durchdenken hast. Ich denke, es ist gut, wenn wir es zunächst dabei belassen. Wir haben noch viele Tage, um zu sprechen, um zu entdecken und zu erkennen.“

Er wandte sich zur Tür und riss sie mit einem schnellen Ruck auf.

Der Schiffsjunge, der an der Tür gelauscht hatte, taumelte in den Raum. Das vollgeladene Tablett hielt er nur mit viel Glück und Geschick in der Waage, ohne etwas zu verschütten.

Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Blick irrte zwischen Nat und Jargo hin und her.

Jargo nahm ihm mit ruhigem Griff das Tablett aus den Händen und reichte es Nat.

Dann legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Die andere Hand fuhr einmal vor den Augen des Jungen hin und her. Dazu murmelte Jargo ein kurzes Wort.

Der Blick des Jungen wurde glasig, er drehte sich um und verließ auf steifen Beinen den Raum.

Nat sah erschrocken zu Jargo auf.

„Keine Sorge.“ Jargo ging zur Tür. „Der Junge wird nicht mehr wissen, was in der letzten Stunde war. Ansonsten ist ihm nichts widerfahren.

Jetzt iss und ruhe dich aus. In einigen Stunden werde ich dich holen und dann beginnen wir mit dem Unterricht.“

Die Tür schloss sich hinter ihm.

Noch einige Minuten starrte Nat auf die Tür, dann stieg ihm der Duft würzigen Brots und gebratener Eier und Speck in die Nase.

Sein knurrender Magen ließ alle Gedanken verstummen und mit Heißhunger stürzte Nat sich auf das reichhaltige Mahl.

Danach sank er erschöpft in seine Koje und war eingeschlafen, bevor sein Kopf das Kissen berührte.

Beim Erwachen blickte Nat in das grinsende Gesicht des Schiffsjungen, der ihm das Essen gebracht hatte. Das Grinsen war herzlich und der Schalk blitzte in den Augen des Jungen. Es war ihm nicht anzumerken, dass Jargo ihm vor wenigen Stunden einige kurze Augenblicke seines Lebens „genommen“ hatte.

Als der Junge sah, dass Nat die Augen aufschlug, trat er schnell einen Schritt zurück und deutet auf die offen stehende Tür.

„Der Zauberer wartet auf dich, er hat gesagt ich sollte dich wecken.“

Er ging zur Tür und rief im Rausgehen über die Schulter

„Er ist auf der Galion zu finden.“ Dann war er verschwunden.

Nat rieb sich den Schlaf aus den Augen, dann schlüpfte er in die Rehlederstiefel und begab sich an Deck.

Nach dem Stand der Sonne zu urteilen war es spät am Nachmittag, er hatte also etwa drei Stunden geschlafen.

Zügig überquerte er das Deck und stieg die sieben Stufen zur Galion, dem leicht erhöhten Vordeck am Bug des Schiffes hinauf. Oben stand Jargo, hatte die Arme wie ein Kreuz vor der Brust verschränkt und die Augen fest geschlossen.

„Setz dich, Nat. Wir beginnen sofort mit dem Unterricht.“ Er atmete noch mehrmals tief durch, dann ließ er die Arme sinken und öffnete die Augen.

„Was bedeutet …?“

„Schschscht, kein Wort.“ Jargo sah Nat streng an.

„Deine ersten Übungen werden darin bestehen eine Ordnung in deinem Inneren Ich zu finden. Nur in dir selbst kannst du immer wieder die Ruhe finden, die du brauchst um große Dinge zu tun.“

Er setzte sich Nat gegenüber und hob die Hand. Zwischen den Fingern pendelte eine Lederschnur, an der ein matt schimmernder, perlmuttweißer Stein mit einem großen Loch in der Mauer baumelte.

„Vielleicht kennst du andere Magier, Zauberer und wie sie sich immer nennen möchten, die dir einen solches Amulett vor die Nase halten und dich damit hypnotisieren wollen. Das sind alles Scharlatane.“

Jargo lieg das Amulett in seine Tasche gleiten und deutete mit dem Finger auf ein Astloch in der Reling, dass sich dunkel von dem sonnengebleichten Holz abhob.

„Dies ist alles was du brauchst. Dieser dunkle Punkt ist dein Fenster in die Unendlichkeit.“

Dann deutete er auf eine Stelle, an der ein Tropfen Spritzwasser in der Sonne glitzerte, danach auf ein mit Öl verschmiertes Tau.

