Читать книгу Iskandrien - Die ferne Insel - Carl C. Pörksen - Страница 8

Neue Freunde

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Er strich um die Wiege,

wartet, dass es zu ihm kam.

Der Hunger und Durst,

ihm das kleine Leben nahm.

Das Lied des Helden“ von Galfir Galbrandsson

„Ich bin im Himmel!

Oh ihr Götter, womit habe ich verdient,

dass ihr mir einen Engel schickt?“

Mit letzter Kraft schlug Nat nach der Mücke, die sich in seinem Nacken festgesogen hatte.

Sein Schlag war ungefähr so schnell, wie das Voranschreiten einer Wanderdüne.

Die Mücke konnte ohne Gefahr noch einen tiefen Zug nehmen, ehe sie aufstieg und am anderen Ende des Mastes wieder Platz nahm.

Nat sah regelrecht vor sich, wie dieser kleine Plagegeist seinen Rüssel zu einem spöttischen Grinsen verzog und sein Opfer abwartend beobachtete.

Fast im selben Moment setzte das Jucken im Nacken ein und gesellte sich zu den anderen juckenden, brennenden und stechenden Schmerzen, die sich über Nats ganzen Körper verteilten.

Am Nacken, den Unterarmen und im Gesicht hatte ihm das Brennen der unbarmherzigen Sonne bereits die Haut in großen Stücken abgeschält.

Er versuchte sich auf die Übungen zu konzentrieren, die Jargo ihm beigebracht hatte. Die Übungen, die ihm eine schnelle Heilung gebracht hatten, bei den Unfällen, die er bei seinen Übungen erlitten hatte. Aber sein geschwächter Geist ließ es nicht zu, dass er seine Gedanken lange genug auf eine Sache richtete, um den Effekt auszulösen.

Dies war jetzt der dritte Tag fast allein auf dem Meer, dahin treibend auf dem Überrest eines Mastes. Drei Tage und zwei Nächte ohne Essen und vor allen Dingen ohne Wasser.

Wie oft hatte Nat schon überlegt, mit der hohlen Hand das Meerwasser in sich hinein zu schaufeln.

Doch ihm war klar, dass der hohe Salzgehalt des Meeres seinen leeren Magen binnen kurzer Zeit zerfressen würde.

Er kannte die Geschichten, die von den Seeleuten erzählt wurden, die seinen Onkel mit Waren beliefert hatten.

Von Männern, die man auf dem Meer aufgefischt hatte, nachdem sie Schiffbruch erlitten hatte. Und die aus lauter Not das Seewasser getrunken hatte.

Unter unmenschlichen Qualen hatten diese Männer ihre letzten Tage auf Erden verbracht. Nicht wenige hatten um einen schnellen Tod gebettelt, weil die Schmerzen in ihren Eingeweiden unerträglich waren.

Nein, darauf würde Nat sich nicht einlassen.

Er hatte auch schon mehrfach den Gedanken gehabt, sich von dem Mast gleiten zu lassen und langsam in die Tiefe des Meeres zu sinken. Dann hätte die Qual ein Ende. Kein Durst mehr, kein Hunger und endlich Ruhe und Frieden.

Doch der Gedanke an die Rache war weiterhin stärker als sein Wunsch nach Erlösung und so hielt er sich krampfhaft auf dem schwankenden Stück Holz im Meer.

Da, am Horizont tauchte ein Schiff auf.

Das war ungefähr das zehnte Schiff in den letzten Stunden.

Nat wusste, das seine Phantasie ihm hier Streiche spielte. Einmal hatte er geglaubt, dass Spook auf einem Meeresungeheuer an ihm vorbei ritt und ihm die Hand entgegen streckte, um ihn auf sein Reittier zu ziehen.

Als er von dem Mast ins Meer gerutscht war, hatte er gemerkt, dass er eingedöst war und ihm ein Traum den Verstand verwirrt hatte.

Nur unter größter Mühe war es ihm gelungen, sich wieder auf den Mast zu ziehen.

Das Salzwasser hatte wie sich wie tausende kleiner Messer in die brennenden Hautstellen gebohrt.

Er döste wieder ein.

Oh Mann, jetzt hörte er sogar schon das Plätschern des Meeres an der Bordwand eines Schiffes und ein Schatten schob sich vor die gleißende Sonne.

Wenn die Phantasien jetzt schon so real wurden, wann würde sein Verstand endgültig zusammenbrechen.

Nat hob leicht den Kopf und sah zwei Männer, die an Seilen an der Seite des Schiffes hingen und die Arme nach ihm ausstreckten.

„Ksch, ksch – fort Du blöde Phantasie.“ Ein Lächeln huschte über Nats aufgeplatzte Lippen. Ein Blutstropfen bildete sich im rissigen Mundwinkel.

Dann sank sein Kopf auf den Mast und eine gnädige Ohnmacht fing ihn ein.

Dass er von vier kräftigen Händen gepackt und auf das Deck eines Schiffes gehoben wurde spürte er nicht mehr.

Rrordrak lehnte sich auf dem schmutzstarrenden Thron zurück, seine krallenartigen Hände lagen entspannt auf den breiten Armlehnen.

Die Kopfschmerzen waren abgeklungen, ein tiefer Friede, sofern er in der Lage war so etwas zu empfinden, hatte sich in ihm ausgebreitet.

Mit einem schmalen Lächeln blickte er auf den riesigen schwarzen Drachen, der mitten im Thronsaal hockte und sich an einem Berg toter Rinder und Schweine gütlich tat. Krachend brachen Knochen und schubkarrengroße Brocken verschwanden mit einem Schnappen in dem brodelnden Schlund.

Das kannte er doch schon. Das hatte er doch schon mal erlebt. Wie nannte man das denn noch, wenn man etwas schon mal erlebt hatte? Es war irgendwas fremdsprachiges …? Na, egal!

Nat erwachte, sein Schädel brummte und seine Augen waren verklebt, als hätte ihm jemand Honig übers Gesicht gekippt. In seiner Kehle war ein trockenes Kratzen und seine Arme schienen Tonnen zu wiegen.

Mit geschlossenen Augen überprüfte er seine Körper.

Aha, hier kamen doch ein paar Unterschiede.

Füße? Brennend, aber noch da.

Beine? Auch brennend, aber auch noch da.

Körpermitte? Inaktiv und ohne besondere Beeinträchtigungen.

Bauch? Ohrenbetäubend knurrend, unendlich leer, extrem flau.

Brust? Herz schlug noch, Atmung flach und schmerzhaft.

Hals? Innen - Trocken, kratzig, knapp erträglich.

Außen: Brennend, Juckend, Aaargh!

Arme? Na was wohl, Brennend, schwer, und kraftlos.

Hände? So muss es sich also anfühlen, wenn man nur aus rohem Fleisch besteht.

Kopf? Oh ihr Götter.

Nats Kopf fühlte sich an als wäre er fünfmal so groß wie normal und mit Daunen gefüllt. Allerdings mit Daunen, die ab und zu kleine Blitze in die Schädeldecke jagten.

Er stöhnte, versuchte seine verklebten Lider zu öffnen.

„Schschtt! Still liegen.“

Eine kühle Hand legte sich über Nats Gesicht. Die heisere Stimme eines Mannes drang in Nats brennendes Ohr.

„Nicht bewegen. Ich werde dich jetzt mit einer Salbe einschmieren, die deiner Haut Linderung bringt. Und deine Augen sind mit einer Binde geschlossen. Die Haut ist stark verbrannt. Wenn du jetzt die Augen öffnen würdest, würde dir das enorme Schmerzen bereiten und die Heilung verzögern.

Versuche einfach weiter zu schlafen.“

Nat spürte eine Hand, die sich unter seinen Nacken schob. Vorsichtig, um die geschundene Haut nicht zu sehr zu quälen wurde sein Kopf angehoben. Und dann flossen einige Tropfen einer kühlen Flüssigkeit über Nat`s Lippen.

Er schnappte danach wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Langsam, nicht so hastig. Dein Körper verträgt alles nur in ganz geringen Mengen..“

Dem Druck der Hand folgend hob Nat den Kopf noch etwas an und bemühte sich um Zurückhaltung.

Wieder lief die Flüssigkeit über seine Lippen, dann über die ausgetrocknete geschwollene Zunge und hinein in die kratzende Kehle.

Nat schmeckte nichts aber er wusste dennoch, dass dies das Leckerste war, was er je in seinem Leben getrunken hatte.

Er spürte jeden Fingerbreit, den sich die Flüssigkeit durch seinen Körper schob. Als sie im Magen ankam, schien dies das Knurren noch zu verstärken.

„Hunger!“ Nat wusste nicht ob sein Wohltäter ihn gehört hatte. Er hatte sich ja selber nicht einmal gehört.

„Ah, ja, natürlich!“

Nat hörte ein Scharren, ein Klappern, sein Kopf wurde noch etwas weiter angehoben und dann spürte er einen glatten Holzlöffel an seinen schorfigen Lippen und eine warme würzige Suppe wurde ihm eingeflößt.

Sein Magen schien Kapriolen zu schlagen, doch nach einigen Löffeln merkte er, wie ihm der Schweiß ausbrach, Schwindelgefühle überkamen ihn, dann versank die Welt wieder in vollkommener Dunkelheit.

Als er das nächste Mal zu sich kam, spürte er, dass die Binde über seine Augen entfernt worden war.

Die übliche Bestandsaufnahme ergab, dass die Schmerzen in allen Körperteilen auf ein erträgliches Maß abgesunken war.

Sein Kopf pochte leicht, hatte aber wieder seine normale Größe erreicht.

Es roch stark nach verschiedenen Kräutern, unter anderem Kampfer und ein Geruch, den er im Kontor seines Onkels nur sehr selten gerochen hatte. Eine stark ölige Pflanze vom Fernen Kontinent, die Aloe genannt wurde.

Das Brennen seiner Haut hatte nachgelassen und war einem leichten Ziehen gewichen.

Er hob mühevoll die Arme. Seine Hände schienen noch leicht geschwollen zu sein und die Finger waren steif und unbeweglich.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und es fühlte sich rau und rissig an wie ein ausgetrocknetes Flussbett.

Ganz vorsichtig schob er sich in seinem Bett nach hinten und setzte sich auf. Die raue Wolldecke, mit der er zugedeckt war rutschte bis zur Taille herab.

Der erwartete Kopfschmerz blieb aus.

Als nächstes stand Augen öffnen auf dem Plan. Die Lider schienen sich zunächst noch zu verweigern, doch dann hoben sie sich langsam und flatternd.

Sanftes Licht fiel ihm in die Augen und ließ ihn blinzeln.

Er stöhnte auf.

Sofort hörte er ein Rascheln und das Licht wurde abgemildert.

Ganz vorsichtig fuhr er sich mit den Händen über die Augen, rieb die juckenden Lider, bis die Spannung nachgelassen hatte und er die Augen aufschlug.

Er sah sich suchend um und sofort fiel sein Blick auf … oh ihr Götter … die schönste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte.

Er hatte schon viele gut aussehende Frauen gesehen, denn immerhin hielt er den Umgang mit diesen schönen Wesen für eine seiner Berufungen.

Doch was hier vor ihm stand ließ seinen Mund aufklappen wie bei einem Fisch auf dem Trockenen.

