Читать книгу Iskandrien - Die ferne Insel - Carl C. Pörksen - Страница 7

Ein ferner Feind

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Sie waren gemeuchelt,

mit dem Tode entlohnt,

nur das Kind wie durch Zufall

vom Tode verschont.

Das Lied des Helden“ von Galfir Galbrandsson

Jargo lachte auf.

„Dieser Nebel ist wie das Meer.

Überall um uns herum ist nur Nebel.“

Da …, er hatte es wieder gespürt, wie einen Nadelstich, der ihm in die Kopfhaut fuhr.

Rrodrak, der Schwarzdruide warf das Fell ab und erhob sich von der Liege, auf der er in seinem Laboratorium ruhte.

Barfuss lief er über die rauen fleckigen Steine und rieb sich dabei die schmerzende Stelle am Kopf.

Es kam näher, die Schmerzen wurden stärker. Und immer nur für wenige kurze Momente, dann waren sie wieder verschwunden oder nur ein kaum merklichen Ziehen.

Ob das mit dem Schiff zusammenhing, dass sich aus der Alten Welt näherte?

Sein Spion aus Sylthana hatte ihm gemeldet, dass eine neue Expedition zum Fernen Kontinent ausgerüstet wurde. Sie hatten außerdem berichtet, dass ein hochrangiger Magier diese Expedition begleitete. Und ein Arbeiter an den Docks hatte gesehen, wie kurz vor dem Auslaufen der Schiffe noch eine über mannsgroße Kiste an Bord geschafft worden war.

Kurz danach hatten die Kopfschmerzen begonnen und Rrordrak war klar gewesen, dass dieses Schiff niemals das Festland der Fernen Insel erreichen durfte.

Da war etwas an Bord, das ihm … ja … Kopfschmerzen bereitete. Etwas, was ihm zu diesem Zeitpunkt äußerst ungelegen kam.

Nur noch wenige Umläufe und die Aktionen seiner geheimen Truppen würden den fragilen Frieden auf der Insel zerbrechen lassen.

In diese Unruhe würden seine Kämpfer hinein stoßen wie ein heißes Messer in die Butter. Außerdem würde dann noch eine weitere Kraft in den Kampf um die Insel eingreifen, von der die Völker noch gar nichts wussten. Ein Gedanke, der Rrordrak grinsen und erschauern ließ.

Rrordrak hatte bereits vor Jahren die Ferne Insel betreten. Mit einer früheren Expedition hatte er die Nebelinseln überwunden und sich auf der Insel ein neues Dasein aufgebaut.

Das war auch dringend nötig gewesen.

In der Alten Welt hätte man Rrordrak gehenkt, wenn man seiner habhaft geworden wäre.

Das Elend um den Schwarzdruiden begann bereits in seiner Kindheit.

Aufgrund seiner geringen Größe und seiner schmächtigen Gestalt hatte er immer als Prügelknabe für alle anderen Kinder herhalten müssen.

Kein Kind war bereit dem kleinen Wicht mit den tief liegenden Augen und der hohen Stirn beizustehen. Alle neuen Grausamkeiten die Kinder sich ausdenken konnten waren zunächst an Rrordrak ausprobiert worden.

Er durfte als erster ausprobieren, wie tief der neu ausgeschachtete Brunnen wirklich war, ob es schmerzte, wenn man vom Baum gestoßen wurde oder wie viele Kinder auf einem kleinen Körper stehen konnten, bevor Knochen brachen.

Rrordraks Mutter liebte ihren Sohn, aber sie hatte keine Möglichkeiten ihn zu verteidigen. Rrordraks Vater war in den Kriegen zwischen Sylthana und seinen Nachbarstaaten noch vor seiner Geburt umgekommen.

Seine Mutter flüchtete hochschwanger in die Ebenen Sylthanas, um vor weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen sicher zu sein.

Da sie nichts mehr besaß, außer ein paar Kupfermünzen und dem was sie am Leibe trug, war sie froh, dass sie eine Arbeit in einer Taverne in Vrobana, nahe der Hauptstadt Sylthanas fand.

Ab dem Zeitpunkt seiner Geburt wurde Rrordrak wie ein Bastard, ein uneheliches Balg angesehen. Jeder durfte sein Mütchen an ihm kühlen, wenn seine Mutter versuchte dagegen aufzubegehren, wurde ihr deutlich gemacht, dass sie froh sein könnte hier in Sicherheit zu sein.

Ein anderes Schankmädchen aus der Taverne, die einzige Freundin, die Rrordraks Mutter auf der Welt noch hatte, sagte ihr immer wieder, dass Rrodrak diese Zeit überstehen würde und dann würde er stärker und härter sein als alle anderen und würde seinen Weg durch das Leben machen.

Aber auch dieses Kind brauchte sein Ventil, um seine Wut und seinen Schmerz los zu werden. Und so begann Rrordrak bereits im Alter von sechs Jahren damit, kleine und wehrlose Tiere zu quälen und zu töten.

Ausgelöst wurde dieser Drang, als er einen kleinen Vogel fand, der aus dem Nest gefallen war.

Bei einem der größeren Jungs hatte Rrordrak gesehen, wie dieser auf einen Vogel drauf getreten war und solange den Fuß hin und her gedreht hatte, bis das Tier fast in den Staub der Straße gedrückt war.

Als er das auch probierte spürte er den Anflug von Macht, dass er mit diesem Tier tun konnte was er wollte. Es töten, es retten, oder auch retten, um es später zu töten.

Zunächst quälte und tötete Rrordrak Vögel, Mäuse und Ratten oder streunende Katzen.

Als einer der größeren Jungen ihn mal wieder verprügelt hatte, lockte Rrordrak mit einem Stück Fleisch, dass er aus der Taverne geklaut hatte, den Hund der Familie des Jungen hinter sich her in den Wald.

Dort band er ihn an einen Baum und schlug solange mit einem Stock auf den Hund ein, bis er ihm jeden Knochen im mageren Körper gebrochen hatte.

Und bei jedem Schlag hatte er das Bild des Jungen vor sich, der ihn verprügelt hatte.

Als Rrordrak sechzehn Jahre alt war tötete er zum ersten Mal einen Menschen.

Ein Durchreisender hatte den mageren ungepflegten Jugendlichen auf der Straße gesehen und ihm den Auftrag gegeben, bei der Schmiede nachzufragen, ob sein Pferd bereits mit neuen Hufeisen beschlagen war. Hierfür hatte er ihm eine Kupfermünze versprochen.

Rrordrak war ins Dorf gelaufen und sofort zum Schmied gegangen. Da das Pferd bereits fertig war und der Reisende den Schmied bereits bezahlt hatte, hatte dieser Rrodrak das Pferd an die Hand gegeben und ihn aufgefordert, das Tier abzuliefern.

Rrordrak war die Straße entlang gelaufen und an einem nahen Weiher hatte der Reisende im Schatten eines Baumes gelegen.

„Euer Pferd, Herr.“ Eilfertig war Rrordrak vor den Mann getreten, in der Hoffnung für die Übererfüllung seines Auftrags vielleicht eine zusätzliche Kupfermünze zu bekommen.

Mit einem wortlosen Grunzen war der Mann aufgestanden und hatte dem jungen die Zügel des Pferdes aus der Hand genommen.

Rrordrak hatte den Mann angesehen und ihm die geöffnete Hand hingehalten, um seinen verdienten Lohn zu empfangen.