„Oder dies, oder das, ganz egal. Alles was du brauchst ist ein Punkt an dem du dich verankerst, während deine Gedanken in dich hinein fallen und dort für Ordnung sorgen.

Deine erste Übung ist, in diesen Fixpunkt hinein zu blicken, bis du hindurch sehen kannst. Bis sich die Dunkelheit in diesem Punkt öffnet und du die Weite der Welt in diesem Punkt entdeckst.“

Die sonore, gleichförmige Stimme des Magiers drang immer schwächer an Nats Ohr. Sein Blick schien sich in das Astloch auf der Reling hinein zu bohren. Aber er sah nur ein Stück Holz mit einem Loch darin. Fehlte nur noch, dass gleich ein Holzwurm rausguckte und ihm die Zunge ausstreckte. Nat verstand den Sinn nicht. Auch wenn er in das Holz hinein starren konnte, darin war keine Weite. Was glaubte dieser Umhangträger in einem Stück Holz finden zu können? Nat grunzte verärgert.

Ein leises Lachen ertönte.

„Kannst du dich erinnern? Erinnern, dass ich dich fragte, ob du besondere Dinge erlebt hast, Dinge, die dir nicht erklärlich sind? Erinnern an eben diese Dinge?“

Nat ließ den Blick auf das Holz gerichtet. Wo sollte denn diese Frage hinführen?

„Du warst damals bestimmt noch ein Kind, als dir diese Dinge widerfahren sind. Für Kinder ist es leicht, die müssen sich nicht anstrengen, um Wege in ihr Innerstes zu finden. Das geht bei ihnen instinktiv. Aber mit dem Kind sein geht uns diese Leichtigkeit verloren und wir brauchen Anleitung auf dem Weg dorthin. Aus diesem Holz wird kein Holzwurm hervorkriechen und dich auslachen, es ist nur eine Tür in die Weite in deinem Inneren.“

Die Weite in seinem Inneren. An was für einen verrückten Spinner … verdammt, der konnte ja anscheinend seine Gedanken lesen.

Dieser alberne dunkle Punkt auf dem Holz …, kein Mensch auf den bekannten Welten konnte aus einem Punkt in … .

Nat spürte ein Ziehen hinter den Augäpfeln, so als würde er angestrengt versuchen zu schielen. Sein Blickfeld zog sich zusammen, blendete alles aus, was um ihn herum war. Sein Sehen konzentrierte sich immer stärker auf dieses Loch im Holz. Das Loch schien an Tiefe zu gewinnen, wie ein Höhleneingang in einem Berg, der zunächst nur ein großer dunkler Fleck auf einer Felswand war. Doch je dichter man heran kam, umso größer wurde das Loch, wurde tiefer. Man konnte die Hand hineinstecken, den Fuß oder ganz eintreten. Und noch weiter hinein, immer weiter.

Nats Blick wurde immer intensiver, fixiert auf ein fingernagelgroßes Loch im Holz. Er durchdrang das eine Handbreit dicke Holz und ergoss sich dann in eine endlose Weite.

Er sah nicht das Meer, dass ruhig und gleichmäßig unter dem Schiff vorbei zog.

Die Weite, in die Nat blickte hatte keine festen Farben, kein oben oder unten.

Sein Blick wurde immer tiefer in diese Weite gezogen, die Gedanken, die in seinem Kopf rasten, kamen zur Ruhe und sortierten sich in vielen inneren Kisten und Kästen ein.

Sein zunächst noch unruhiger Körper streckte sich, bis Nat hoch aufgerichtet aber trotzdem entspannt und ruhig da saß.

Jargo beobachtete ihn fasziniert. Noch nie hatte er jemanden getroffen, der innerhalb eines Augenblicks so tief zu sich selbst finden konnte. Er flüsterte eine geheime Formel und sein Blick verklärte sich.

Er sah jetzt nicht mehr nur den jungen Mann, der in entspannter Haltung, in sich versunken auf dem Deck saß.

Um diesen jungen Mann herum hatte sich eine Aura von einer Intensität gebildet, die Jargo in dieser Ausprägung nicht erwartet hatte.

Die Mitte war von einem hellen Blau, dass verblasste, je weiter es nach außen trat.

Einzelne Schlieren, wie Tinte auf dem Wasser, zerfaserten noch mehr als eine Armlänge von Nat entfernt.