Die Frau war etwas mehr als mittelgroß, von schlanker Figur aber mit Rundungen an den Stellen, wo sie einem Mann besonders gut gefielen.

Üppige schwarze Locken fielen ihr ungebändigt ins ebenmäßige Gesicht. Sie hatte graugrüne Augen, die ihn abschätzend anblickten, eine kleine gerade Nase und eine vollen Mund, der sofort den Wunsch nach einem Kuss in ihm aufsteigen ließ.

Sie trug hohe Stiefel, eine weiche Lederhose und ein weites weißes Hemd. Die schmale Taille wurde betont durch einen Gürtel, an dem ein Dolch und ein langer Säbel hingen.

„Ich bin im Himmel! Oh ihr Götter, womit habe ich verdient, dass ihr mir einen Engel schickt?“ Nat hatte mühsam seine Sprache wiedergefunden.

„Ha, Ha, Ha. Äußerst originell. Solltet Ihr euch je auf eine Stelle als Hofnarr bewerben, würde ich diesen Spruch vermeiden. Damit seid ihr sofort draußen.“

Die Schöne beugte sich vor, hob einen Holzlöffel vom Boden auf und schlug Nat damit leicht auf seinen verbrannten Unterarm. Der Schmerz ließ ihn aufstöhnen.

„Außerdem hoffe ich, dass die Schmerzen im Himmel ein Ende haben. Das hat bei euch ja offensichtlich noch nicht geklappt.“

Nat holte tief Luft.

„Behandelt man so seine Gäste? Ich bin krank.“

Im selben Moment ärgerte er sich selber über seinen wehleidigen Tonfall. Verstockt zog er die Decke hoch und bedeckte seinen nackten Oberkörper.

Die Frau verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas Saures gebissen.

„Ihr seid kein Gast, sondern Treibgut, das wir aufgelesen haben. Wenn Treibgut anfängt zu stinken werfen wir es wieder über Bord. Und ihr seid nicht krank sondern nur ein bisschen zu lange in der Sonne gewesen.“

Sie stand auf und wandte sich zur Tür.

„Wenn ihr beabsichtigt wie ein kleines Kind herum zu greinen, dann tut das ohne mich. Und wenn ihr etwas zu sagen habt, dann heraus damit. Aber verschwendet nicht meine Zeit.“

Nat sah der Frau nach. Sie öffnete schwungvoll die Tür, trat hinaus und ließ die Tür zuknallen.

Oh Mann, das hatte er ja schön verrissen. Da stand die schönste Frau aller Zeiten vor ihm und ihm fielen nur Sprüche ein, mit denen man keine Hafendirne rumgekriegt hätte.

Frustriert stieß er den Kopf gegen die Wand, was ihm die Kopfschmerzen einbrachte, die ihm bisher noch gefehlt hatten.

Er sah sich jetzt in dem Raum um, in dem die schmale Pritsche stand.

An der Wand, die der Tür gegenüber lag war eine Metallplatte eingezogen und ein Querträger diagonal verstrebt.

Offensichtlich diente dieser Raum sonst zur Lagerung von Waren. Es gab kein Fenster, das Licht kam von einer leicht qualmenden Öllampe, die ihren flackernden Schein auf die leeren Wände und den Boden warf.

Neben der Lampe lagen seine Sachen, geflickt und sauber. Nur Stiefel gab es keine. Nat konnte sich nicht mehr erinnern, ob er diese während seiner Odyssee auf dem Mast verloren hatte oder ob möglicherweise einer der Seeleute jetzt neu beschuht über das Deck spazierte.

Nat hob die Decke an und sah an sich herab.

An den Stellen, die durch die Kleidung bedeckt gewesen waren, konnte er nur leichte Scheuerstellen von den Tagen auf dem nassen Holz erkennen.

An den Stellen, wo die Sonne ihm die Haut verbrannt hatte, war eine gelbliche Salbe dick aufgetragen. Die Hautstellen waren teilweise verschorft und bei jeder Bewegung spürte er einen ziehenden Schmerz.

Er würde vorsichtig sein müssen, wenn er nicht wollte, dass diese Stellen wieder aufrissen.

Langsam richtete er sich auf und kleidete sich an. Dann ging er, barfuß wie er war, zur Tür und trat hinaus.

Der Raum, in dem er geschlafen hatte gehörte zu einer Flucht von jeweils drei Räumen auf jeder Seite des Schiffes, getrennt durch einen schmalen Gang.

An der einen Seite endete der Gang an einer Holzwand, an der anderen Seite öffnete er sich zu einem weiten Laderaum, der die gesamte Breite des Schiffes einnahm.

Auch die Seitenwände des Laderaumes, und somit die Bordwände des Schiffes waren mit und weiteren Querstreben verstärkt. Die Konstruktion bedeutete eine erhebliche Verstärkung des Rumpfes, die leichtem Beschuss und einem dagegen prallenden Schiffsrumpf durchaus standhalten konnte.

An der anderen Seite des Laderaumes sah er einen weiteren Raum, in dem Hängematten zwischen den Tragpfosten baumelten. Hier handelte es sich offenbar um den Schlafraum der Matrosen.

An der einen Seite führte eine Leiter durch eine halb geöffnete Ladeluke zum nächsten Deck. Hier handelte es sich um das Kanonendeck.

Eine kurze Zählung ergab, dass fünf schwere und elf leichte Kanonen an jeder Seite hinter den geschlossenen Geschützpforten lauerten. Sauber aufgeschichtet lagen Kanonenkugeln und Kartätschen bereit, um Tod und Verderben über die Gegner zu bringen. Im Gegensatz zu dem etwas unordentlichen Unterdeck herrschte hier eine fast zwanghaft anmutende Ordnung. Alle Spannseile für die Kanonen waren ordentlich aufgewickelt. Die Kanonenkugeln lagen in sauberen Pyramiden in schmalen Holzkisten, die auf das Deck genagelt waren.

Über jeder Kanone führten Laufkatzen in das Schiff hinein, an denen die Kanonen ins Schiff gezogen wurden um in Sekundenschnelle neu geladen werden zu können.

Alles war wie eine effiziente und tödliche Maschinerie aufgebaut.

Das konnte kein normales Handelsschiff sein.

Nat sah sich noch einmal kurz um, aber es schien sich auch hier unten niemand zu befinden.

Er stieg die Leiter ganz nach oben.

An Deck gab es kaum Bewegung. Überall lagen Männer herum und schliefen in der Sonne, andere spielten Karten oder ließen die Würfel rollen.

Nur wenige erfüllten die Aufgaben, die notwendig waren ein Schiff voranzubringen.

Nat sah sich verwundert auf dem Deck um. Ein Schiff wie dieses hatte er noch nie gesehen. Die Reling des Schiffes war weit nach oben gezogen, deutlich über Mannshöhe. Auf halber Höhe lief ein schmaler Holzsteg an der Reling entlang, der es den Seeleuten ermöglichte mit dem Oberkörper über die Reling zu gelangen um zum Beispiel Pfeile abzuschießen oder heißes Pech auf tiefer gelegene Schiffe zu gießen.

Zudem vermittelte es anderen Schiffen den Eindruck gegen ein erheblich größeres und somit schwerfälliges Schiff zu segeln. Das glich das höhere Gewicht der Verstrebungen unter Deck wieder aus.

Drei Teile der Reling je Seite waren mit Seilen gesichert. Nat sah genauer hin und entdeckte Scharniere an den Unterseiten dieser Planken.

Es dauerte einen Moment, bis ihm der Sinn dieser Vorrichtungen aufging.

Dies ermöglichte dem Schiff die Stege etwa eineinhalb Mannslängen weiter auszulegen und somit gegnerische Schiffe überraschend zu entern.

Zudem gelangten mehr Angreifer aus dem sicheren Schutz hinaus in wenigen Sekunden an Bord der geenterten Schiffe.

Das ganze Wasserfahrzeug war offensichtlich aufgebaut wie eine große Kampfmaschine und ausschließlich für den Kampf gegen andere Schiffe ausgelegt.

Und die zerlumpte und undisziplinierte Truppe, die sich an Deck lümmelte machte deutlich, dass es sich hierbei um Piraten und nicht um Soldaten eines Königreiches handelte.

Blackards Piraten?

Bei diesem Gedanken zuckte Nat zusammen. Er musste vorsichtig sein.

Aber was zum Henker machte dann diese schöne Frau auf dem Schiff?

Und warum hatte sie sich bemüßigt gefühlt, mit ihm zu sprechen und nicht einer der Offiziere oder der Kapitän?

Nat blickte sich interessiert um, als er so über das Deck ging. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass weitere Frauen zu der Crew gehörten.

Obwohl das erst auf den zweiten Blick deutlich wurde, da sie sich weder in der Kleidung noch in der Wildheit in ihren Gesichtern von den Männern unterschieden. Allerdings hatten sie keine wild wuchernden Bärte.

Zumindest nicht alle, korrigierte sich Nat. Über ein großes Fass gebeugt wusch sich eine der Frauen, ungeniert mit freiem Oberkörper. Ihre vollen Brüste schwangen über dem Fass, dann tauchte sie den Kopf tief ins Wasser.

Prustend tauchte sie wieder auf und warf den Kopf hin und her.

Sie entdeckte Nat und blickte ihn grinsend an. Die letzten drei Zähne, die ihr noch geblieben waren blitzten auf unter dem Bart, der ihr voll und schwarz unter der Nase und an den Ohren wuchs.

Nat schreckte zurück, was sie mit einem lauten und meckernden Lachen quittierte.

Nat strauchelte und wäre lang hingefallen, doch dann packte ihn eine riesige Pranke an der Schulter und hielt ihn mühelos auf den Beinen.

Er stöhnte leise auf, als diese ruckartigen Bewegungen seine Haut spannten. schwankend auf seinen Beinen stehend spürte Nat, wie ihm einige Bluttropfen am Nacken herunter über den Rücken liefen.

Er drehte sich um und wäre fast wieder ins Straucheln gekommen. Der Mann, der vor ihm stand war genauso hoch wie breit. Er hatte die breitesten Schultern, die Nat je bei einem Mann durchschnittlicher Größe gesehen hatte und Hände so groß wie Fassdeckel.

Seine enormen Muskeln spielten unter dem Hemd, das seinen massigen Körper umspannte.

„Wenn Du Tally suchst, dann hier rauf.“ Seine Stimme dröhnte, als würde er aus einem großen Kupferkessel sprechen.

Er schob Nat zu der Treppe, die zum Achterdeck hinauf führte.

Nat stieg hoch und blickte sich suchend um.

Da! Ruhig und abwartend stand die schöne Frau, mit leicht gespreizten Beinen für einen sicheren Halt und zeigte lachend hinauf in die Segel.

So war sie noch schöner, als mit ernstem Gesicht.

Nat empfand es als eine körperliche Anstrengung, sich von ihrem Anblick loszureißen, aber er hatte sich gerade eben schon zum Löffel gemacht.

Auf ein bisschen abfällige Ignoranz würde eine solche Frau vielleicht nicht gefasst sein.

Mit einer langsamen Drehung folgte er ihrem Fingerzeig und blickte hinauf zum Krähennest, dem Ausguck an der Spitze des Hauptmastes.

Dort oben standen zwei Männer und stritten sich. Jeder hielt sich mit einer Hand am Mast fest und gestikulierte mit der anderen vor dem Gesicht seines Gegenübers herum.