Der Mann hatte Rrordrak mit einem gemeinen Grinsen angesehen, dann hatte er ihm in die geöffnete Hand gespuckt.

„Du solltest fragen, ob das Pferd fertig ist, von abholen war nichts gesagt. Da du deinen Auftrag nicht erledigt hast, gibt es auch kein Geld.“

Der Reisende hatte sich umgedreht, um sich auf sein Pferd zu schwingen.

Rrordraks Gesicht war erstarrt, schwarze Flecken flirrten vor seine Augen. Ein Keuchen entrang sich seiner Kehle und seine Hand fuhr zu dem Messer, das er unter dem Hemd in den Hosenbund geschoben hatte.

Mit einer schnellen Bewegung riss er das Messer heraus und trieb es dem Mann tief in den Rücken.

Der Mann stöhnte auf, verdutzt sah er sich um, was ihn dort am Rücken getroffen hatte.

Rrordrak trat überrascht einen Schritt zurück und zog das Messer aus dem Rücken des Mannes.

Der Reisende sah den mageren Jugendlichen mit dem blutverschmierten Messer in der Hand da stehen.

„Was …?“ Er hob zu einem lauten Schrei an.

Rrordrak sprang vor und stieß dem Mann das Messer in den Hals.

Ein Blutschwall schoss aus der klaffenden Wunde, aus dem Mund kam nur ein gurgelndes Röcheln. Einige Augenblicke sahen der Mann und der Junge sich an, dann brach der Reisende tot zusammen.

Kein Erschrecken zeigte sich in den Zügen des Jungen. Entzückte Schauer überliefen seinen Körper und seine Zunge fuhr über die trockenen Lippen.

Er schaute sich sichernd um. Dann zerrte er den toten Mann mühevoll hinter sich her zum Weiher.

Er durchsuchte die Taschen des Toten und nahm ihm die dünne Geldbörse ab, die er um den Hals trug. Alles andere ließ er unangetastet, wie hätte er den Besitz solcher Gegenstände erklären sollen.

Dann nahm Rrordrak dem unruhig tänzelnden Pferd den schweren Bocksattel ab, band den Toten in die Halteschlaufen des Sattels ein und rollte ihn in den Weiher.

Das Leder des schweren Sattels sog sich schnell mit Wasser voll und innerhalb weniger Augenblicke war der Körper in den dunklen Wassern des tiefen Weihers verschwunden.

Rrordrak nahm das Pferd am Zügel und führt es hinter sich her tiefer in den Wald. Gerne hätte er dem Tier den Hals durchgeschnitten, aber es wäre gefährlich gewesen, wenn das Pferd dann gefunden worden wäre.

Also führte der das Pferd bis weit hinein in die Ebene und trieb es dann mit lautem Rufen und Schlägen mit einer Weidengerte fort.

Diese Tat hatte Rrordraks Mut und Selbstbewusstsein in ungeahnte Höhen schnellen lassen.

Nie wieder wollte er sich von anderen verletzen, betrügen und misshandeln lassen. Doch seine eigenen Fähigkeiten reichten nicht aus, um dies zu gewährleisten.

Auf dem Rückweg zum Dorf grübelte er lange nach und dann kam ihm ein Geistesblitz.

Mit dem Geld des toten Reisenden erkaufte er sich die Unterstützung des Sohns des Schmiedes, ein grobschlächtiger Junge, dessen Körperkräfte in einem deutlichen Missverhältnis zu seinen Geistesfähigkeiten standen.

Bisher war er immer einer der Ersten gewesen, der auf Rrordrak eingeschlagen hatte. Aber als dieser ihm eine Kupfermünze unter die Nase hielt und ihm mehr davon in Aussicht stellte, änderte sich seine Schlagrichtung.

Ab jetzt war Rrordrak sein Boss, nicht sein Freund, aber derjenige der für seinen Schutz bezahlte.

Und Rrordrak erkannte, dass man nicht alles alleine können musste. Der Kopf und die Skrupellosigkeit waren seins, davon hatte er mehr als genug. Und für alles andere fanden sich bereitwillige Männer und Frauen.

Zuerst für ein besseres Leben in Vrobana, natürlich für sich und nicht für seine Mutter, die sowieso nie etwas für ihn getan hatte.

Und mit der richtigen Unterstützung und den richtigen Leuten um sich herum dehnte Rrordrak sich aus.

Zunächst die Tätigkeiten, vom Verprügeln und Quälen über Erpressen und Rauben bis hin zu Überfallen und Töten.

Und dann das Gebiet. Von Vrobana über seine Nachbardörfer und immer weiter.

Auf diese Weise machte Rrordrak seinen Weg, zog eine heimliche und zunächst unauffällige Spur des Schreckens über die Alte Welt.

Immer wieder wechselte er zwischen Sylthana und seinen Nachbarstaaten Belgaria, Suraland und Tirnstein hin und her. Mit seiner stetig wachsenden Schar war er immer da zu finden, wo man ihn gerade am wenigsten suchte und wo sich die reichste Beute machen ließ.

Doch dann hatte Sylthana, unter der Führung von Prilip dem III. und Vater des heutigen Königs, Frieden mit seinen Nachbarn geschlossen und plötzlich hatten die Häscher Rrordrak und seine Horde auch über die Grenzen hinüber verfolgt.

Innerhalb weniger Wochen war seine Truppe von fast fünfzig Personen auf acht verbleibende Getreue zusammengeschrumpft … worden.

Als sich das Netz immer enger zog wurde Rrordrak klar, das er sich absetzen musste.

Eines Nachts schlich er heimlich aus dem Lager. Er hatte Wache, niemand bemerkte sein Verschwinden. Als er durch die Dunkelheit schlich hörte er in der Nähe das Knirschen von Leder und das unterdrückte Schnauben eines Pferdes.

Die Männer des Königs, sie hatten ihn erwischt!

Nein, sie hatten die Gruppe erwischt. Sollten sie mit den anderen machen was sie wollten. Am besten sollten sie alle töten, dann würde vielleicht niemandem auffallen, dass er verschwunden war.

Lautlos schob er sich durch die Reihen der Häscher und entkam in die Dunkelheit.

Er machte sich auf den weiten Weg nach Sylthana. Durch einen langen Bart und sein abgemagertes und abgerissenes Äußeres kam er ungesehen in die Stadt.

An einigen Straßenecken hingen noch zerfetzte Steckbriefe mit seinem Konterfei, doch man war davon ausgegangen, dass er bei dem letzten Gemetzel an seinen Gefährten oder davor den Tod gefunden hatte.

Rrordrak war klar, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als die bekannten Gegenden zu verlassen. Er war noch keine dreißig Jahre und schon gab es eine Welt, auf der er sich nie wieder blicken lassen konnte. Der Kummer hierüber hielt sich in Grenzen, er hatte keine sehnsüchtigen Gedanken an seine Heimat.

Als er ein Schiff entdeckte, dass voll beladen mit Waren für die Ferne Insel zum Auslaufen bereit lag, schlich er auf das Schiff und versteckte sich tief in den Laderäumen.

Nach langer unruhiger Überfahrt, auf der ihm die Seekrankheit aufs Äußerste zusetzte – sein Grund, nie wieder die Ferne Insel zu verlassen – kam er in Rimmond an und auch hier gelang es ihm unentdeckt zu bleiben.