Die Aura pulste mit ruhigen Schlägen.

Jargo löste seinen Blick von dieser Aura und kehrte zu seinem normalen Sehen zurück. Völlig entspannt und offen saß Nat vor ihm und sah ihn an.

Jargo hob mit langsamen Bewegungen einen breiten Holzsplitter auf, der neben ihm auf dem Deck lag.

Plötzlich warf er Nat den Holzsplitter zu. Mit einer blitzschnellen Bewegung schoss Nats rechte Hand vor und fing den Holzsplitter. Dieser bohrte sich dabei jedoch tief in Nats Daumenballen.

Nat schrie leise auf, sein Blick wurde unstet und mit einer schnellen Bewegung riss er den Splitter aus seiner Hand

„Verdammt, was sollte das?“ Nats Augen funkelten wütend.

Mit einem schelmischen Grinsen sah Jargo ihn an. „Das war ein erster Schritt deines Trainings für die nächsten Wochen. Ich glaube, Du kannst hier sehr viel lernen.“

Langsam erhob er sich und zog Nat mit sich.

„Außerdem werden wir diese Schiffsreise nutzen, damit du möglichst viel über das Leben lernst, über die Welt, die dich umgibt und über die Menschen und anderen Wesen, die in ihr leben.“

Er machte eine weit ausholende Bewegung und wies über das Meer bis zum Horizont.

„Stell dir vor, du könntest über das Wasser gehen. Wen würde es berühren, wen interessieren und wen stören, dass du auf deinem Weg zum Horizont gehst?“

Nat sah angestrengt in die Ferne und versuchte sich das Bild, welches Jargo herauf beschwor vorzustellen. Was sollte diese Frage? Wen sollte es interessieren?

„Niemanden! Kein Schwein würde sich dafür interessieren, dass ich über das Wasser spaziere.“

Er schüttelte den Kopf und kniff die Augen zweifelnd zusammen.

„Wie Du meinst.“ Jargo blieb völlig unberührt von dem offensichtlichen Unverständnis seines Schützlings. Dann wies er auf das Deck des Schiffes hinter sich.

„Und wenn du das Deck überquerst und in deine Kajüte zurück kehrst, wen würde das berühren, interessieren oder stören?“

Nat lag eine schnelle Antwort auf der Zunge. Auch das würde natürlich niemanden interessieren, niemand würde das bemerken.

Doch er zögerte, dachte nach und entdeckte einen ersten Ansatzpunkt für Jargo’s Frage. Diese Frage enthielt sehr viel mehr, als ihm bisher klar war.

„Es kommt darauf an.“

Jargo’s Grinsen wurde breiter.

„Wenn ich nichts und niemanden berühre, niemand mich ansieht, niemand seinen Schritt meinetwegen verzögern oder beschleunigen muss und meine Bewegung auf dem Schiff den gesamten Ablauf nicht stört oder fördert, dann interessiert es niemanden.“

Jetzt sah Nat direkt in Jargos, seltsam verschleierte Augen.

„Aber wenn eines dieser Dinge passiert, dann interessiert es einen oder viele, hier oder in der gesamten Welt.“

Er erinnerte sich an einen Spruch eines alten Mannes. Dieser Mann hatte in der Stadt in der Nat aufgewachsen war vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf einer Bank unter der Dorfeiche gesessen und dem Treiben der Dorfbewohner zugesehen.

Die Kinder hatten es geliebt, seinen Geschichten und Weisheiten zu lauschen.

„Der Furz, den ich nach einem guten Essen fahren lasse, dieser Wind kann am anderen Ende der Welt ein Sturm werden. Hoffentlich aber nicht so stinkend.“

Das hatte der alte Mann einmal zu dem kleinen Jungen gesagt, der über ihm bäuchlings auf einem dicken Ast lag.

Nat hatte nicht verstanden, was der alte Mann gemeint hatte, doch jetzt schossen Gedanken durch seinen Kopf.

Auf dem Weg zur Tür könnte ein Mann seinen Schritten ausweichen. Dadurch würde er vielleicht ungewollt ein Fass anstoßen, das durch die Ladeluke aufs untere Deck stürzte und dabei eine Kiste mit Schießpulver zerschlug. Ein dort laufender Matrose, der sich gerade eine Pfeife anzündete, könnte ins Straucheln geraten und stürzen, sein brennender Feuerspan könnte in die zerschlagene Schießpulverkiste fallen und das ganze Schiff könnte in Riesenexplosionen zerplatzen.