Plötzlich zog einer der beiden Piraten ein Messer und hieb nach dem Kopf seines Kontrahenten.

Dieser wich im letzten Augenblick aus, hätte dabei aber fast den Halt verloren.

Nat sah aus den Augenwinkeln etwas aufzucken.

Mit blitzschnellen Bewegungen hatte der Klotz, der ihn die Leiter hinauf dirigiert hatte, eine Schleuder in der Hand.

Eine kurze Ausholbewegung, dann riss er den Arm nach vorne und im nächsten Moment flog dem Messerstecher die Waffe aus der Hand.

Bis hier herunter war das Knacken zu hören, mit dem die Steinkugel der Schleuder ihm Knochen der Hand brach.

„Keine Waffen bei Streitereien hier an Bord! Ihr kennt die Regeln!“

Die dröhnende Stimme des Mannes übertönte alle anderen Geräusche.

Der Angreifer im Krähennest hielt sich wimmernd die gebrochene Hand, während sein Gegenüber ihm grinsend einen Knuff gegen die Schulter verpasste. Dann half er dem Mann, der ihn vor wenigen Augenblicken noch fast umgebracht hätte mit der verletzten Hand vom Mast zu klettern.

Nat blickte weiter über das Schiff. Er glaubte den Blick der Frau im Rücken zu spüren, aber er wollte sich nicht zu ihr umdrehen.

„Riecht ihr was?“ Ihre volle melodiöse Stimme klang spöttisch. „Unser Treibgut fängt an zu stinken!“

Raues Gelächter der umstehenden Männer erklang.

Unbeirrt machte Nat einige Schritte nach vorne und stützte sich auf das Geländer, dass das Oberdeck zum Hauptdeck hin abgrenzte.

Dann drehte er sich betont langsam um … und zuckte erschrocken zusammen.

Direkt hinter ihm stand der Klotz, hatte sich lautlos angenähert und blickte Nat ausdruckslos an.

„Soll ich ihn über Bord werfen, Tally.“ Sein Gesicht verhieß, dass er damit keinerlei Probleme haben würde.

Die schöne Frau spielte abwesend mit dem Griff ihres Säbels.

„Ja, seine neugierigen Blicke und sein ungewöhnliches Auftauchen machen mich misstrauisch. Ich kann derzeit keine Spione brauchen.“

Sie wandte sich scheinbar anderen Problemen zu. Mit einer wedelnden Handbewegung entließ sie die Männer.

„Schickt ihn über die Planke!“

Nat war fassungslos und heiße Wut kochte in ihm hoch.

„Du verdammtes Mistst…!“ Die große Faust kam wie aus dem Nichts und ließ ihn über das Geländer taumeln. In der Luft machte er eine halbe Drehung und krachte mit Wucht auf einen Taustapel, der auf dem Hauptdeck lag. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, vor seinen Augen drehte sich alles. Von der Stirn, wo ihn die Faust des „Klotzes“ getroffen hatte, lief ihm das Blut über das Gesicht.

Mit behänden Schritten kam der vierschrötige Mann die Treppe hinunter und riss Nat mit Leichtigkeit in die Höhe.

„Du musst Dir keine Sorgen machen. Uns folgen immer einige Leviathane in der Hoffnung, dass bei unseren … hmmm …Geschäften etwas für sie abfällt. Es wird ganz schnell vorbei sein.“

Er schob Nat zu einer der Luken. Ein anderer Mann nestelte an der Vertäuung, mit der die Luke gesichert war, um sie herab zu lassen.

In diesem Moment ertönte ein lauter Ruf vom Krähennest.

„Patrouillenschiff voraus. Sie sind immer noch da!“

Der Klotz stockte und sah hinauf zum Oberdeck.

Die Frau war ans Geländer getreten.

„Okay, die holen wir uns. Jedes Schiff, das wir auf den Meeresgrund schicken erhält uns ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit. Und außerdem sind sie zu dicht an Zuhause.“

Sofort kam Bewegung in die träge herumliegenden Männer und Frauen auf dem Schiff.

Schnell und ohne unnötiges Herumlaufen oder Rufen nahm jeder einen bestimmten Platz auf dem Schiff ein.

Alles war offensichtlich straff durchorganisiert und etliche Male durchgespielt.

Eigentlich war es Nat schon die ganze Zeit klar gewesen, aber jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, dass es sich bei der Besatzung dieses Schiffes um Freibeuter, nein, um Piraten handelte.

Immer mehr Piraten verschwanden unter Deck und bemannten die Kanonen.

An jeder Klappluke an Deck nahm ein Mann oder eine Frau Aufstellung, um die Luken blitzschnell herunter lassen zu können.

Hinter den Luken platzierten sich jeweils fünf bis sechs Leute, um sofort als Entermannschaft in Einsatz zu kommen, wenn das gegnerische Schiff eingefangen war.

Auf der Laufplanke an der Reling hockten Bogenschütze und mehrere Männer, die lange Seile mit Enterhaken bereithielten. Sie blieben in Deckung, damit sie von ihren Gegnern nicht gesehen werden konnten.

Der Klotz gab Nat einen Stoß, der ihn gegen die Wand des Oberdecks taumeln ließ. Hier waren die Kabine der Captrecce, die Waffenkammer und die Kombüse untergebracht.

„Was machen wir mit ihm?“

Tally blickte von oben auf Nat herab. Ein Funkeln war in ihren grünen Augen, offensichtlich bereitete sie sich innerlich schon auf den bevorstehenden Kampf vor.

„Um den kümmern wir uns, wenn der Kampf vorbei ist.“

Sie winkte einer Frau zu, die abwartend am Hauptmast lehnte. Die fleckige Schürze, die sie trug wies sie offensichtlich als die Köchin des Schiffes aus.

„Smutje, du passt auf ihn auf. Wenn er eine verdächtige Bewegung macht, rammst du ihm dein Messer in die Rippen!“

Mit einem knappen Nicken kam die Frau auf ihn zu und zog ein schlankes Stilett mit etwa zwei Handbreit langer Klinge aus dem Gürtel.

Sie stellte sich vor Nat und sah ihn unverwandt an.

„UND JETZT RUHE!“

Mit leerem Blick lehnte Nat sich an die Decksaufbauten und blickte auf die Piraten, die sich auf ihre Aufgaben konzentrierten.

Hier und da wurden einige kurze Gebete zu den unbekannten Göttern gemurmelt, die diese Piraten als Schutzheilige für sich ansahen.

Mehrere Blicke aber gingen hinauf zu Tally, die für die meisten der abgerissenen Gestalten mehr Schutzheilige zu sein schien, als all die Götter aller Rassen zusammen.

Überall auf dem Schiff herrschte jetzt gespannte Ruhe. An der Spitze des Mastes flatterte eine Flagge im Wind, die Nat als die eines sylthanischen Kaufmannes erkannte.

Lange Zeit tat sich wenig, von dort wo sie standen, sahen Nat und die Piraten nichts von dem, was außerhalb der erhöhten Verkleidung vor sich ging. Dann sah Nat aus den Augenwinkeln eine Bewegung an der Ecke des Oberdecks und Tally trat an die Reling.

„AHOI, DAS BOOT! WOHER SEID IHR?“

Im nächsten Moment warf sie sich herum und brüllte aufs Deck.

„KANONEN AUSRENNEN UND FEUER FREI!“

Nat spürte das Rumpeln unter seinen Füßen, als sich die Geschützluken auf der Backbordseite öffneten und die Kanonen ausgefahren wurden.

Im gleichen Moment erklang ferner Donner und die erste Salve des gegnerischen Schiffes flog auf das Piratenschiff zu. Einige der Schüsse lagen zu kurz, andere krachten in die Seitenwand des Schiffes, wo sie Holzsplitter aus der Wandung rissen aber ansonsten von der Querverstrebung aufgehalten wurden.

Eine einzige Kugel flog über das Schiff und streifte ein Haltetau, dass stramm über das Schiff gespannt war, bevor sie auf der Steuerbordseite ins Wasser klatschte, ohne weiteren Schaden anzurichten.

Mit einem Knall riss das beschädigte Seil.

Der längere Teil des Seils schlug wie eine mächtige Peitsche über das Deck.

Mit einem Griff, schneller als das menschliche Auge folgen konnte, packte Nat die vor ihm stehende Köchin und riss sie mit sich zu Boden.

Bevor sie mit dem Stilett zustechen konnte hatte er ihre Hand gepackt und im selben Moment schlug das gerissene Seil, mit der Macht eines Henkerbeils in die Aufbauten, genau an der Stelle wo die Smutje gerade noch gestanden hatte.

Die Wucht des Schlages hätte sie getötet oder zumindest schwer verletzt. Das wurde ihr in dem Moment klar, als die Splitter des zerschlagenen Aufbaus auf sie niederprasselten.

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie Nat an.

Der ließ ihre Hand los und richtete sich vorsichtig wieder auf.

„Friede, ehrlich! Ich habe nicht vor irgendetwas anzustellen:“

Mit einem Blick an sich herunter stellte Nat fest, dass wohl einige seiner verschorften Hautpartien durch den Sturz vom Oberdeck und die schnellen Bewegungen, als er sich gerade zu Boden geworfen hatte, wieder aufgerissen waren.

An mehreren Stellen färbte Blut sein Hemd rot. Dann sah er den langen Holzsplitter, der in seiner Schulter steckte.

Er sank zu Boden bis er auf dem Deck kniete.

Die Köchin war aufgesprungen und blickte sich um, aber anscheinend hatte niemand Notiz von dem kurzen Intermezzo genommen.

Sie beugte sich zu Nat herab und riss ihm das Hemd auf.

„Du hast mir das Leben gerettet!“ Sie sah ihn unverwandt an. Mehr gab es eigentlich nicht zu sagen.

Mit der linken Hand umfasste sie den Holzsplitter in Nats Schulter, drückte die rechte Hand gegen seine Brust und mit einem Ruck zog sie den Holzsplitter aus seinem Körper.

Die Knie wurden Nat weich, aber er versuchte die aufkommende Ohnmacht zu unterdrücken.

Er konzentrierte sich auf die Übungen, die Jargo ihm beigebracht hatte.

Konzentriere dich auf dein inneres Ich. Dort findest du das was du brauchst. Hilf dir selbst.

Nat blickte auf einen dunklen Fleck auf der mehr oder weniger weißen Schürze der Smutje. Sein Blick drang durch diesen Fleck und dehnte sich dahinter endlos aus, bis zum Horizont und darüber hinaus …

… Rrordraks Kopf fuhr hoch, während ein leichtes Hämmern in seinen Schläfen einsetzte.

Nat spürte, wie Kräfte durch seinen Körper strömten, die Wunde an der Schulter verkrustete in wenigen Augenblicken und schloss sich, die verbrannten Hautstellen heilten und der Schorf fiel ab wie Staub.

Die gespannte Haut in seinem Gesicht beruhigte sich und seine Züge wurden wieder ebenmäßig und glatt.

Die Köchin fiel hintenüber aufs Deck und kroch auf Händen und Füßen rückwärts, bis sie gegen ein Fass stieß. Sie riss die Hand hoch und keuchte erschrocken.

Dann hob Nat die Arme, als würde er sich nach einem langen Schlaf recken und strecken. Sein Körper beruhigte sich und er nahm seine Umgebung wieder wahr.

Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Holzwand und blickte die Köchin unverwandt an.

Um sie herum kam der Kampf langsam in die heiße Phase. Die erste Salve der Geschütze des Piratenschiffs hatte fast die gesamte Backbordbatterie des grauen Patrouillenschiffes ausgeschaltet. Mit einer schnellen Wende, die man diesem hohen, massig wirkenden Schiff niemals zugetraut hätte, schaffte es das Piratenschiff auf der Backbordseite des Gegners zu bleiben und diesem die voll kampfbereite Steuerbordseite zuzuwenden.

„FEUER!“

Der Geschützführer auf dem Kanonendeck presste sich beide Hände gegen die ohnehin fast tauben Ohren und beobachtete, wie die Kugeln auf dem Schiff des Gegners einschlugen.

Die Salve war zum perfekten Zeitpunkt abgefeuert worden. Auf dem grauen Schiff herrschte ein heilloses Durcheinander. Zerfetzte Segel, zerrissene Taue, Mast- und Metallteile und tote oder verletzte Körper lagen überall auf den Decks herum.

Das Piratenschiff war jetzt dicht heran.

An der Mastspitze war eine Flagge aufgezogen worden, die einen Totenkopf zeigte, der ein rotes Kopftuch trug.

Mit weit ausholendem Schwung ließen die Entermannschaften die Seile fliegen. Dann zogen sie die Seile durch kleine Scharten in der Schanzverkleidung und hakten sie in Flaschenzüge, die auf dem Deck des Schiffes befestigt waren.

Durch die Umlenkrollen der Flaschenzüge erreichten sie mit einem Minimum an Anstrengung ein Maximum an Zugkraft.

In Sekunden war das gegnerische Schiff herangepullt worden und die Enterplanken klappten herunter.

Die Entermannschaften stürmten johlend und schreiend über die Planken und sprangen auf das tiefer liegende Deck.

Es schlug ihnen kaum Widerstand entgegen, innerhalb weniger Momente sanken die Waffen der Verteidiger und sie ergaben sich in ihr Schicksal.

Tally hatte sich an einem Seil auf das andere Schiff herüber geschwungen und dort wie eine Katze die Wanten geentert, um Bogenschützen anzugreifen, die von dort aus ihre Leute unter Feuer nahmen.

Jetzt landete sie federnd auf den Deck des Schiffes und trat vor den Kapitän, der, von dem Klotz zu Boden gedrückt wurde.

„Ich hoffe, ihr seid mit einer Kapitulation einverstanden und erwartet kein Duell oder eine ähnlich ehrenvolle aber alberne Behandlung!?!“

Auf ihr Zeichen hin ließ der Klotz den Mann los, der auch sogleich auf die Beine sprang.

Der Kapitän war ein mittelgroßer Mann mit einem arroganten Gesicht und einem winzigen, sorgfältig gestutzten Bärtchen über der Oberlippe.

„Ein Duell, ja ein Duell. Ich kämpfe gegen euren Kapitän und wenn ich gewinne, bekommen wir freien Abzug.“

Seine Stimme überschlug sich fast.

Mit einem Lächeln deutete Tally auf einen Degen, der am Boden lag und hob ihren Säbel.

„Ich bin die Captrecce des Schiffes und es wird mir eine Freude sein, euch für ein Duell zur Verfügung zu stehen.“

Ein hinterhältiges Grinsen huschte über das Gesicht des Mannes, als er seinen Degen aufhob.

Er deutete eine Verbeugung an, dann stach er aus der Bewegung heraus zu.

Mit einer kurzen Drehung des Oberkörpers wich Tally dem Stich aus und schlug ihrem gegenüber mit der flachen Seite des Säbels auf die Hand. Klappernd fiel sein Degen zu Boden.

„Nicht so hastig.“ Sie trat einen Schritt zurück und blickte den Kapitän des gegnerischen Schiffes ruhig an.

„Ihr müsst euren Degen festhalten, sonst könnt ihr doch nicht kämpfen.“

Zitternd vor Wut nahm der Mann erneut seine Degen auf. Ein erstes Zeichen von Unsicherheit flackerte in seinen Augen auf.

Wieder nahm er Aufstellung und griff Tally mit ungestümen Hieben und schnellen Stichen an.

Mühelos parierte sie seine Angriffe mit dem schwereren und unhandlicheren Säbel.

Als der Kapitän einen Faustschlag mit der linken Hand setzen wollte, wich sie ihm elegant aus und ließ ihn ins Leere taumeln. Sie zog ihm den Säbel leicht über das Hinterteil, so dass die Hose zerriss und aufklaffte.

„Tally, ich glaube, das solltest du dir ansehen!“

Die Köchin des Piratenschiffs war an einer der offenen Enterluken aufgetaucht und winkte ihrer Captrecce mit der Hand. Tally blickte nach oben und winkte kurz zurück.

Der vor Wut und Angst zitternde Kapitän des grauen Patrouillenschiffes sah seine Chance und warf sich nach vorne. Er stach mit seinem Degen nach Tally, die ihm halb den Rücken zuwandte.

Mit einer eleganten Bewegung vollendete sie die Drehung, wodurch sie dem Stich entging.

Sie schwang ihren Säbel herum und stieß ihn dem stolpernden Mann tief in den Rücken. Die Waffe glitt an einer Rippe ab und durchstieß das Herz des Mannes. Er war tot, bevor er auf dem Deck aufschlug.

„Alda, Alda, Alda.“ Tally schüttelte bedauernd den Kopf. „Da hast du uns aber den Spaß verdorben, diesen eingebildeten Laffen noch ein bisschen herumtaumeln zu lassen. Es wäre eine Freude gewesen, ihn ganz langsam in Stücke zu schneiden.“

Sie drehte sich zu dem Klotz um, der wie immer in ihrer Nähe stand.

„Odu, du weißt was zu tun ist. Alle die wirklich zu uns wechseln wollen können auf unser Schiff kommen, die anderen können weitersegeln.“ Dabei zwinkerte sei ihrem ersten Offizier zu. „Und vorher schafft ihr alles rüber, was ein bisschen Wert hat.“ Sie seufzte „Wird ja schließlich immer weniger.“

Tally griff nach den Wanten und schwang sich mit einem Satz auf die Reling des gekaperten Schiffes. Ein weiterer Sprung und sie stand auf der Enterluke. Das Deck des Piratenschiffes war fast verwaist.

Der Steuermann hielt auf dem Oberdeck die Stellung und auf den Masten turnten einige Matrosen herum und holten die Segel ein, solange die Schiffe beieinander lagen.

Alda, die Köchin, stand auf halbem Weg zwischen der Luke und der Stelle, an der Nat an der Holzwand der Kombüse saß.

Schnell eilte sie zu ihrer Anführerin und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Tally riss erstaunt die Augen auf.

Sie zog ihren Dolch und ging mit langsamen Schritten auf Nat zu.

Nat hob abwehrend die Hand.

„Ich kann mir vorstellen, was ihr jetzt denkt und was ihr gerne ausprobieren möchtet. Ich weiß nicht, ob ich mir laufend Wunden selber heilen kann und vor allen Dingen wie tief diese Wunden sein können. Ich weiß nur, dass es mich viel Kraft kostet.“

Er schob sich mit dem Rücken an der Wand hoch, bis er schwankend aufrecht stand.

„Vielleicht sollten wir einfach noch mal von vorne anfangen, dann entschließt ihr euch möglicherweise, mir doch noch eine Chance zu geben. Ich heiße Nat …“

Seine Augen verdrehten sich und er sank dort wo er stand in sich zusammen.

Rrordrak warf sich auf seine Bettstatt und hielt die Augen fest geschlossen. Eben im Thronsaal wieder diese Kopfschmerzen. Fluchtartig hatte er sich in sein Refugium zurückgezogen. Immer wieder versuchte er Schwingungen in sich aufzunehmen, die ihm sagten, woher der plötzliche Kopfschmerz gekommen war. Die Schiffe waren versenkt, alle Menschen aus der Alten Welt getötet, die sich an Bord befunden hatten. Dies hatte Blackard ihm versichert. Was war es dann!?!

So langsam gewöhnte Nat sich daran, aus Ohnmachten irgendeiner Art aufzuwachen.

Mal verzaubert, mal von der Sonne verbrannt und jetzt selber geschwächt.

Es war ja nicht so, dass das Spaß machte. Eine kurze Bestandsaufnahme - alle Körperteile noch dran und funktionsfähig.

Vorsichtiges Öffnen der Augen. Keine Waffen die auf ihn gerichtet waren. Kein Hängen an einem Seil, kein Taumeln an einem Abgrund und – er spürte das Schwanken des Untergrundes – keine Planke, über die man geschickt wurde.

Stattdessen sah er in das rote glänzende Gesicht von Alda, der Köchin, die ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht wischte.

Sie hatte einen Arm unter seinen Kopf geschoben und rieb ganz vorsichtig mit dem kühlen Lappen über Wangen und Nase.

Er musste niesen, als ihn ein loser Faden unter der Nase kitzelte.

Erschrocken riss Alda das Tuch von seinem Gesicht und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

„Hallo.“ Er versuchte zu grinsen. „Liege ich immer noch so auf dem Deck herum oder wohin hat es mich inzwischen verschlagen?“

Alda lächelte, dann schob sich ein Schatten vor die Sonne.

Langsam drehte Nat den Kopf und richtete seinen Blick auf Tally, die sich vor ihm aufgebaut hatte.

„So, du bist also nicht nur stinkendes Treibgut. Du bist auch noch seltsames stinkendes Treibgut.“

Alda schaut ihre Captrecce strafend an.

„Aber immerhin hast Du anscheinend meinen Smutje gerettet. Vielleicht sollte ich doch das Risiko eingehen, dir einmal zuzuhören.“

Sie wandte sich zu der Köchin, die sich erhoben hatte und abwartend neben Nat stand.

„Bring ihn in meine Kabine. Und ich will das Odu dabei ist.“ Sie drehte sich um und verschwand durch die nahe Tür.

Alda half Nat auf die Beine.

„Ich weiß nicht wie du das gemacht hast. Und ich weiß nicht warum du das gemacht hast, aber vielen Dank für die Rettung.“

„Ich danke auch für meine Rettung.“ Nat lächelte sie mit seinem herzlichsten Lächeln an.

Es blitzte in Aldas Augen auf.

„Das war nur ein Aufschub, jetzt liegt es an dir, für deine Rettung zu sorgen.“

Sie drehte sich um und ging zu Odu, der an einer der Enterluken stand und das Verladen der wenigen wertvollen Güter überwachte, die man von dem geenterten Schiff herüberschaffte.

Ein Mann sprang durch eine der anderen Luken und eilte zu Odu. Er flüsterte Odu etwas ins Ohr, worauf hin dieser nickte.

Auf seine Handzeichen wurde das Verladen eingestellt und er trat auf die Enterluke hinaus.

„ALLE MATROSEN DIESES SCHIFFES, DIE BEREIT SIND IHREM BISHERIGEN HERRN ZU ENTSAGEN UND SICH UNS ANZUSCHLIEßEN, KOMMEN JETZT HIER HERÜBER!

WIR LEGEN AB!“

Er wartete noch einige Momente und tatsächlich sprangen noch drei Männer auf die Luken und traten in das Piratenschiff.

Dann wurden die Enterhaken gelöst und die Schiffe trieben auseinander.