Auf der Insel herrschte eine völlig andere Stimmung als in der Alten Welt. Auch nach vielen Jahren schien hier immer noch alles im Aufbruch zu sein. Wer sich hierher begab, war auf Abenteuer und Gefahren eingestellt und war jederzeit bereit sich gegen Angriffe jeder Art zur Wehr zu setzen.

So gelang es Rrordrak nicht, mit Einflüsterungen und Heimlichkeit Andere um sich zu scharen. Stattdessen entging er mehrere Male nur knapp dem Tode, wenn sich die starken Kämpfer, die er an seine Seite ziehen wollte gegen ihn wandten.

Rrordrak hielt sich mit kleineren Diebstählen und Räubereien über Wasser und trieb über die Insel wie ein Stück Holz über einen See.

Aus Thorland zog es ihn in die Randgebiete Endorias. Doch die Elfen durchschauten schnell sein wahres Wesen. Wo immer er auftauchte schnellten die Hände der begnadeten Jäger zu den Köchern und er verließ dieses Gebiet so schnell wie ein Fuchs, dem der Schwanz brennt.

Um keinem Volk zu sehr aufzufallen, wanderte er die Grenze zwischen Alturien und Borgkarst entlang.

Sowohl die Barbaren als auch die Zwerge waren den Angehörigen anderer Völker gegenüber extrem misstrauisch, daher konnte Rrordrak nirgendwo Fuß fassen.

Er zog in die Berge, die Borgkarst und Alturien nach Norden begrenzten und verirrte sich nur dann in die Täler, wenn die Wege durch die Berge ihn dazu zwangen.

Die Bergkette, in der Sprache der Zwerge Thyrdahl und in der Sprache der Barbaren Kosteidor genannt, war tatsächlich noch nie bezwungen worden. Alle Expeditionen, die das bisher versucht hatten, waren nie wieder zurückgekehrt.

Die Bewohner des bekannten Teils der Fernen Insel hatten sich damit abgefunden, dass ihr Kontinent hier endete.

An die Nordostseite Alturiens grenzte noch ein Sumpfgebiet. Doch dieser Sumpf war für mehr oder weniger menschliche Wesen unzugänglich. Hier hausten gigantische Kreaturen der Sümpfe, baumlange Krokodile, handtellergroße Mücken, dreiköpfige Hydren und schlangenhaarige Medusen, die mit ihren Blicken die Wandernden zu Stein erstarren lassen konnten.

Aus der Sicherheit der Berge beobachtet Rrordrak auch immer wieder Behemoths, behaarte Kreaturen mit schwertlangen Krallen, so hoch wie zwei Männer und so stark wie drei Stiere.

Sie durchwanderten die Landschaften Alturiens und unvorsichtige Reisende fielen immer wieder diesen Ungeheuern zum Opfer.

In dem sicheren Wissen, dass er hier auf diesem Kontinent ein schnelles, unrühmliches Ende finde würde, gefressen von einem Behemoth oder erschlagen von erzürnten Dorfbewohnern, zog Rrordrak immer tiefer in die Berge.

Bald kam er in Höhen, in denen nur noch kleine verkrüppelte Kiefern wuchsen und Flechten die Steine überzogen.

Das letzte Fleisch eines unvorsichtigen Bergschafes war längst gegessen und mit lautem Magenknurren schleppte Rrordrak sich immer weiter hinauf.

Seine Beweggründe hätte er nicht mehr benennen können, er wollte nur weiter, bis in den Tod.

Irgendwann brach er zusammen, seine geschwächten Muskeln trugen sein nur noch geringes Gewicht nicht mehr. Er lag bäuchlings auf den kalten Steinen und starrte blicklos in den Sonnenuntergang.

Das war also das Ende, so würde sein wertloses Leben versickern. Rrordrak drehte mit einem verächtlichen Schnauben der Sonne den Hintern zu und sah der aufziehenden Dunkelheit entgegen. Die Sonne war nie sein Freund gewesen, die Dunkelheit, die Zeit der Schwärze und der Heimlichkeiten war seins.

Auf einer nahen Anhöhe sah er ein kurzes Aufblitzen. Zunächst glaubte er, eine Spiegelung der Sonne auf einer Wasserstelle gesehen zu haben. Aber dann blitzte es erneut auf und im nächsten Moment leuchtete an der Stelle ein gelbes Licht auf. Zu diesem gesellten sich in den nächsten Minuten weiter hinzu, bis ein weicher gelber Schimmer eine größere Fläche beschien.

Rrordrak traute seinen Augen nicht. Ein Dorf!

Hier in der totalen Einöde der hohen Berge lag ein Dorf!?! Oder spielte ihm seine Phantasie, ob der Todesnähe einen Streich.

Rrordrak kniff die Augen fest zu und zählte die Namen aller neun Götter der Menschen auf. Dann öffnete er die Augen wieder.

Das Licht war immer noch da. Sollten die Götter ihm vielleicht doch auch einmal beistehen.

Mit letzter Kraft richtete er sich auf und schleppte sich auf das Licht zu. In diesem Moment siegte doch wieder der Lebenswille über die Verzweiflung und mobilisierte die letzten Kräfte.

Nach einer endlos erscheinenden Zeit taumelte Rrordrak in den Schein der Laternen, die vor verschiedenen Höhleneingängen hingen. Dieser Lichtschein beleuchtete eine grausige Szenerie.

Zwischen den offensichtlich natürlichen Höhleneingängen befand sich ein Platz von etwa dreißig Schritt im Quadrat.

An einer Seite dieses Platzes ragte ein etwa fünf Mannslängen hoher Monolith auf, an dessen Fuß ein steinerner Altar stand.

Um diesen Altar lief eine in den Fels gehauene, glatt polierte Rinne, die in ein flaches Becken in der Mitte des Platzes mündete.

Auf dem Altar lag ein ausgeweideter Körper. Es war nicht zu erkennen, ob es sich dabei um ein Tier oder ein Mitglied einer anderen Rasse handelte.

Das Blut aus diesem Körper war den Altar hinab geflossen und durch die Rinne in das Becken in der Mitte des Platzes geströmt.

Um dieses Becken knieten mehrere, anscheinend menschliche Wesen, in lange schwarze Kutten mit großen spitzen Kapuzen gehüllt.

Sie tauchten wieder und wieder die Hände in das Blut, beschmierten sich die Gesichter mit absonderlichen Zeichen oder tranken das Blut mit flachen, schlürfenden Zügen.

Rrordrak erschauerte, aber nicht aus Ekel. „Willkommen Zuhause“, war sein letzter Gedanke, dann traf etwas mit brutaler Gewalt seinen Hinterkopf und die Nacht schloss sich um ihn.

Als er wieder erwachte, lag er mit ausgestreckten Gliedern auf dem steinernen Altar. Die Arme und Beine waren mit kurzen Stricken an Ringe gebunden, die in den Altar eingelassen waren.

Um ihn herum standen ein Dutzend Gestalten und betrachteten ihn aus mitleidlosen, im Schein der Lampen flackernden Augen.

Zwischen zwei Männern – Rrordrak konnte jetzt erkennen, dass es sich bei den Wesen tatsächlich um Menschen handelte – war ein heftiger Streit entbrannt.

Die Sprache der beiden Männer erinnerte rudimentär an die Sprache der Alten Welt, aber hier auf dem Fernen Kontinent hatte Rrordrak diese Sprache noch nie gehört.