„Und auch mein Weg auf dem Wasser könnte Auswirkungen haben. Ein Fischschwarm könnte sich an meinem Schatten erschrecken und seine Richtung ändern, eines der Ungeheuer der Meere könnte sich zu einem Angriff entschließen.

Alle meine Handlungen haben eine Wirkung, ich weiß aber nicht immer welche.“ Er zögerte kurz.

„Eigentlich weiß ich nie, welche Wirkung es hat …, daher kann ich mir darüber auch keine Gedanken machen. Die Götter, die unsere Schicksalsfäden spannen haben vielleicht für jeden Moment unseres Lebens unendlich viele Fäden gespannt. Woher soll ich wissen, an welchem mein Leben gerade hängt?“

Jargo lachte laut auf und schlug Nat kräftig auf die Schulter.

„Sehr gut, mein junger Schüler. Damit hast du bereits eine wichtige Erkenntnis gemacht, für die andere Menschen ihr ganzes Leben brauchen.“

Er fasste Nat am Arm und dirigierte ihn zur Treppe aufs Hauptdeck. „Jetzt sollten wir uns ein wenig unseren weiteren Studien und Übungen widmen, aber dafür gehen wir in meine Kajüte, die direkt neben der deinen liegt.“

Nat sah den Älteren zweifelnd an.

„Und was sollte dann die Sache mit dem Holzsplitter?“

Jargo lächelte ruhig.

„Sieh nach.“

Nat blickte auf seine Hand. Die Wunde, aus der soeben noch einige Tropfen Blut ausgetreten waren, war verschlossen. Die Haut war unverletzt und glatt.

„Was … aber wie … ?“

„Geduld, mein junger Freund. Dazu kommen wir in der nächsten Zeit noch.“

In den folgenden Tagen spielte sich ein immer gleicher Tagesablauf ein.

Frühmorgens weckte Jargo Nat und sie gingen zu ihren gemeinsamen Übungen auf das Deck.

Jargo lehrte Nat viele verschiedene Wege, seine Konzentration zu steigern, auf seine inneren Eingebungen zu lauschen und seinen Instinkten zu vertrauen.

Außerdem trainierte er die körperlichen Fähigkeiten des jungen Mannes. Nat musste Stunde um Stunde über die Wanten in die Takelage des Schiffes aufentern. Bis seine Hände schwielig und hart wurden und seine Füße nur noch aus fingerdicker Hornhaut zu bestehen schien.

Anfangs grinsten die Seeleute noch und lachten hinter vorgehaltener Hand über den jungen Mann, der sich wieder und wieder durch das Tauwerk kämpfte.

Aber immer mehr gewöhnte man sich an den Anblick und begann ihn für seine körperlichen Fähigkeiten und seinen unbändigen Willen zu achten.

Und Nat gierte nach der Anerkennung, die Jargo ihm für seine körperlichen Höchstleistungen angedeihen ließ.

Sehr schnell wurde Jargo für ihn so etwas wie ein Vaterersatz und er wollte alles versuchen, um dem Zauberer zu gefallen.

Die Schiffe liefen noch einige Häfen an, wo sie Proviant und weitere Soldaten aufnahmen. So blieb den Beiden viel Zeit für ihr Training.

Nach den langen schweißtreibenden Stunden saßen Nat und Jargo dann immer lange, teilweise bis in die Nachtstunden zusammen auf der Galion und sprachen über das Leben.

Jargo schien alles zu wissen und war gerne bereit dem jungen Mann seine unzähligen Fragen über das Dasein der Menschen, über die Alte Welt und die Ferne Insel, über andere Königreiche und Völker, andere Rassen und alles was es zwischen Himmel und Erde gab - und darüber und darunter.

Jargo wurde nie müde, die Fragen ausschweifend und bilderreich zu beantworten. Er nutzte seine Ausführungen um Nat immer wieder Lehren für das Leben und vor allem für den Umgang mit anderen Menschen und Völkern zu erteilen.