Odu ließ die Segel hissen. Sofort nahm das Piratenschiff Fahrt auf.

Er blieb in der offenen Luke stehen und sah zu dem grauen Schiff hinüber.

Dort bemühte man sich die wirr herumliegenden Taue zu ordnen und die Trümmerteile über Bord zu stoßen.

Als das Piratenschiff etwa zehn Schiffslängen entfernt war, zerriss eine Explosion die abwartende Stille. Das graue Schiff wurde regelrecht aus dem Wasser gehoben und brach in der Mitte durch. Es sank in wenigen Augenblicken. Nur Trümmerteile und einige Überlebende trieben noch an der Oberfläche.

Und es dauerte nur einen weiteren kurzen Moment und der schlanke Körper eines Leviathans durchstieß die bewegten Wellen. Das Ziel, auf das er sich stürzte war von hier aus nicht zu erkennen. Um die Überlebenden mussten die Piraten sich somit keine Gedanken mehr machen.

Nat blickte Odu entgegen, der mit versteinertem Gesicht auf ihn zutrat. In den Augenwinkeln des vierschrötigen Mannes glitzerte es.

„Das ist nicht das Handwerk eines echten Kämpfers, nicht einmal das eines echten Piraten. Ist die Situation hier wirklich so verzweifelt, dass solche Gräuel notwendig sind?“ Nat schüttelte verächtlich den Kopf.

Einen Moment lang sah es so aus, als würde Odu zuschlagen.

Dann seufzte er auf und senkte den Kopf.

„Nein, das ist eines Piraten nicht würdig. Und ja, die Situation ist so verzweifelt. Aber über alles Weitere solltest du mit Tally sprechen.“

Er fasste Nat an der Schulter und schob ihn zur Tür.

Tally saß in einem hochlehnigen Stuhl und hatte die Füße auf einen massiven Tisch mit einer großen zerkratzten Tischplatte gelegt.

Die Kabine war zweckmäßig eingerichtet. Eine schmale Schlafpritsche, ein hoher Schrank und vier Stühle, die um den Tisch gruppiert standen.

Über dem Tisch hing eine bauchige Petroleumlampe, die leicht schaukelte.

Nat konnte sich gut vorstellen, dass an diesem Tisch schon so manche Besprechung abgehalten worden war.

Unter dem niedrigen Fenster, das zum Heck des Schiffes hinausging, standen zwei schwere Kisten die mit großen Vorhängeschlössern gesichert waren.

Tally sah an Nat vorbei zu Odu hin.

„Alles wie immer.“Odus Stimme klang rau.

Tallys Kopf sank für einen Moment herab, ein Schauder lief durch ihren Körper. Dann hob sie den Kopf und blickte Nat fest an.

„So Treibgut, jetzt wollen wir uns mit dir befassen. Woher kommst du, was tust du hier und warum triebst du im Wasser wie eine Alge?“

In Nats Kopf schossen die Gedanken hin und her. einen Moment lang überlegte er, eine Geschichte zu erfinden und Tally und ihren ersten Offizier zu belügen.

Aber zum einen würde es wohl sein Ende bedeuten, wenn sie erkennen würden, dass er sie belog.

Und zweitens wusste er nichts darüber, warum er hier war und welche Aufgaben er zu erfüllen hatte. Vielleicht konnten diese Piraten ihm dabei helfen, mehr über seine Aufgaben heraus zu finden.

Auch Jargo hatte ihm da nicht weiterhelfen können, weil er nur der Aufforderung des Orakels gefolgt war, ihn zum Fernen Kontinent zu bringen. Was er da sollte war völlig unklar.

Somit konnte Nat auch keine Dinge verraten, die die Piraten nichts angingen.

Nat sah Tally ruhig an. Ihre Schönheit war wirklich atemberaubend, aber es lag auch eine Härte und Traurigkeit über ihrem Gesicht, die in Nat den Wunsch weckte, diese Züge wegzuwischen.

„Ich komme aus der Alten Welt. Ich bin in einem Konvoi aus drei Schiffen durch den Übergang gekommen. Wir wurden aber auf der anderen Seite von drei grauen Schiffen erwartet. Wir hatten es fast geschafft, den Kampf zu gewinnen, weil wir einen Magier an Bord hatten, dem es mehrfach gelang, die Salven der anderen Schiff abzuwehren.“

Wie ein Kloß stieg die Bitterkeit in Nats Hals auf, aber er scheute sich von der besonderen Beziehung zu sprechen, die er zu Jargo gehabt hatte und die immer noch in ihm klang.

„Unsere Begleitschiffe waren vernichtet, aber wir hatten die drei Angreifer schwer beschädigt oder zerstört, als aus dem Nebel ein großes schwarzes Schiff hervorbrach.“

Tally richtete sich in ihrem Stuhl auf. In seinem Rücken hörte Nat, wie Odu scharf die Luft einzog.

„Noch einmal gelang es unserem Magier eine Salve abzuwehren, aber dann war das gegnerische Schiff zu dicht heran und wir wurden geentert.“

Nat schluckte und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.

„Der Magier, Jargo, belegte mich mit seiner letzten magischen Kraft mit einem Zauber und stieß mich über Bord. Ich ergriff den Teil eines Mastes, auf dem ihr mich gefunden habt und versuchte, so schnell wie möglich fort zu kommen.“

Seine Stimme brach.

Halt suchend stützte er sich auf den Tisch.

Odu war einen Schritt auf Nat zugetreten und sein Blick schien den jungen Mann zu durchbohren.

„Wie, sagtest du, hieß dieser Magier?“

Langsam richtete Nat sich wieder auf und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

„Jargo. Er war mein Freund.“

Den schnellen Blick, den Odu und Tally sich zuwarfen, bemerkte Nat nicht. Er redete weiter.

„Zuletzt hatten die Piraten das Schiff in ihrer Gewalt und nur Jargo, der Kapitän und einige Wenige waren noch am Leben. Dann kam von dem Piratenschiff ein sehr großer, Mann, offensichtlich der Kapitän.“

„Blackard!“ Tallys Stimme war nur ein Flüstern.

„Ja, das war der Name. Die Piraten brüllten ihn, als er zu ihnen gesprochen hat. Er tötete die Überlebenden, auch Jargo.“ Ein Schluchzen ließ Nat erzittern, dann holte er tief Luft.

„Sie plünderten die Katalanya und sprengten das Schiff in die Luft, genau wie ... ihr!“

Trotzig blickte Nat der Captrecce ins Gesicht.

Ungerührt sah sie ihn an, hatte sich wieder unter Kontrolle.

„Ihr wisst gar nichts, deshalb könnt ihr auch nicht urteilen.“

Nat registrierte, dass sie ihn nicht mehr duzte und vor allen nicht als „Treibgut“ bezeichnete. Vielleicht ein gutes Zeichen.

Tally gab Odu ein kurzes Zeichen. Er fasste Nat an den Schultern und zog ihn zu einem Stuhl, der an der Stirnseite des Tisches stand.

Tally stand auf und trat an das niedrige Fenster, um aufs Meer zu blicken.

„Jetzt haben wir eine Geschichte gehört, wo du herkommst und wie du ins Wasser gefallen bist, Treibgut!“

Na, da hatte Nat sich wohl zu früh gefreut.

„Aber mir fehlt immer noch die Erklärung, warum du aus der Alten Welt hier herüber gekommen bist!?!“

Nat zuckte die Schultern.

„Ich weiß es auch nicht. Jargo hat mir viel erzählt über die Ferne Insel …“

„Iskandrien.“

„Was?“ Nat runzelte die Stirn.

„Wir, die wir hier geboren wurden nennen unsere Insel Inskandrien. Für uns ist sie nicht fern.“

„Also, Iskandrien. Jargo hat mir viel darüber erzählt, von den Geschichten, die er gehört hatte. Und er berichtete mir von großen Problemen, einer gefährlichen Verschlechterung der Stimmung zwischen den Rassen und dass seit einiger Zeit keine Nachrichten mehr in Sylthana ankamen. Was ich damit zu tun habe und wo mein Platz in dieser Geschichte ist, konnte er mir nicht sagen.“

Nat rutschte auf dem Stuhl hin und her. Jetzt wurde es zumindest … schwierig … die weiteren Hintergründe zu erklären.

„Kennt ihr das Orakel von Asyan?“ Langsam verlor sich Nat`s Stimme. Wie sollte er das erklären?

„Was ist mit dem Orakel?“ Wieder mischte Odu sich in das Gespräch ein. Es war kein Zweifel, keine Häme in seiner Stimme. Vielmehr schien er überrascht und interessiert an dem was Nat über das Orakel zu sagen hatte. Gleichzeitig klangen Verbitterung und heiße Wut mit.

„Das Orakel hat ohne Aufforderung zu Jargo gesprochen.“

Odu stieß einen kurzen Laut aus. „Das hat es noch nie gegeben. Das Orakel spricht nicht von sich aus. Es antwortet nur auf Fragen.“

„Wenn ihr das wisst, dann könnt ihr ja die Überraschung der Magier verstehen, als das Orakel vermeldete, dass es einen Mann geben soll, der zur Fernen I..., äääh … ich meine, nach Iskandrien gebracht werden soll.“

„Und dieser Mann seid ihr!?!“ Das ernste Gesicht strafte Tallys spöttischen Ton Lügen. Außerdem war er für den Moment mal wieder kein Treibgut.

„Anscheinend. Jargo sagte, er hätte etwas in mir gesehen, was den Worten des Orakels entspricht.“

„Zum Beispiel eure Fähigkeit eure Wunden heilen zu lassen. Oder die Schnelligkeit, mit der ihr Alda vor dem schlagenden Tau gerettet habt.“

„Ja. Wahrscheinlich. Vielleicht. Ich … ich weiß es nicht. Jargo`s Auftrag bestand nur darin mich nach Iskandrien zu bringen. Alles andere ist mir völlig unklar.“

Odu und Tally sahen sich lange an. Niemand sagte ein Wort.

Dann seufzte Tally und blickte zu Nat.

„In Ordnung, Treibgut. Vielleicht ist meine Nase nicht mehr so gut. Auf jeden Fall ist der Gestank im Moment nicht so schlimm. Du kommst erst mal mit uns. Über Bord werfen können wir dich immer noch. Oder vergraben.“

Mit einem Schultertippen forderte Odu Nat auf, sich zu erheben und mit ihm die Kabine zu verlassen.

Nat spürte Tally`s Blick im Rücken, aber er zwang sich raus zu gehen, ohne sich noch einmal nach der schönen Frau umzusehen.

Es gab auch zu vieles, über das er nachdenken musste.

Warum wusste Odu diese Dinge über das Orakel? Welche Verbindungen bestanden zwischen Blackard und Tally? War Blackard die große Gefahr für die Ferne Insel Iskandrien oder gab es da noch mehr?

Der Trupp steht bereit, Herr. Wir haben Elfenkleidung gewoben und Elfenpfeile geschnitzt. Keiner der Männer hat etwas bei sich, was auf seine wirkliche Herkunft schließen lässt. Und wir werden keine Überlebenden zurücklassen, die uns aus nächster Nähe gesehen haben. Genau wie ihr gesagt habt.“

Der grün gekleidete Mann kniete auf dem verdreckten Teppich, seine Nase berührte fast den fadenscheinigen Stoff. Krampfhaft versuchte er durch den Mund zu atmen, um den durchdringenden Gestank nicht aufnehmen zu müssen.