Die beiden Männer zischten sich mit wütenden Stimmen an und immer wieder deutete einer der beiden auf Rrordrak, offensichtlich um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.

Plötzlich schwiegen sie, dann drehte einer der Beiden sich um und eilte zu einer Höhle am Rand des Platzes. Nach kurzem Zögern verschwand er im Dunkel der Höhle.

Die anderen Menschen, die Rrordrak umstanden sahen abwartend zum Höhleneingang.

Aus der Höhle drang ein tiefes Knurren, dann kam der Mann, der in die Höhle gelaufen war mit schnellen Schritten wieder heraus und stellte sich zitternd zu der Gruppe der Wartenden.

Im Höhleneingang erschien ein großes Ungeheuer. Zumindest erschien es Rrordrak so. Doch als das Ungeheuer in den Schein der Lampen trat, konnte man erkennen, dass es sich nur um einen hoch gewachsenen Mann handelte, der sich ein riesiges Fell übergeworfen hatte.

Unter dem Fell trug der Mann nur eine verschlissene Hose, auf der sehnigen nackten Brust lag eine Kette aus den mächtigen Hauern und Krallen eines Behemoth. Die Krallen reichten dem Mann bis zur Hüfte.

Den Schädel des Behemoth hatte der Mann sich wie einen Hut aufgesetzt, so dass es aussah, als hätte das Ungeheuer die Zähne in den Kopf des Mannes geschlagen.

Er trat an den Altar und schaute Rrordrak lange an. Dann sprach er ihn an, doch Rrordrak verstand keins der kehligen Worte.

Er versuchte zu antworten, aber nur ein Krächzen entrang sich seiner Kehle. Der Mann gab ein kurzes Zeichen und sofort huschte ein weiterer Mann los und holte einen Krug mit Wasser. Dies schüttete er Rrordrak in den Mund, wobei der größte Teil vorbeilief und lange Streifen in das Blut auf dem Altar wusch.

Rrordrak schluckte und räusperte sich.

„Mein Name ist Rrordrak, ich komme aus der Alten Welt und ich verstehe kein Wort von dem was ihr sagt.“

Die Umstehenden sahen sich verständnislos an, aber über das Gesicht des Mannes mit dem Fell huschte der Anflug eines Lächelns.

„Was tust Du hier?“

Rrordrak hob überrascht den Kopf. Der Mann hatte ihn in der Sprache der Menschen aus der Alten Welt angesprochen.

Seine Gedanken rasten. Was konnte er sagen? Womit konnte er diese Männer beruhigen oder sogar beeindrucken? Würde eine Lüge über seine Vergangenheit sich besser machen, als die Wahrheit?

„Ich bin aus der Alten Welt geflohen, weil man mich als Verbrecher dort gejagt hat. Hier auf dem Fernen Kontinent hoffte ich Gleichgesinnte zu treffen, aber hier scheinen alle miteinander in einer Art Frieden leben zu wollen. Da gab es für mich keinen Platz.“

Jetzt würde es sich entscheiden. Hatte er soeben mit seinen Worten sein eigenes Todesurteil unterschrieben.

Der große Mann sah ihn noch einige Augenblicke an. Dann zog er ein langes Messer unter dem Fell hervor und schnitt mit einer schnellen Bewegung die Seile durch, die Rrordrak an den Altar fesselten.

Rrordrak setzte sich auf und rieb sich die Handgelenke.

Die anderen Männer sahen den Mann mit dem Fell an.

Dieser stieß einige kurze Worte in der fremden gutturalen Sprache hervor. Daraufhin drehen sich die anderen Männer um und gingen in die Höhlen, ohne Rrordrak eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Mein Name ist Farzorn!“

Der Mann mit dem Fell reichte Rrordrak die Hand, zog ihn vom Altar herunter und führte ihn in seine Höhle.

So begann die Entwicklung Rrordraks des Verbrechers von einem Ärgernis zu einer echten Gefahr.

Farzorn machte Rrordrak zu seinem Schüler und unterwies ihn in den mörderischen schwarzen Druidenkünsten.

Während die wahren Druiden die Mächte der Natur nutzten, um ihre Zauber zu wirken und hierbei immer auf das Leben und das Gleichgewicht der Natur achteten, zählte für die Schwarzdruiden nur der Tod.

Sie betrieben das Töten wie eine eigene Kunstform, egal ob durch Waffengewalt, mit bloßen Händen oder durch machtvolle schreckliche Zauber.

In ihren Ritualen ging es immer um die Anbetung des Todes, um die Würdigung des Tötens und darum die Kraft der Toten in sich aufzunehmen.

Sie glaubten nicht an Götter, ihr einziger Gott war der Tod.

Rrordrak saugte die Lehren der Schwarzdruiden auf wie ein Schwamm und erwies sich als äußerst fähiger Lehrling.

Der Einsatz von Waffen oder körperlicher Fähigkeiten war seine Sache nicht, hier waren ihm andere immer voraus.

Doch schnell lernte er die richtigen Zauber für seine Zwecke.

Wurde er zunächst in den Trainingskämpfen wiederholt schmachvoll besiegt, so setzte er bald seine Fähigkeiten für seine Zwecke an.

Doch besonders einem der Schwarzdruiden, einem Hünen namens Liryus war Rrordrak ein Dorn im Auge. Seine gute Beziehung zu Farzorn weckte die Eifersucht in diesem Mann.

Wieder und wieder nutzte er die Trainingskämpfe, um Rrordrak schmerzhafte Lehren zu erteilen.

Seine Brutalität wurde dabei immer extremer.

Farzorn bot diesem Treiben keinen Einhalt, er wusste, dass Rrordrak sein Gesicht verlieren würde, wenn er auf die Hilfe seines Mentors angewiesen wäre.

Eines Tages forderte Liryus Rrordrak erneut zum Kampf heraus. Rrordrak stellte sich wie immer dieser Herausforderung. Liryus drang mit schnellen Schlägen eines langen Holzknüppels auf Rrordrak ein, die dieser nur mühevoll abwehren konnte.

Dann traf ihn ein starker Schlag seitlich an der Hüfte und er wurde zu Boden geschleudert.

Liryus stolzierte um ihn herum und sah feixend in die Runde der zuschauenden Schwarzdruiden.

Rrordrak stütze sich auf einen Ellenbogen, dann richtete er einen Finger auf Liryus und sprach voller Intensität einen kurzen gepressten Zauberspruch.

Liryus erstarrte, sein über dem Boden im Schritt verharrender Fuß bewegte sich um kein Jota.

Seine Augen weiteten sich erschrocken, er versuchte zu Rrordrak zu schauen, aber er konnte kein Körperglied bewegen.

Ganz ruhig stand Rrordrak auf, klopfte sich den Staub von der Kleidung und nahm seinen Stock auf.

Er strich fast zärtlich über den knotigen langen schwarzen Stock, aus dem Ast eines Blutdorns geschnitten und murmelte erneut einen leisen Spruch. Ein kurzer Blitz zuckte auf und dann schimmerte der Stock in einer roten flackernden Aura.

Mit gemächlichen Schritten trat Rrordrak auf Liryus zu und hob den Stock.

Dann schlug er zu, immer und immer wieder. Liryus hatte keine Möglichkeit der Gegenwehr, sein gelähmter Körper ließ nicht einmal einen Schrei zu.