Diese endlosen Gespräche gaben dem jungen Mann den Eindruck, mehr zu lernen als in seinem ganzen Leben zuvor. Und sie machten ihm deutlich, dass er sein bisheriges Leben mit oberflächlichen Dingen verbracht hatte. Sollte jemals jemand ein Buch über Nats Leben schreiben, so musste dieser schon auf einen dicken Einband hoffen. Denn bei dem Wenigen, das er bisher im Leben geleistet hatte, würde es ansonsten ein sehr dünnes Buch werden.

Nebenbei erfuhr Nat auch mehr über den Auftrag, mit dem die drei Schiffe in Richtung der Fernen Insel aufgebrochen waren.

Rimmond ist die Hauptstadt der Menschen auf der Insel. Sie ist zwar deutlich kleiner als Arkadien, aber aufgrund ihre Lage an der Spitze einer felsigen Halbinsel fast unmöglich einzunehmen oder zu belagern. Das galt zwar auch für Arkadien, aber aufgrund seiner fernen Lage an der äußersten Westspitze der Insel, war sie für die Menschen Thorlands nur schwer zu erreichen. Von der Grenze zu Aventurien bis nach Arkadien war man mehrere Tage auf einem schnellen Pferd unterwegs. Damit war sie als Hauptstadt einfach nicht zentral genug.

Die drei Schiffe hatten jetzt den Auftrag nach Rimmond zu segeln und sich mit dem dortigen Statthalter in Verbindung zu setzen.

Wenn man einen Überblick über die Situation auf der Fernen Insel bekommen hatte, sollten die Schiffe zurück segeln in die Alte Welt und den König informieren.

Die Soldaten aber sollten sich durch Thorland auf den Weg machen und Arkadien und die anderen Städte der Menschen aufsuchen.

Wenn nötig sollten sie sich Unterstützung in Rimmond, aber auch bei den anderen Rassen erbitten.

Hierfür begleitete insbesondere Jargo diese Reise. Er sollte mit seinem diplomatischen Geschick und dem Einsatz überzeugender Magie die Hilfe der Elfen und Zwerge erreichen.

Bei den Barbaren verfehlte diese Art der Überzeugung in der Regel ihre Wirkung. Diese reagierten nur auf die Macht des Schwertes. Ihr derzeitiger Anführer Gronik war hier allerdings eine Ausnahme. Durch die Macht des Schwertes zum Anführer – Begriffe wie König oder Fürst kannten die Barbaren nicht – geworden, hatte er ein ausgeprägteres Maß an Intelligenz als die anderen Haudraufs seines Volkes.

Durch die Gespräche, die endlose Geduld die Jargo mit seinem Schützling zeigte und Nats Bedürfnis nach väterlicher Führung entwickelte sich in kurzer Zeit ein inniges Verhältnis zwischen den beiden Männern.

Auch Jargo nahm Nat an wie einen Sohn, bewunderte das Potential, dass dieser junge Mann hatte und freute sich genau so auf die langen gemeinsamen Stunden.

Es wurde aber auch schnell deutlich, dass Nat über gewisse magische Resistenzen verfügte, aber kaum Talent für das Erlernen magischer Fähigkeiten besaß.

Selbst einfache Übungen wie das Bewegen kleiner Gegenstände, das Anzünden einer Kerze durch Gedankenkraft oder das Heilen kleiner Wunden, die Jargo sich selber beifügte überforderten sein Talent.

Wenn er versuchte, eigene Verwundungen zu heilen, scheiterte er mit der Magie. Allerdings zeigte dann sein Körper besondere Fähigkeiten und kleinere Wunden schlossen sich in wenigen Momenten.

Jargo bat die Soldaten an Bord, Nat in Kampfesfähigkeiten zu unterweisen, aber die meisten verfügten nur über ausgeprägte Fähigkeiten im Kampf in der Formation. Gute Einzelkämpfer, die auch bereit waren mit Nat zu arbeiten gab es jedoch keine.

Hierfür fehlte auch fast die Zeit, weil Jargo und Nat Stunde um Stunde die Fähigkeiten trainierten, die Jargo unterweisen konnte.

Eines Nachts weckte Jargo seinen Schützling und führte ihn an Deck.

Dicke Wolken hatten sich vor den Mond und die Sterne geschoben und die Schiffslaternen an Bug und Heck stellten die einzigen Lichtpunkte dar.

Jargo sprach kurz mit den Wachen und nach kurzem Zögern drehten beide die Lampen soweit herunter, bis das Hauptdeck in totaler Finsternis lag.