Rrordrak saß quer auf dem Thron, seine Beine baumelten über die Armlehne. Er hätte selber nicht sagen können, warum er so entspannt war. Alles schien zu laufen wie geplant. Und die Gefahr aus der Alten Welt war abgewendet. Die Kopfschmerzen hatten ihn nur noch einmal kurz gequält.

Jetzt stand der nächste Schachzug in seinem Kampf um die alleinige Macht auf Iskandrien bevor.

In Vorstamm, einer kleinen Menschenstadt in der Nähe der Grenze nach Endoria stand ein uralter Baum, der für die Elfen ein Heiligtum bedeutete.

Nach ihren Sagen hatten sich unter diesem Baum Odeon, der Gott der Wälder und der Bäume und Enphygie, die Göttin des Wassers getroffen und sich ineinander verliebt.

Welfern, der Gott des Wetters, der Donner und der Blitze hatte ein Auge auf Enphygie geworfen.

Da sie seinem Werben nicht nachgeben wollte – sie hielt den ernsten, verbissenen Gott für einen echten Langweiler - verfolgte Welfern sie auf Schritt und Tritt.

Enphygie hatte sich in einen Fluss verwandelt und sich in der Ebene Thorlands in einem ausgetrockneten Flussbett versteckt.

Daraufhin hatte Welfern das Land mit einem Trommelfeuer aus Blitzen überzogen, um die Widerspenstige aus ihrem Versteck zu treiben.

In ihrer Not hatte Enphygie sich unter einem nahen Baum versteckt, der unter den Einschlägen der Blitze erzitterte.

Enphygie hatte sich in Myriaden von Tautropfen verwandelt, die auf den Blättern und am Stamm des Baumes glitzerten, als Odeon erschien und seine starke, rissige Hand auf den Stamm des Baumes legte und ihm Stärke und Trutz vor den Blitzen des wütenden Wettergottes gab.

Sofort hatte er die Anwesenheit eines weiteren Wesens erspürt und so hatte Enphygie sich ihm in ihrer durchscheinenden, klaren Schönheit präsentiert.

Der Gott der Wälder war fasziniert von diesem sphärischen Geschöpf, sie hatte sich sofort in seine Stärke und Standhaftigkeit verliebt.

Und so vereinigten sie ihre Liebe unter diesem Baum.

Dass er nicht in Endoria stand, war ein ewiges Unglück für die Elfen, aber sie akzeptierten die Grenzen. So hatten der Baum und die Stadt Vorstamm sich zu einem Wallfahrtsort für Generationen von Elfen entwickelt.

Einige schwierige Jahre, erfolgten die Besuche eher heimlich und nur unter der missbilligenden Duldung der menschlichen Bewohner Vorstamms. Doch inzwischen glichen die regelmäßigen Besuche der Elfen kleinen Volksfesten und trugen viel zur Verständigung der Rassen bei.

Dies war ein Grund mehr dafür, dass Rrordrak gegen diese Harmonie vorging.

In den Reihen der Elfen gab es einige wenige Unbelehrbare, die der Meinung waren, Vorstamm und sein Teil an der elfischen Sagenwelt müsste, wenn nötig mit Gewalt, in das Reich Endoria eingegliedert werden.

Doch diese Unbelehrbaren hatten sich der Meinung der großen Mehrheit gebeugt. Nur nach dem Genuss einiger Maß des würzigen „Tautropfenweins“ klangen noch einmal die großen Reden, die nach Blut und Eroberung verlangten.

Diese Stimmung wollte Rrordrak mit seinen geheimen Truppen ausnutzen. Ein Angriff durch – angebliche – Elfen sollte die Menschen gegen dieses Volk aufbringen und zu Unstimmigkeiten innerhalb der Elfenrasse führen, so der Plan.

Bereits seit Tagen reisten Rrordraks Männer alleine oder in kleinen Gruppen durchs Land und sammelten sich in der Nähe Vorstamms in der Ebene von Gohara.

Ein schmales Lächeln zuckte über Rrordraks Gesicht, dann blickte er wieder ausdruckslos auf den knienden Mann.

„Gebt den Männern das Kommando. Ich will, dass ein Krieg losbricht, wie ihn diese Länder noch nicht erlebt haben. Verbrennt diesen blödsinnigen Baum und tötet so viele Dörfler wie möglich.

Aber denkt dran, es muss so aussehen, als hätten die Elfen das Dorf angegriffen, um es für Endoria einzunehmen. Und als hätten die Menschen als Rache den Baum zerstört.“

Ein grausamer Zug verzerrte das hagere Gesicht.

„Es darf niemanden geben, der etwas anderes erzählen kann. Wenn es Zeugen gibt, dann müssen sie glauben, genau das gesehen zu haben, was ich gerade sagte. Und jetzt schickt die Falken los.“

Rrordrak hatte bereits seit langem erkannt, dass Sternfalken und ihre Reiter ein hervorragendes Transportmittel für Nachrichten waren.

Sie waren etwa so groß wie ein mittelgroßer Hund und hatten ein fantastisches Orientierungsvermögen.

Rrordrak hatte sich die Dienste eines ganzen Volkes von Sternfalkenboten gesichert.

Der Mann, der auf dem Teppich vor Rrordraks Thron kniete schob sich rückwärts, bevor er aufstand und den Thronsaal verließ, ohne sich noch einmal umzusehen.

Mit einem leisen Knall verpuffte eine Rauchwolke in der Höhe des Thronsaals und trieb langsam durch den riesigen Raum.

Mit gerefften Segeln glitt das Piratenschiff, die Bucaneer, wie Nat inzwischen erfahren hatte, auf den dichten Nebel zu.

Auf dem Achterdeck peilte Odu zum wiederholten Mal die Sonne an. Hierfür verwandte er ein kompliziert aussehendes Gerät, das aus mehreren geschliffenen Scheiben bestand, die durch verschiedenste Stellrädchen und Halterungen zueinander verschoben werden konnten.

Das Schiff trieb inzwischen langsamer als ein gehender Mensch. Dann hob Odu die Hand und Tally, die neben ihm an Deck stand, rief den wartenden Seeleuten zu:

„ANKER RUNTER! BOOTSCREW ABLASSEN!“

Rasselnd löste sich die Ankerkette und der Anker verschwand in der aufspritzenden See.

An Steuerbord wurde ein Ruderboot abgelassen, in dem vier Mann saßen.

Zwei Ruderer auf der Mittelbank, ein Steuermann am Heck und ein weiterer Mann am Bug, der sich mit einem Tau um den Bauch gesichert hatte. Was diese Sicherung sollte, wurde Nat nach wenigen Augenblicken klar.

Der Mann kniete sich auf die Bank und lehnte sich weit über die Kante des Bootes, bis die Sicherungsleine ihn stoppte.

Jetzt konnte er mit beiden Armen ins Wasser reichen, wo er offensichtlich nach etwas suchte.

Dies war beileibe keine angenehme und ungefährliche Tätigkeit. Die See war kabbelig und immer wieder wurde der Mann von einer Welle getroffen, die ihn in seiner exponierten Stellung hin und her schwanken ließ.

Und einmal war es sogar passiert, dass ein Leviathan aus der Tiefe des Meeres herausgeschossen kam und den Mann aus dem Boot herausgerissen hatte.

Der Rest der Bootsmannschaft hatte Glück gehabt. Der Leviathan hatte bei seinem Angriff die Sicherungsleine durchgebissen, so dass das Boot nicht mit in die Tiefe gerissen wurde.

Nach einigen Momenten richtete sich der Mann auf und sagte etwas nach hinten, was Nat von seiner Position an der Reling der Bucaneer nicht verstehen konnte.

Die Ruderer reichten dem Mann im Bug ein weiteres kurzes Seil, mit einem großen Karabinerhaken.

Der Mann hängte sich erneut über die Kante und befestigte den Haken an etwas unter der Wasseroberfläche.

Dann ruderten die Männer wieder zurück zum Schiff und zogen dabei etwas hinter sich her, was eine schmale Spur durchs Wasser zog.

Am Schiff angekommen, wurde das Tau mit dem Karabiner gelöst und eine Matrosin, die an einem Seil von einer der Enterluken herunter hing, nahm das Seil auf und ließ sich nach oben ziehen. Das Seil wurde außenbords nach vorne geführt und dann zogen vier Männer zusammen einen schweren verrosteten Haken nach oben.

Als er gegen die Bordwand schlug, ergriff Odu den Haken und führte in scheinbar mühelos in eine große metallene Öse ein, die an der Bugspitze des Schiffes angebracht war.

Das Ruderboot hatte inzwischen Kurs auf den Nebel genommen.

Nat sah, dass ein weiteres Tau über die Kante des Bootes hing, an dem das Boot, wie ein Hund an der Leine, entlang geführt wurde.

Die Ruderer legten sich in die Riemen und nach wenigen Augenblicken war das Ruderboot im dichten Nebel verschwunden.

„Was war das? Was geht hier vor?“ Mit gerunzelter Stirn drehte Nat sich zu Alda, die gelangweilt neben ihm an der Reling lehnte und in den Nebel starrte.

„Das wirst Du schon sehen. Lass dich überraschen.“ Sie grinste ihn an und hängte sich bei ihm ein.

„Jetzt wird sich einige Zeit nichts tun. Wie wäre es, wenn wir beiden ein wenig … äääh … Kartoffeln schälen gehen würden. Du darfst mir gerne ein wenig zur Hand gehen.“

Sie blickte Nat mit einem, wie sie wohl meinte, verführerischen Augenaufschlag an.

Bevor Nat ihr antworten konnte, war Odu zu ihnen getreten und fasste Nat am Arm.

„Tut mir leid, Alda, dass ich dir unseren Freund hier vorenthalten muss, aber ich habe noch etwas mit ihm zu besprechen.“

Mit einem verärgerten Grunzen wandte Alda sich um und stieg die Treppe hinunter auf das Hauptdeck.

„Was passiert hier?“ Mit einer ausholenden Bewegung deutet Nat auf den Nebel und das Seil, das schlaff von der Bordwand hing, bis es im Wasser eintauchte.

„Hmmm. Das ist eine lange Geschichte und ich bin noch nicht sicher, ob ich sie dir erzählen kann und will.

Jetzt will ich von dir wissen, ob du kämpfen kannst? Wenn du angeblich die Hoffnung Iskandriens bist, dann solltest du auch kämpfen können. Wie steht es damit?“

Nat überlegte. Natürlich konnte er Odu Lügen erzählen um nicht zu schlecht da zu stehen. Aber Tatsache war, dass er seit seiner Kinderzeit kaum einmal gekämpft hatte. Und wenn, dann hatte es sich auch nur um wilde Schlägereien in billigen Kneipen gehandelt und keinen Kampf auf einem Schlachtfeld oder gar Mann gegen Mann in einem Duell.

„Um es kurz zu machen. Ich weiß, wo bei einem Schwert vorne und hinten sind, das heißt wo man anfassen sollte und wo besser nicht. Aber damit kämpfen kann ich nicht.“ Er zuckte die Schultern. „Und meine Arme und Fäuste sind Recht kräftig, aber auch eher untrainiert.“

„Nun denn.“ Odu schien ungerührt. „Es ist gut, dass du ehrlich bist, dann können wir versuchen, etwas für dich zu tun. Wir liegen hier jetzt einige Zeit vor Anker. Diese Zeit können wir nutzen, damit du mit dem besten Schwertkämpfer üben kannst, den ich je gesehen habe.