Jeder Schlag des magisch verstärkten Stocks brach Knochen und zerriss Muskeln. Liryus wäre bereits nach den ersten Schlägen zusammengebrochen, wenn der Lähmungszauber dieses zugelassen hätte.

Irgendwann brach der Blick der tränenden Augen, der Tod erlöste Liryus von seinen Qualen. Doch Rrordrak schlug weiter, schnaufend und schwitzend auf den Mann ein, bis er jeden Knochen in dessen Körper zertrümmert hatte.

Die umstehenden Schwarzdruiden nahmen diese brutale Darstellung gleichmütig auf. Liryus hatte eine solche Reaktion herausgefordert, jedoch nie daran geglaubt, dass sie erfolgen könnte.

Innerhalb der Gruppe herrschten keine Empathien, daher berührte es niemanden, dass Liryus seine gerechte Strafe erhielt.

Farzorn führte die Ausbildung von Rrordrak mit unverminderter Energie fort, zudem las Rrordrak alles, was ihm an magischen Büchern oder Schriftrollen in die Hände kam.

Die Schwarzdruiden lebten fast autark von der restlichen Welt. Sie bauten ihr eigenes Gemüse an, jagten das Wild in den Bergen und brauten ihr eigenes Bier.

Nur ganz selten gingen einige von Ihnen los und holten aus den Dörfern und Städten von Borgkarst andere Waren, die sie nicht selber herstellen konnten. Zum Beispiel Werkzeuge und spezielle Ingredienzien für ihre geheimen Riten.

Auch nach Alturien gingen sie, doch da nur in geheimen Unternehmungen. Hier überfielen sie die Dörfer der Barbaren, um dort Vieh zu stehlen und Frauen zu entführen.

Diese Angriffe wurden kaum verfolgt, weil es den Barbaren aufgrund ihrer Wildheit nicht gelang, sich für eine Verfolgung zu vereinen.

So lebte Rrordak für mehrere Jahre in der Abgeschiedenheit der Berge, trainierte seine Fähigkeiten und stärkte seine unselige magische Macht.

Eines Tages befand Rrordrak sich auf einer einsamen Wanderung durch die Berge, als zwei riesige Behemoths aus dem Unterholz brachen. Die Ungeheuer schienen auf der Flucht vor etwas zu sein, als sie dem Menschen in der schwarzen Kutte gewahr wurden.

Sofort wich die offensichtliche Furcht der Monstren ihrem Blutdurst und sie stürzten auf Rrordrak zu.

Dieser umfasste seinen Stock fester, den er seit der „Hinrichtung“ von Liryus nicht mehr aus der Hand ließ und brüllte schnelle abgehackte Worte.

Ein gleißender Blitz schlug aus dem Stock, raste auf einen Behemoth zu und ließ diesen zerplatzen, wie einen Tropfen, der auf einen Felsen platschte.

Rrordrak taumelte, der machtvolle Spruch hatte ihn deutlich geschwächt.

Der zweite Behemoth hatte den Tod seines Gefährten offensichtlich gar nicht zur Kenntnis genommen, er stürmte unbeeindruckt auf Rrordrak los.

Plötzlich verdunkelte sich für einen Moment die Sonne, dann war der Behemoth von einem Flammenmeer eingehüllt.

Ein ohrenbetäubendes Brüllen erklang, aus den Flammen taumelte das brennende, blicklos um sich schlagende Monster.

Der Schatten senkte sich herab und ein gigantischer schwarzer Drache landete mit ausgefahrenen Klauen auf dem brennenden Ungeheuer.

Ein mahlender Biss und das Brüllen verstummte. Stille herrschte auf der Lichtung, nur das leise Knistern der Flammen im Fell des Behemoth war zu hören.

Langsam und majestätisch hob der Drache den Kopf und sah Rrordrak aus wenigen Schritt Entfernung mit seinen schwefelgelben Augen an.

Rrordrak schluckte. Selbst im Vollbesitz seiner magischen Kräfte hätte er gegen diesen Gegner keine Chance. Ihm blieb nichts anderes als abzuwarten, was geschah.

Er sah dem Drachen fest in die Augen und konzentrierte sich auf das Flackern in den gelben Augen.

Minutenlang bewegte sich keiner der beiden Protagonisten, sogar die Natur schien zu schweigen. Kein Ton durchbrach die Stille. Dann ein Zucken, das doppelte Lid des Drachen schloss sich. Ein geistiger Funke schien zu einem Feuer aufzulodern, ein Kreis schien sich zu schließen, zwei finstere Wesen fanden ihre Bestimmung.

Der Drache wandte den Kopf ab, wie eine Geste der Scham, dass er in dem schweigenden Wettkampf der beiden düsteren Seelen unterlegen war.

Mit festen Schritten trat Rrordrak vor und legte dem Drachen die Hand auf die stahlharten Schuppen der Schnauze. Der Drache zuckte und stieß eine kurze Rauchwolke aus.

Rrordrak blieb unbeeindruckt und rieb mit der Hand fest an einer weichen Stelle am Nasenloch.

Der Drache blieb bewegungslos sitzen, dann stieß er ein kurzes zufriedenes Grunzen aus.

Lange streichelte Rrordrak den Drachen, während dieser die Behandlung genüsslich über sich ergehen ließ.

Dann wandte der neue Schwarzdruide sich ab und ging einige Schritte in die Richtung aus der er auf die Lichtung gekommen war.

Sofort richtete der Drache sich auf und sah ihm nach, dann folgte er dem Mann mit langen schweren Schritten, wie ein Hund.

In dieser Nacht tötete Rrordrak Farzorn und alle anderen Schwarzdruiden im Lager.

Er erschlug seinen Lehrmeister mit dem knorrigen Blutdornstock, ein wuchtiger Schlag zertrümmerte Farzorn den Schädel.

Dann schleppte er den Leichnam des Anführers der Schwarzdruiden auf den Platz zwischen den Höhlen.

Ein kurzer Spruch, ein Vorstoßen des Stocks, und aus dessen Spitze schlug ein Blitz in den Monolithen und ließ den hohen Stein und den Altar bersten.

Rrordrak spürte dabei eine enge Verbundenheit zu dem schwarzen Drachen, die seine magischen Fähigkeiten in bisher ungeahnte Höhen steigen ließ.

Aus den umliegenden Höhlen rannten die Schwarzdruiden auf den Platz und sahen sich verwirrt um. Rrordrak gab ein Zeichen mit seinem Stock und aus dem Dunkel schälte sich die riesenhafte Gestalt des Drachen.

Bevor einer der Männer reagieren konnte ließ der Drache eine verheerenden Feuerstoß aufflammen, der den wehrlosen Männer in Sekundenbruchteilen die Haut vom Körper schälte, das Fleisch schmelzen ließ und die Knochen zu feiner Asche verbrannte.

Die unglaubliche Hitze ließ den Sand des Platzes wie geschmolzenes Glas blubbern.

Rrordrak hatte sich in den Schutz des Eingangs von Farzorns Höhle zurückgezogen.

Zwei Nachzügler, die mit offenem Mund staunend auf das furchtbare Geschehen starrten, tötete Rrordrak mit blau flirrenden Blitzen aus dem Stock.

Er blickte hinab auf die kleinen Aschewolken, die von einem leichten Windstoß über den Platz getrieben wurden und Tränen des Stolzes und der Freude liefen über seine eingefallenen Wangen.