„Jetzt kann es losgehen.“ Jargo nahm Nat an die Hand und führte ihn zu den Wanten an der Steuerbordseite. Er bewegte sich in der völligen Dunkelheit mit traumwandlerischer Sicherheit.

„Ich will, dass Du jetzt hier aufenterst, über die Takelage auf die Backbordseite wechselst und dann auf der Backbordseite wieder herunter kletterst.“

„Was?“ Nat sog zischend die Luft ein. „Das ist nicht dein Ernst. Ich kann nichts sehen. Wie soll ich dann durch die Wanten klettern. Ich werde abstürzen.“

„Dafür gibt es nur einen Grund. Nämlich, dass du deine Fähigkeiten nicht nutzt. Und das ist nicht akzeptabel!“

Er nahm Nats Hand und führte sie zu den untersten Seilen der strickleiterähnlichen Wanten.

„Ich erwarte, dass du spätestens beim dritten Mal schneller bist als bei deiner schnellsten Runde am heutigen Tag.“

Nat war am frühen Nachmittag in einem Tempo über die Takelage gestürmt, das selbst bei alten erfahrenen Seeleuten staunende Bewunderung hervorgerufen hatte.

„Drei mal. Ich werde beim ersten Mal zu Tode kommen!!!“

„Tss, tss, tss, ich will nichts mehr hören. Vertraue auf deine Fähigkeiten.“

Nat fasste das Seil fester und versuchte sich zu konzentrieren. Er kannte „den Weg“ wie seine Westentasche. Das musste doch zu schaffen sein. Eine langsame Runde. Dann eine Runde für mehr Selbstvertrauen. und zuletzt eine schnelle Runde.

Schneller als am Tag war natürlich unmöglich, aber das würde Jargo schon akzeptieren.

Er enterte die Wanten auf. Vorsichtig tastete er sich über die Seile, die von der Salzluft ganz hart waren. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit, aber er konnte nur aus den Augenwinkeln das schwache Glimmen der Schiffslaternen erkennen. Hier oben herrschte vollkommene, fast übernatürliche Finsternis.

Jargo beobachtete seinen Schützling mit verschleiertem Blick. Die Aura um Nat war klein, schwach und unruhig flackernd. Kopfschüttelnd fluchte Jargo in sich hinein. Er nutzte seine Fähigkeiten nicht. Naja, das erhöhte vielleicht den Lerneffekt.

Langsam erreichte Nat die Höhe der Takelage. Das wurde ihm schmerzhaft deutlich, als er mit dem linken Ohr gegen die Rah stieß.

Seine Füße fanden das quer laufende Seil und mit den Händen stützte er sich auf das dicke Querholz und hangelte sich so rüber auf die andere Seite des Schiffes.

Zum Glück war die See ruhig, das leichte Krängen des Schiffes behinderte seine Bewegungen nicht.

Nach einigen Momenten hatte er die Backbordseite erreicht. Seine suchenden Füße fanden die Stricke der Wanten und vorsichtig kletterte er herunter, bis er wieder das Deck erreicht hatte.

Suchend tastete er um sich, bis Jargo seine Hände ergriff.

„Du nutzt deine Fähigkeiten nicht. Warum versuchst du zu sehen, du kannst mit den Augen nichts sehen. Es ist zu dunkel.“

Jargo drehte Nat um und legte seine Hände wieder auf die Wanten, diesmal an der Backbordseite.

„Nutze deine Fähigkeiten, die dir jetzt zur Verfügung stehen. Sehe ohne zu sehen. Und vor allen Dingen … sei schneller, viel schneller!“

Er gab Nat einen leichten Stoß.

Seufzend umfasste Nat die Wanten fester. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber immer wieder merkte er, dass er die Augen weit öffnete.

Also los, jetzt galt´s!

Schnell enterte er die Wanten hinauf, ja er kannte eigentlich wirklich jedes Seil, jeden Handbreit, jeden Tritt.

Er erreichte die Rah und warf sich nach vorne, um über die Takelage zu laufen. Doch in der Dunkelheit hatte er sich verschätzt. Da wo er die Rah und das Seil der Takelage erwartete, war nur Leere.

Seine Hände griffen ins Nichts, mit einem Finger streifte er noch das Holz der Rah, dann stürzte er aufschreiend in die Tiefe.