Oder vielmehr mit der besten Schwertkämpferin.“

Odu blickte über Nat`s Schulter.

Hinter ihm stand Tally und blickte ihn verächtlich an. Ihre Hand ruhte auf dem Griff ihres Säbels.

Odu ging ein paar Schritte zu einer Kiste, die an Deck stand und holte zwei etwa drei Fuß lange Holzschwerter heraus.

„Hiermit könnt ihr üben, aber euch nicht töten.“ Er warf einen warnenden Blick zu Tally. „Eigentlich nicht.“

Nat schluckte.

Er reichte Nat eines der Schwerter und warf das andere Tally zu. Mit sicherem Griff packte sie den Schwertgriff und ließ die Holzwaffe locker kreisen.

Nat stellte sich Tally gegenüber und wartete auf erste Anweisungen. Stattdessen machte sie jedoch einen schnellen Schritt nach vorne und ehe Nat sich versah, hatte sie ihm das Schwert aus der Hand geschlagen. Ihre Holzwaffe zuckte blitzschnell vor und zurück und er erhielt schmerzhafte Treffer an den Schultern und den Oberschenkeln.

Plötzlich wurde Tallys Hand mit eisernem Griff gepackt und Odu zischte ihr ins Ohr.

„Genug! In Stücke schlagen kannst du ihn, wenn du beweisen kannst, dass er uns Böses will. Bis dahin bemühst du dich gefälligst ihm zu helfen!“

Tally riss sich los und wollte etwas entgegnen, als Odu noch einmal nachlegte.

„Wenn man dir keine Chance gegeben hätte, würdest du jetzt auch nicht hier stehen und die stolze Captrecce mimen.“

Tally funkelte Odu an, nackte Wut lag in ihrem Blick. Dann senkte sie den Blick, schob die Spitze ihres Schwerts unter Nats Holzwaffe und warf sie ihm mit einer kurzen Handbewegung zu.

Nat fing das Schwert, nahm es fest in die Hand und bemühte sich, die Schmerzen zu ignorieren.

Wieder stellte er sich fest vor Tally auf. Er drehte dabei die rechte Schulter leicht nach vorne und nahm eine Fechterstellung ein.

„Schon falsch.“ Tally schüttelte den Kopf. „Was du da in der Hand hast ist kein Degen. Es handelt sich um ein Schwert, dieses noch aus Holz. Ein gutes geschmiedetes Schwert wiegt an die fünfzig Unzen. Wenn Du es nur am langen Arm führen und ein bisschen herumfuchteln willst, wird dir der Arm ganz schnell schwer. Und jeder durchschnittliche Kämpfer schlägt dir das Schwert aus der Hand.“

Dozierend marschierte Tally um Nat herum. Um die beiden bildete sich ein Kreis von Männern, die sich etwas Abwechslung vom langweiligen Warten versprachen.

Plötzlich krachte es hoch oben am Hauptmast. Nats Blick schoss nach oben. Der Ausguck duckte sich verschreckt hinter die Einfassung seiner Plattform.

Neben Nat stand Odu, der langsam seine Schleuder wieder einsteckte.

„DU SOLLST AUFS WASSER GUCKEN! NICHTS ANDERES!!!“

Kopfschüttelnd lehnte er sich gegen die Reling.

Tally hatte sich von dem kurzen Vorfall nicht aus der Rolle bringen lassen.

„Um ein Schwert oder einen Säbel zu führen brauchst du den ganzen Körper. Du musst den Körper hinter das Schwert bringen, um die Wucht von Angriffen abzufangen. Du musst den Körper vor oder neben das Schwert bringen, um eigene kräftige Angriffe auszuführen.

Das ist kein Herumfuchteln wie das Schwirren von Feennymphen, dass ist das Kämpfen wie das Stampfen eines Pferdes. Schnell UND kraftvoll.“

Tally baute sich vor Nat auf.

„Und außerdem hat es nichts mit Freude und Spaß zu tun, wie bei einem kleinen Wettkampf unter Freunden. Ein Wettkampf mit festen Regeln und fairen Verlierern.

Wer das Schwert gegen einen Gegner schwingt, der will töten und vernichten. Der will Glieder abschlagen und tiefe Wunden zufügen. Also, keine Gnade.“

Bei diesen Worten hatte Tally sich halb dem Hauptdeck zugewandt, als wolle sie ihre Worte auch an die anderen Matrosen und Seefrauen richten.

Im selben Moment wirbelte sie herum und schlug kraftvoll zu.

Doch an der Stelle, an der sie Nats Oberarm treffen wollte, schwang ihr sein Holzschwert entgegen und ein harter Schlag, den sie nicht erwartet hatte, ließ ihren Oberkörper erzittern.

„Keine Gnade heißt somit auch, Tricks anzuwenden, um einen Vorteil zu erzielen.“ Mit einem schnellen Schritt wich Nat zurück um einer Reaktion zu entgehen.

Für einen Moment blitzte so etwas wie Achtung in Tally’s Augen auf. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und nahm Aufstellung.

Sie stand Nat frontal gegenüber, das Schwert hielt sie mittig vor dem Körper. So konnte sie Angriffe mit kurzen Bewegungen abfangen, aber auch eigene Angriffe als Hiebe oder Stiche ausführen.

Einige Herzschläge lang beobachtete sie ihren Gegenüber, dann führte sie einen langsamen, leicht zu parierenden Schlag aus.

„Wir werden zunächst mit einem niedrigen Tempo anfangen, damit wir einige Schlagkombinationen und die Reaktionen darauf üben können. Mit der Zeit werden wir dieses Tempo steigern.“

Die ersten Schläge stellten für Nat kein Problem dar. Er war zwar von den Tagen im Wasser noch immer geschwächt und ein geübter Kämpfer war er auch nicht. Aber das würde sich mit der Zeit schon noch entwickeln.

Ganz langsam erhöhte Tally das Tempo und so kämpften sie eine längere Zeit. Immer wieder gelang es Tally seine Verteidigung zu umgehen oder auszuhebeln, so dass Nat so manchen schmerzhaften Schlag erhielt.

Nur das harte Training mit Jargo und die vielen Stunden in den Wanten der Katalanya gaben ihm die Kraft, das Übungsgefecht solange durchzuhalten.

Inzwischen zeigten sich sogar auf Tallys Stirn erste Schweißtropfen, aber sie schlug unermüdlich auf Nat ein.

Sie hätte es nie zugegeben, aber sein Talent und seine körperlichen Fähigkeiten und vor allen Dingen seine Leidensfähigkeit überraschten sie.

Außerdem zeigte er eine hohe Lernbereitschaft und sog die Belehrungen und Hinweise auf wie ein Schwamm.

Nach nur wenigen Stunden kämpfte er bereits besser als viele der anderen Kämpfer hier an Bord, die über mehr Erfahrung verfügten.

Es würde noch viel Zeit und viel Training in Anspruch nehmen, bis er in der Lage sein würde, länger als nur ein paar Augenblicke gegen Tally zu bestehen, aber er war auf einem guten Weg.

Widerwillig musste sie zugeben, dass ihr das Training Spaß machte und dass in ihr ein leiser Ehrgeiz erwachte, ihn zu einem guten Kämpfer zu machen.

Sie würde auch Odu den Auftrag geben, mit Nat zu kämpfen, damit er andere Schlagtechniken, aber vor allem einen anderen Kampfstil kennen lernte.

Also gut, es war genug für heute.

Mit einigen schnellen Schlägen trieb sie Nat zurück, dann führte sie einen blitzschnellen Schlag gegen seine Schwerthand. Im nächsten Moment flog seine Holzwaffe in hohem Bogen davon und schlug klappernd auf das Deck.

„In Ordnung, das reicht für heute.“ Ihr Gesicht nahm einen bemüht grimmigen Ausdruck an. „Ich habe mich genug gelangweilt für heute, mir können morgen weitermachen.“

Sie reichte Odu ihr Holzschwert und trat an die Reling, um in den Nebel zu starren, zu der Stelle, wo vor einigen Stunden das Ruderboot verschwunden war.

Hinter sich hörte sie das Rascheln von Stoff. Als sie sich umdrehte sah sie das Hemd von Nat, das am Boden lag. Dann entdeckte sie ihn, als er von der Treppe auf das Hauptdeck sprang, und mit schnellen Schritten zur überhöhten Reling schritt. Er griff sich ein langes Seil, das zum Aufziehen der Segel diente. Da die „Bucaneer“ jetzt vor Anker lag, waren die Segel gerefft und das Seil lag aufgerollt an Deck.

Mit sicheren Bewegungen schlang Nat sich das Tau um die Hüften, dann kletterte er geschickt auf die Umrandung, ließ das Seil über die Reling rutschen. Da es an der Rahstange befestigt war, fiel es in einem langen Bogen ins Wasser. Mit einem kühnen Kopfsprung sprang Nat ins ruhige Wasser.

Einige der Piraten schüttelten verwundert die Köpfe. Obwohl sie Seeleute waren, konnten viele der Männer und Frauen hier an Bord nicht schwimmen.

Das war eigentlich auch im Sinne der Kapitäne, denn Nichtschwimmer verteidigten ihr Schiff länger und verbissener.

Zudem musste Nat schließlich auch damit rechnen, dass die Leviathane das Schiff weiterhin umkreisten. Einen Körper, der aufklatschend ins Wasser schlug, den würden sie aus enormen Entfernungen bemerken.

Aber Nat schien sich dieser Gefahr nicht bewusst. Mit langen ruhigen Zügen schwamm er ein kurzes Stück vom Schiff weg, dann tauchte er mit einem letzten Beinschlag unter die Oberfläche.

In dem klaren Wasser war deutlich zu sehen, wie er mit kräftigen Zügen immer tiefer tauchte.

„SEEMONSTER!“ Der Ausguck hatte, natürlich nur ganz unauffällig, verfolgt, was auf Deck vor sich gegangen war. Er hatte gesehen, wie Nat über Bord sprang und jetzt sah er die schlanken Körper der Leviathane durchs Wasser schießen.

Nat schien die herannahenden monströsen Räuber auch bemerkt zu haben, ließ sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen.

Mit einigen Schwimmbewegungen war er am Schiff und griff nach dem Seil, dass locker ins Wasser herab hing.

Er fasste das Seil, bis es sich straffte, dann zog er sich nur mit den Armen mit fantastischer Geschwindigkeit zurück aufs Schiff…

…ein Schmerz wie ein Stich fuhr durch Rrordraks Kopf …!

Den Leviathanen blieb nur das Nachsehen, sie drehten enge Kurven unter dem treibenden Seil. Eines der Tiere stürzte sich darauf und biss es in Stücke.

Nat hechtete über die Bordwand und hinter ihm kappte einer der Piraten mit seinem Entermesser das wild schlagende Seil, bevor es noch Stücke aus dem Holz brach.

Der junge Mann richtete sich auf, als eine große Faust auf sein Gesicht zuschoss und ihn direkt über der Nasenwurzel traf.