Rrordrak der Verbrecher war nicht mehr, das Wissen um diesen Mann war mit den eingeäscherten Schwarzdruiden gestorben.

Ab jetzt gab es nur noch Rrordrak den Schwarzdruiden und Herrn des Drachen.

Und so begann sein Zug zur Eroberung der Fernen Insel.

Ihm war klar, dass selbst die Macht seiner finsteren Magie und die Stärke seines Drachen nicht ausreichen würden, um die Insel zu beherrschen.

Er war weiterhin sterblich, genau wie sein Drache, solange er keinen Weg gefunden hatte, diese Sterblichkeit hinter sich zu lassen.

Was er jetzt brauchte, waren eine Armee, die ihm folgte, eine Basis, die leicht zu verteidigen sein würde, aber gleichzeitig Ausgangspunkt für weitere Angriffe auf den Rest der Insel sein konnte und eine Möglichkeit die Zufuhr weiterer unerwünschter Gäste aus der Alten Welt zu unterbinden.

Der Weg nach Arkadien begann.

Rrordrak verspürte erneut einen stechenden Schmerz im Kopf, ein dünner Blutfaden sickerte aus seiner Nase.

Dann war die Pein vorbei.

Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht und setzte sich auf einen schmutzigen Stuhl, stützte den Kopf in die Hände und starrte dumpf brütend in die Dunkelheit.

Das also waren Sie, die Nebelinseln.

Natürlich hatte Nat unzählige Geschichten über die Nebelinseln gehört, natürlich hatte er auch in der Alten Welt viele Male Nebel erlebt, aber das hier war etwas anderes.

Dieser Nebel lag über dem Wasser wie eine Wand. An den Rändern zerfaserte der Nebel nicht, er bildete eine kompakte Masse, die scheinbar wie mit dem Messer geschnitten endete.

Seit mehreren Stunden war der Nebel am Horizont zu erkennen und jetzt waren die sylthanischen Schiffe nur noch etwa fünfzig Schiffslängen entfernt.

Voraus war eine große hölzerne Insel erkennbar, hier hatten die Länder der Alten Welt eine gemeinsame Station eingerichtet, die den Verkehr zwischen der Alten Welt und der Fernen Insel überwachte.

Auf dieser Station waren immer etwa zehn Soldaten, die alle Schiffe registrierten, die in den Nebel hinein fuhren oder den Nebel verließen.

Der Schiffsverkehr wurde direkt per Luftpost an den sylthanischen König gemeldet. Hierzu waren auf der Station luftige Käfige mit Habichten und Feennymphen aufgestellt.

Die Soldaten schrieben ihre Nachrichten auf kleine Schriftrollen, gaben sie den winzigen Feennymphen in die Hand, die dann auf den Habichten zum Königshaus flogen und die Nachricht dort ablieferten.

Die Station markierte auch für die anfahrenden Schiffe die Einfahrt in die Strömung, die durch den Ring der Nebelinseln in das Meer der Fernen Insel führte.

Die drei sylthanischen Schiffe kamen kurz nach der Mittagssonne an der Einfahrt zum Strudel an. Mit den Flaggen wurden vom Führungsschiff, auf dem Nat und Jargo sich befanden, die Anweisungen für die Formation zur Durchfahrt gegeben.

Die Portalia, die den Konvoi bisher an der Steuerbordseite begleitet hatte, schwenkte als erste ein und fuhr direkt auf eine hohe Boje zu, die etwa eine Schiffslänge vor der Nebelwand verankert war.

Ihr folgte die Katalanya, ehe als letzte die Lysitana die schwimmende Station passierte.

Die Soldaten von der Station winkten herüber und riefen freundliche Grüße über das Meer.

Die Matrosen der Katalanya ließen ein vorbereitetes Floß über die Bordwand herunter, das von der leichten Strömung zu den Soldaten der Station getragen werden würde.

Hierauf waren Nahrung und Getränke, aber auch Geräte und Werkzeug, das die Soldaten für die Instandhaltung der Station angefordert hatten.

Da in letzter Zeit immer weniger Schiffe den Weg in den Nebel nahmen, wurde es auch schwieriger die Versorgung der Soldaten sicher zu stellen. Und was die Feennymphen auf ihren Botenflügen mitführen konnten, hätte für einen ausgewachsenen Mann nicht einmal für eine Mahlzeit gereicht.

Mit langen Staken zogen die Soldaten das Floß an die Station

heran, dann winkten Sie ein letztes Mal, bevor die Schiffe im Nebel verschwanden.

Von einem Moment auf den anderen war die Portalia wie vom Erdboden verschluckt.

Die Katalanya trieb auf den Nebel zu. Die Bugspitze stieß in den Nebel. Wo die grauen Schwaden über das Schiff zogen verschwand alles wie durch ein Tor in eine andere Welt.

Matrosen und Soldaten, die diese Durchfahrt zum ersten Mal machten, wichen instinktiv zurück, erfahrene Seeleute blieben ruhig stehen oder setzten sich gemütlich hin und ließen sich vom Nebel überrollen.

Sie wussten, dass sie ohnehin jetzt keinen Einfluss mehr nehmen konnten. Die Strömung hatte das Schiff eingefangen und zog es mit festem Griff durch den Nebel.

Kapitän Nilsson hatte den Rudergänger abgelöst, legte aber selber keine Hand an das Ruder. Er hatte es mit einem Seil gesichert und stierte in das undurchdringliche Grau.

Nat sah sich nach Jargo um, konnte ihn in dem Nebel jedoch nicht sehen. Sein väterlicher Freund, der Nats schwach flackernde Aura erkennen konnte, legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Es dauert nicht lange, dann sind wir durch. Du kannst dich ausruhen, versuche nicht durch den Nebel zu blicken. Deine Phantasie kann dir vorgaukeln, dass direkt vor dir eine Insel, eine Felswand oder ein anderes Schiff vorbeizieht. Aber selbst wenn das so wäre, das Schiff kann nicht anhalten.“

Er setzte sich auf das Deck und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling. Mit der Hand zog er Nat mit sich. Nat konnte in dem vollkommenen Nebel die Hand nicht sehen, nein er sah nicht einmal seine eigene Hand. Er hob sie bis dicht vor die Augen, konnte aber nur die schemenhaften Umrisse erkennen.

Er folgte dem Zug der Hand und setzte sich auf den Boden.

Überall erklang leises Rascheln und Scharren, als sich auch die anderen Seeleute und Soldaten auf den Boden setzten.

Nat tastete nach der Reling und ließ sich zurück sinken.

„Gibt es keine Möglichkeit diesen Nebel zu lichten? Kannst Du nicht einen Windstoß zaubern, der den Nebel vertreibt?“

Jargo lachte auf.

„Dieser Nebel ist wie das Meer. Überall um uns herum ist nur Nebel. Stell dir vor, du bist tief im Meer. Was folgt nach, wenn du Wasser wegzauberst. Natürlich auch nur Wasser, weil um dich herum nichts anderes ist. Dafür verschwende ich keine magische Energie.“

Er kniff Nat leicht in den Arm.

„Aber dir steht es natürlich frei, zu versuchen mit deinen Fähigkeiten durch den Nebel zu blicken.“

Nat grunzte zustimmend. Dann konzentrierte er sich und blickte in das Grau, direkt vor seine Augen.

Er stellte sich einen Punkt, eine kleine runde Fläche in diesem Grau vor und ließ seinen Blick dort hinein tauchen.