Er ahnte das Deck auf sich zu rasen und verspürte seltsamerweise Bedauern darüber, dass er Jargo enttäuscht hatte. Dann traf ihn ein Luftstoß von unten und milderte seinen Aufprall. Dennoch schlug er hart auf, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Mit einem Knacken brachen einige Rippen und seine Hand wurde durch den Aufprall regelrecht zertrümmert.

Nat atmete gepresst ein und alles drehte sich um ihn herum. Die Sterne, die vor seinen Augen tanzten waren das erste Licht, dass er in den letzten Minuten gesehen hatte.

Plötzlich spürte er Jargo neben sich.

“Du nutzt deine Fähigkeiten nicht.“

In der Dunkelheit konnte Nat Jargos verärgertes Gesicht nicht sehen, aber dessen Stimme ließ an seiner Wut keinen Zweifel.

Jargo legte seine Hände auf Nats Körper und murmelte einige Worte.

Wie eine warme Welle spülte ein Schauer durch Nats Körper, mit einem unhörbaren Knirschen richteten sich seine gebrochenen Rippen und die zertrümmerten Knochen seiner Hand.

In wenigen Sekunden wuchs zusammen, was zuvor scheinbar unrettbar verletzt worden war.

Mit einem tiefen Zug sog Nat Luft in seine gepressten Lungen. Kein schmerzhafter Stich fuhr ihm durch die Brust. Als er sich langsam aufrichtete blieb sein Blick klar. Die Sterne waren verschwunden, um ihn herum herrschte wieder undurchdringliche Dunkelheit.

Ein suchender Rundumblick und er entdeckte den matten Schimmer der beiden Schiffslaternen.

Langsam stand Nat auf und begab sich wieder zu der Stelle, wo er die Wanten vermutete.

- Du nutzt deine Fähigkeiten nicht. Sehe ohne zu sehen. - Verdammt es musste doch möglich sein.

Nat erinnerte sich an die vielen Übungen, die Jargo mit ihm gemacht hatte.

Er schloss die Augen, die konnten ihm ohnehin nicht helfen. Und die Hoffnung darauf raubte ihm nur die Konzentration auf seine anderen Sinne.

Er suchte Stärke, tief in seinem Inneren, seine Atmung beruhigte sich. Einige Augenblicke stand er völlig unbeweglich, dann trat er einen halben Schritt nach vorne, drehte sich leicht nach rechts und griff mit ruhiger Hand nach dem Halteseil der Backbordwanten.

Plötzlich war es für ihn völlig klar, wo die Seile der Wanten waren, er sah nichts aber er … wusste.

In der tiefen Dunkelheit zog ein Lächeln über Jargos Gesicht, durch den verklärten Blick sah er die starke blaue Aura, die, nur für ihn sichtbar, Nat in ihrem Licht erstrahlen ließ. Jetzt war es da, jetzt vertraute er sich seinen Fähigkeiten an.

Mit schnellen Griffen zog Nat sich auf die Wanten und enterte wie ein Affe die Seile hinauf. Er überstieg die Rah und anstatt sich in die Taue zu stellen und sich entlang zu hangeln trat er auf das etwa eine Hand breite Querholz und lief darauf entlang, als würde er bei strahlendem Sonnenschein über das Deck laufen. Dass es sich in völliger Dunkelheit fünf Mannshöhen über Deck befand hatte für ihn keine Bedeutung.

Geschickt umstieg er die Haltetaue, die die Rah und das eingewickelte Segel hielten und hatte in wenigen Momenten die andere Seite des Schiffes erreicht.

Ohne anzuhalten lief er über das Ende der Rah hinaus, packte mit einer Hand die Wanten und wurde von seinem Schwung in das Seilgeflecht hineingetragen.

Mit schnellen geschickten Sprüngen sauste er hinab und stand in kürzester Zeit auf dem Deck.

Jargo blieb ganz ruhig stehen und er spürte, wie ihm vor Stolz das Herz ganz weit wurde.

Mit ruhigen Schritten kam Nat auf ihn zu, trat in den Eimer, den der Schiffsjunge nach dem Schrubben des Decks offensichtlich hier vergessen hatte und knallte mit Gepolter aufs Deck.

Langsam schob der Wind die Wolken beiseite und gab den Blick frei auf das ruhig dahin treibende Schiff, den Magier, der sich vor Lachen den Bauch hielt und den jungen Mann, der mit nassem Fuß auf dem Deck saß und sich den schmerzenden Hintern rieb.

Iskandrien - Die ferne Insel

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