Er schlug lang aufs Deck und schüttelte den Kopf. Seine Nase fühlte sich an wie gebrochen und seine Stirn pochte …

… Rrordrak sank stöhnend auf den Thron, während der Schmerz schlagartig erlosch …

und es gelang Nat nur mit Mühe eine Ohnmacht niederzukämpfen.

„Du bist Schuld, dass ein Seil zerschnitten werden musste. Wir werden das Segel neu vertäuen müssen. Und deine Dummheit hätte das ganze Schiff gefährden können.“

Odus Stimme war nur ein gepresstes Zischen.

„Leiste dir noch einmal so einen dämlichen Fehler und ich werde dich häuten und für die Möwen an der höchsten Rah aufhängen.“

Kaum gezügelte Wut sprach aus seinen funkelnden Augen.

Hinter ihm stand Tally und auch ihr Gesicht zeigte alles andere als Freude.

Wortlos drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf aufs Oberdeck.

Nat ließ sich auf das Deck zurück sinken. Er spürte, wie Blut aus einer Platzwunde an der Stirn über seine Haut lief.

Der Energiestoß, der ihn zu dieser wahnwitzigen Aktion getrieben hatte war versickert. Im Stillen verfluchte er sich, wie er mit dieser Dummheit seine sich nur langsam verbessernde Situation hier auf dem Schiff so gefährden konnte.

Ein alter Seemann mit schütterem weißen Haar und ledriger Haut beugte sich zu ihm herunter. Nat war gefasst auf die nächsten ätzenden Bemerkungen.

„Alle Achtung.“ Der fast zahnlose Mund des Alten verzog sich zu einem Grinsen. „Ich fahr’ schon mein ganzes Leben zur See, aber ich habe noch nie jemanden so schnell ein Seil hinauf klettern sehen. Ich war mir sicher, dass die Fische dich fressen würden.

Aber, wenn Odu dir keine reingehau’n hätte, dann hätt’ ich das gemacht.“

„Mathi, mach Platz.“

Der Alte wurde beiseite geschoben und Alda kniete vor Nat nieder, um ihm mit einem nassen Tuch das Blut vom Gesicht zu wischen.

Auch sie schüttelte den Kopf ob seiner Dummheit, aber ein leichtes Grinsen zog über ihre Züge.

„Klasse Leistung.“

Ehe sie mehr sagen konnte, erklang ein Ruf aus dem Ausguck.

„ES GEHT LOS!“

Nat schob Alda zur Seite, stand auf und eilte zur Reling, wo er durch eine der geöffneten Enterluken blickte.

Da alle Blicke der Anderen sich zum Bug richtete schaute auch Nat nach vorne.

Zunächst erkannte er nicht was sich tat, dann sah er wie sich das Seil, das am Bug des Schiffes befestigt war aus dem Wasser hob und langsam spannte.

Das Schiff wurde in Richtung des Nebels gezogen.

Innerhalb kürzester Zeit verschwand das Schiff im Nebel und Nats zweite Reise durch das Grau begann.

Das kann nicht alles gewesen sein.“

Wutentbrannt funkelte Rrordrak den entspannt dastehenden Kapitän Blackard an.

„Irgendetwas sagt mir, dass jemand überlebt hat. Ihr müsst jemanden übersehen haben.“

Blackard bemühte sich nicht ungeduldig zu klingen.

„Alle Schiffe wurden versenkt. Die Sachen, die wir von dem Flaggschiff geholt haben wurden alle einzeln untersucht, damit da keine Kiste drunter war, in der sich vielleicht jemand versteckte. Wenn es Überlebende gab, dann haben die Seemonster sich darum gekümmert.“

Langsam wurde seine Stimme lauter sein Tonfall gepresster.

„Außerdem war weit und breit kein anderes Schiff. Wenn jemand den Angriff überlebt hätte, dann hätte er tagelang auf dem Wasser aushalten müssen. Und das schafft keiner.“

Blackard dachte kurz an all die Männer und Frauen, die er schon aus Lust oder Ärger über Bord geworfen hatte. Von denen war keiner wieder erschienen, außer in seinen Träumen.

Rrordrak knirschte mit den Zähnen. Leider brauchte er diesen aufgeblasenen Kapitän noch. Keiner war so rücksichtslos, wie Blackard und keinem gelang es, so kampfstarke Schiffe zusammen zu stellen wie diesem riesenhaften Piraten.

Aber ein kleiner Denkzettel konnte nicht schaden.

„Dzyrog.“ Nur ein einziges Wort des Schwarzdruiden und aus dem Gebälk der Decke löste sich ein Schatten und ließ sich zu Boden fallen. Der Boden des Thronsaals erzitterte, die Balken knirschten.

Der schwarze Drache stand direkt hinter Blackard, der erschrocken den Kopf einzog.

„Kapitän. Für mich wäre es ein geringes Ärgernis, wenn ich mich nach einem anderen Anführer umsehen müsste, der mir den Nachschub aus der Alten Welt vom Leib hält. Aber ich bin bereit und in der Lage dazu.“

Er zeigte mit einer Handbewegung auf den Drachen.

„Also mäßigt euch und vergesst nicht, wer hier das Sagen hat.“

Er stieg die Stufen hinab und stellte sich vor den Piraten. Obwohl er fast zwei Köpfe kleiner war als dieser, ließ ihn seine Präsenz mindestens ebenbürtig erscheinen.

„Wenn ihr an meiner Seite bleibt und euch entsprechend verhaltet, dann könnt ihr hier auf diesem Kontinent ein König sein. Wenn nicht, dann werdet ihr Drachenfutter oder ein Aschehaufen.“

Sein Gesicht verzog sich zu einer bösartigen Fratze.

„Ich will, dass eure Patrouillenschiffe noch besser aufpassen und ich erwarte, dass ihr jederzeit zur Verfügung steht, wenn … was? Was ist los?“

Blackards Gesicht hatte sich bei dem Hinweis auf die Patrouillenschiffe verzogen, was Rrordraks’s aufmerksamem Blick nicht entgangen war.

„Wir haben wieder eins verloren.“ Die Stimme des Kapitäns war jetzt leise und gepresst.

„Was heißt das – ihr habt es verloren. Die Schiffe, die ich kenne verliert man nicht einfach so.“

„Wir wissen nicht, was passiert ist.“ Blackard wand sich wie ein Wurm am Haken. Der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein, wenn einem der warme schwefelstinkende Atem eines Drachen in den Nacken blies, war selbst für diesen Hünen, nun ja, schwierig.

„Das Schiff ist von einer Patrouille nicht zurückgekommen. Die anderen dort kreuzenden Schiffe haben Trümmerteile des Schiffes gefunden. Ob es angegriffen wurde ist aber nicht klar, weil kein Schiff in der Nähe zu sehen war, außer es ist in den Nebel verschwunden. Und das kann man dort nicht, nicht einmal in der Nähe. Es gibt dort keine Wege durch den Nebel.“

Die Stimme des Kapitäns überschlug sich fast. Er schwitzte. Wenn Rrordrak seinem Drachen ein Zeichen gab, dann würde Blackard versuchen diesen kleinen Mistkerl zu packen und ihn als Schutzschild verwenden.

„Das ist das vierte Schiff, das so von der Wasseroberfläche verschwindet, ohne dass ihr eine Ahnung habt, was dort vor sich geht.“

Rrordrak’s Augen funkelten vor mühsam unterdrücktem Hass.

„Findet es heraus und tilgt dieses Ärgernis von der Landkarte. Und wenn ihr dafür nicht Manns genug seid, dann werde ich mich selber darum kümmern. Und jetzt geht.“

Rrordrak drehte sich um und stieg die Stufen zum Thron hinauf, ohne Blackard eines weiteren Blickes zu würdigen.

Blackard drückte sich an dem Drachen vorbei, der ihn unverwandt aus seinen gelben Augen anstarrte.

Im Versuch seinen Stolz zu wahren ging er gemessenen Schrittes zur Tür, obwohl er gerne gerannt wäre.

Es war nicht wirklich überraschend, dass sowohl Blackard als auch Rrordrak in diesem Moment den gleichen Gedanken hatten – „Wenn das hier vorbei ist, bringe ich ihn um! Langsam und qualvoll!“

Als die Tür sich schloß, löste sich aus dem Schatten eine hoch gewachsene, in einen weiten Umhang gekleidete Gestalt. Eine Kapuze ließ das Gesicht unkenntlich im Schatten. Durch den Thronsaal wehte der durchdringende Geruch nach Tod und Verwesung.

Rrordrak rümpfte instinktiv die Nase.

Die Gestalt ließ ein feines, höhnisches Lachen erklingen.

„Ihr müsst euch nicht an den Geruch gewöhnen, Rrordrak. Wenn alles nach Plan läuft, seid ihr mich bald los. Allerdings, anscheinend läuft nicht alles nach Plan!?! Wer tanzt euch denn da auf der Nase herum.“

„Mir tanzt niemand auf der Nase herum!“ Rrordrak war zusammen gezuckt. „Ich kämpfe an vielen Fronten, da muss man immer mit Rückschlägen rechnen. Aber der große Plan wird funktionieren, darauf gebe ich euch mein Wort.“

„Ach Rrordrak“, seufzte die große Gestalt, „ich will nicht euer Wort, ich will den Tod. Nicht euren, seid beruhigt, zumindest nicht, wenn alles klappt.“

Der Mann trat noch einen Schritt näher, der Verwesungsgeruch wurde immer intensiver.

„Vergesst nicht unsere Abmachung. Meine Freunde stehen bereit, in einigen Tagen könnte die ... Ernte beginnen, aber dafür muss die Saat ausgebracht sein. Und das ist eure Aufgabe.

Wir können damit nicht bis zur Regenzeit warten, wenn sich alle Völker in ihre Häuser, Höhlen oder Bäume verkriechen. Wir wollen sie jetzt auf den Schlachtfeldern, sie sollen jetzt mit Tod und Verderben ihre Länder verheeren. Also wartet nicht zu lange, sonst ...!“

Die Stimme des Mannes war zu einem Flüstern geworden, dennoch schienen die Worte in Rrordraks Kopf zu dröhnen.

„Wagt es nicht mir zu drohen, ich bin der Herr des Drachen und auch ohne ihn bin ich euch gewachsen, also wählt eure Worte vorsichtiger!“

Die hochgewachsene Gestalt zuckte zurück, dann erklang wieder das leise, höhnische Lachen.

„Vielleicht habt ihr sogar Recht, Rrordrak, in diesem eurem Leben könntet ihr mich vielleicht besiegen, aber möchtet ihr darüber nachdenken, was dann nach diesem Leben sein könnte. Oder wenn es euch nicht gelingt mich zu besiegen.“

Plötzlich wurde die Stimme tief und drohend, zwei rote Funken schienen unter der Kapuze zu tanzen.

„Ich würde so viel Leben in euch lassen, dass ihr alles spüren würdet, ALLES! Vom ersten Tag an, bis ans Ende aller Zeit. Und seid versichert, es würde euch nicht gefallen.“

Mit einem weiten Schwung seines Umhangs drehte der Mann sich um und nach wenigen Schritten verschmolzen seine Umrisse wieder mit den Schatten. Rrordrak hörte das Scharren der Geheimtür, dann war alles ruhig.

Rrordrak fasste sich gedankenverloren an die Stirn, und zu seinem Ärger spürte er einen feinen Schweißfilm auf seiner Haut.

Iskandrien - Die ferne Insel

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