Der Punkt wurde dunkler, die Fläche weitete sich etwas, dann schien Nats Blick in den Punkt einzutauchen und sich dahinter wie auf einer Ebene auszubreiten.

Er drehte den Kopf und stellte fest, dass der Nebel auf dem Schiff, für seinen Blick, nur noch eine leicht milchige Substanz hatte und Nat konnte sogar den Kapitän erkennen, der die Augen fest geschlossen hielt. Mit einer Hand stützte er sich auf das Kompassgehäuse, mit der anderen fühlte er die leichten Bewegungen des gesicherten Steuerrades.

Dann schüttelte Nat den Kopf, sein Blick normalisierte sich, die Welt verschwand wieder in dem vollkommenen Grau. Was brachte es, sich anzustrengen, um den Männern bei den verschiedenen Stadien des Ruhens zuzusehen? Entspannt lehnte Nat sich zurück und schloss die Augen, für ein kleines Nickerchen.

Ein lautes Rufen ließ Nat auffahren. Er riss die Augen auf, doch ihn umgab immer noch das undurchdringliche Grau des Nebels.

Vom Bug des Schiffes erklangen laute Rufe und er vernahm noch ein weiteres Geräusch, das Donnern von Kanonen.

Die Nebelwand endete und die Katalanya schob sich hinaus in den gleißenden Sonnenschein.

Die Sonne stand hoch voraus an Backbord und blendete die Seefahrer, die in den letzten Stunden teilweise die Augen geschlossen hatten.

Nat kniff die Lider zusammen und beschattete mit der Hand die Augen.

Im Sonnenschein erkannte er drei große Schiffe, die sich offensichtlich wie ein Wolfsrudel auf die Portalia gestürzt hatten und mit der vollen Schusskraft von drei Breitseiten auf das Schiff feuerten.

Der Eindruck eines Wolfsrudels wurde noch dadurch verstärkt, dass die Schiffe nicht mit herkömmlichen weißen Segeln bestückt waren. Vielmehr waren die Segel grau eingefärbt, damit die Schiffe vor der Nebelwand kaum auffielen. Sogar die Rümpfe waren unregelmäßig mit grauer Farbe bemalt.

Das Schiff und seine Besatzung hatten nicht die Spur einer Chance. Bevor auch nur die Kanonen bemannt waren schlugen bereits die Kartätschen, die mit grobem Schrot gefüllt waren und die Kanonenkugeln auf dem Schiff ein. Besonders die Ketten- und Stangenkugeln richteten verheerende Schäden an Mast und Takelage an.

Aufgrund des Vortriebs durch die Strömung hatte der Kapitän des Schiffes auf den eigenen Antrieb durch die Segel verzichtet, so waren die Segel noch gerefft, die Portalia besaß in diesem Moment keine Manövrierfähigkeit.

Verzweifelt versuchte der Kapitän das Ruder herumzuwerfen und den Schwung der Strömung auszunutzen, um wieder in den Nebel zurück zu treiben.

Doch weitere Breitseiten schlugen in dem Schiff ein, der Hauptmast bekam etwa zwei Mannshöhen über dem Deck einen Volltreffer ab und mit einem lauten Krachen fiel er auf das bereits von Trümmern und Leichen übersäte Deck.

Die Seile und Wanten rissen und schlugen wie Peitschen über das Deck.

Plötzlich durchschlug eine Kanonenkugel den schwer beschädigten Rumpf des Schiffes und schlug mittschiffs in die Munitions- und Waffenkammer ein. Der Einschlag entzündete ein Funkenmeer, das in das herumfliegende Pulver fuhr und eine riesige Explosion zerfetzte das Begleitschiff.

Nat stand wie erstarrt an der Reling und blickte hinüber auf das unfassbare Gemetzel, das sich dort vor seinen Augen abspielte.

Auch andere Matrosen und Seesoldaten trauten ihren Augen nicht, standen fassungslos und mit weit aufgerissenen Mündern auf dem Deck des Schiffes.

Andere jedoch reagierten unverzüglich auf das, was sich hier vor ihren Augen abspielte.

Kapitän Nilsson hatte das Ruder ergriffen, die Vertäuung gelöst und riss es herum, so dass die Katalanya sich von den anderen Schiffen entfernte und den Angreifern zunächst nur das schmale Heck präsentierte.

Unablässig brüllte er Befehle.

„Alle Segel hissen. Geschützmannschaften die Kanonen besetzen, Seesoldaten bewaffnet euch. Rudergänger übernehmen.“

Hinter der Katalanya schälte sich die Lysitana aus dem Nebel.

Das erste Schiff des angreifenden Wolfsrudels, eine hellgrau gestrichene Joreale hatte sich von der zerstörten Portalia abgewandt und schwenkte langsam auf das überraschte und aufgrund der Strömung noch fast bewegungsunfähige Schiff zu.

Minutenlang versuchten die angreifenden Schiffe sich in Position für einen Angriff zu bringen und die Schiffe der Ankömmlinge versuchten, die Flucht aus dieser Falle zu schaffen.

Die feindliche Joreale war jetzt auf Schussweite heran, die erste Breitseite jagte über das Wasser. Aber alle Kugeln schienen gegen eine Wand zu prallen. Eine Schiffslänge vor der Lysitana fielen die Geschosse in das aufgewühlte Wasser.

Zum ersten Mal gelang es Nat, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Er drehte sich um und sah sich nach Jargo um.

Der stand auf dem Achterdeck des Schiffes und blickte konzentriert auf das Geschehen, dass sich um die Lysitana herum abspielte.

Seine Hände hielten die Reling so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Schweiß lief über sein angestrengtes Gesicht.

Eine weitere Breitseite wurde auf die Lysitana abgeschossen, wieder fielen die Kugeln wirkungslos ins Meer.

Inzwischen war es den Besatzungen der Lysitana und der Katalanya gelungen, die Schiffe gefechtsbereit zu machen.

Der Wind griff in die vollen Segel und gab den Schiffen die notwendige Geschwindigkeit, um sich den Feinden zuzuwenden.

Bevor die angreifenden Schiffe, die keinerlei Erkennungszeichen oder Schiffsnamen trugen, einen erneuten Angriff starten konnten, schoss die Lysitana eine volle Breitseite auf das längsseits liegende Schiff.

Die Verfolger hatten sich sicher gefühlt, aufgrund des Überraschungsmoments und waren bis auf wenige Längen herangerückt. Das wurde ihnen jetzt zum Verhängnis. Die Geschosse trafen fast ohne Ausnahme ihr Ziel und aus dem gnadenlosen Jäger wurde in Sekunden ein waidwundes, tödlich verletztes Opfer.

Der Kapitän der Lysitana ließ sein Schiff beidrehen und überließ seinen angeschlagenen Gegner seinem unabänderlichen Schicksal.

Mit der Sicherheit des unverletzlichen Schiffes, das von Kanonenkugeln nicht erreicht werden konnte. steuerte es direkt vor die anderen beiden Angreifer, um auch diese unter Feuer zu nehmen.

Der zweite Angreifer feuerte seine Buggeschütze ab. Jargo hob die Hand … und taumelte aufstöhnend zurück.

Weit entfernt, im Thronsaal der Stadt Arkadien umklammerte Rrordrak eine silberne Schale, die mit Blut und Wein gefüllt war und auf deren Oberfläche sich ein schemenhaftes Bild des Gefechts an den Nebelinseln abzeichnete.

Auch sein Gesicht war angestrengt, der Schweiß zog schmierige Spuren über die furchige Haut.

Die Schüsse der Bugkanonen schlugen in die Lysitana ein und sorgten für ein heilloses Durcheinander. Eben noch unverletzbar, schwenkte das Schiff jetzt direkt vor die Längsseiten der beiden anderen Angreifer.

Alle drei Schiffe feuerten fast gleichzeitig ihre Geschütze ab. Die Schüsse der Lysitana trafen teilweise, verursachten aber nur geringen Schaden. Zu erschreckend war die plötzliche Entwicklung des Kampfes.

Auch die Schüsse der Angreifer waren eher hastig und von Furcht bestimmt abgefeuert, aber die pure Masse gab den Ausschlag.

Die Kanonenkugeln schlugen in den Rumpf des Schiffes, eine Kartätsche zerbarst auf dem Achterdeck, die Schrotladungen töteten den Kapitän, den Rudergänger und drei Seesoldaten und zerstörten das Ruder.

Im nächsten Moment schwenkten beide Schiffe ein und zogen an Backbord und Steuerbord an der Lysitana entlang.

Auf allen drei Schiffen waren die verbliebenen Kanonen wieder geladen. Der Geschützführer der Lysitana, ein erfahrener Veteran der Kämpfe auf dem fernen Kontinent und der Alten Welt, brüllte mit lauter Stimme,

„Nicht feuern, wartet auf mein Kommando! Keiner feuert!“

Blut lief ihm über die Stirn, in seinem Handrücken steckte ein langer Holzsplitter.

Durch die Stückpforten sah er die gegnerischen Schiffe vorbeiziehen.

Plötzlich blitzten Mündungsfeuer auf. Rauchwolken bildeten grau-schwarze Wolken zwischen den Schiffen.

An beiden Seiten wurden alle verfügbaren Kanonen gegen die Lysitana abgefeuert … und fielen wirkungslos ins Wasser.

Jargo brach in die Knie, er hielt die Augen fest geschlossen. Unter dem rechten Augenlid sickerte Blut hervor.

Nat war mit wenigen Schritten bei ihm und kniete neben ihm nieder.

Rrordrak blinzelte. Schweiß und Blut liefen über sein Gesicht und tropften in die Silberschale.

„FEUER!!!“

Siebzehn Kanonen an der Steuerbordseite und elf Kanonen an der Backbordseite der Lysitana spuckten Tod und Verderben gegen die vorbeiziehenden Schiffe.

Das angeschlagene Schiff an Backbord wurde in der Mitte aufgerissen wie ein Hafersack, Kanonen, Trümmer und Menschenleiber flogen durch das Geschützdeck. Drei Kugeln durchschlugen den Schiffsrumpf unterhalb der Wasserlinie, das Wasser strömte in das zerschlagene Schiff und füllte in Sekunden die Laderäume und die unteren Decks.

Den Seeleuten der Lysitana blieb keine Zeit, sich über ihren Erfolg zu freuen. Das letzte Schiff der Gegner hatte einige schwere Treffer hinnehmen müssen, aber es war weiterhin manövrierfähig und an Backbord waren die meisten Kanonen noch einsatzfähig.

Doch dem Kapitän dauerte eine Wende über Backbord zu lange. In dieser Zeit konnte vielleicht das Flaggschiff der „Altweltler“ heran sein.

Er brüllte wilde Kommandos und ließ die Geschützmannschaften auf dem beschädigten Deck die Trümmer notdürftig beiseite räumen. Inzwischen drehte er sein Schiff über die Steuerbordseite zur stark beschädigten Lysitana hin.

Hier versuchte man im Chaos die Kanonen neu zu laden, aber die gegnerische Joreale hielt sich achteraus und somit außerhalb des Wirkungsbereichs der Backbordgeschütze.

Als die Angreifer ihr Schiff in Position für einen Angriff gebracht hatten, standen an Steuerbord drei Geschütze zur Verfügung, die das Feuer der Lysitana unbeschadet überstanden hatten und zwei weitere, die man von Backbord herüber gerollt hatte.

Der Geschützführer ließ alle Kanonen mit durchschlagenden Kanonenkugeln laden und auf Punkte unterhalb der Wasserlinie der Lysitana richten.

Sein lauter Ruf erklang, die Kanonen feuerten und vier Kugeln durchschlugen den Rumpf des wehrlosen Schiffes.

Die wenigen Überlebenden an Bord erkannten die hoffnungslose Lage und versuchten auf dem bereits stark krängenden Deck die noch nicht zerstörten Beiboote klar zu machen.

Doch immer wieder feuerte das angreifende Schiff in die Überreste der Lysitana.

Jetzt war die Katalanya heran. Kapitän Nilsson erkannte deutlich, dass es für die Matrosen und Soldaten der Portalia und der Lysitana keine Rettung mehr gab.

Aber Rache würde es geben.

Mit vollen Segeln jagte er auf die Stelle zu, an der der letzte Angreifer die Lysitana in Stücke geschossen hatte und jetzt Jagd auf die überlebenden Seeleute machte.

Gleich würde die Katalanya auf Schussweite heran sein und noch immer schien niemand an Bord des Feindes Notiz vom heranstürmenden Flaggschiff der Altweltler zu nehmen.

Kapitän Nilsson ließ beidrehen um mit der Backbordseite zum gegnerischen Schiff zu liegen. Alles konzentrierte sich auf den Angriff auf das letzte Schiff … und so ging man in die Falle.

Aus dem Nebel an der Steuerbordseite schälte sich eine riesige tiefschwarze Bargalone, am Mast zeigte sich die Piratenflagge mit dem Totenkopf und den gekreuzten Knochen.

Alle Stückpforten waren geöffnet, 30 schwere Kanonen zeigten direkt auf die Katalanya. Auf dem Achterdeck stand ein hünenhafter Mann und hielt ein schwingendes Amulett hoch in die Luft.

Das Überraschungsmoment war gelungen.

Bevor dem Kapitän eine Möglichkeit der Gegenwehr blieb feuerte das unheimliche schwarze Schiff eine volle Breitseite.

Doch einer hatte rechtzeitig reagiert.

Jargo bäumte sich auf, seine Hände zuckten, seine Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen. Und tatsächlich gelang es ihm einen weiteren Abwehrzauber über das Schiff zu spinnen, die Kugeln klatschen ein weiteres Mal nutzlos ins Wasser.

Doch damit schien der Anführer der Piraten gerechnet zu haben, denn jetzt schwenkte die Bargalone ein und lag nach wenigen Momenten längsseits der Katalanya.

Seile flogen, Enterhaken krallten sich in Tauwerk und Holz. Ein Matrose wurde von einem Enterhaken am Rücken getroffen, der Ruck der Entermannschaft trieb ihm den Haken tief in den Leib und nagelte ihn regelrecht an die Reling.

Aus den Wanten und von den Masten schossen die Bogenschützen der Piraten auf das Chaos an Bord des sylthanischen Schiffes.

Neben Nat und Jargo schlug ein Matrose auf, ein Treffer hatte ihn aus den Wanten gerissen.

Überall schrien Sterbende und Verletzte. Die Soldaten versuchten den Widerstand zu organisieren, doch die wenigen ungezielten Pfeilschüsse richteten nur geringen Schaden an.

Das angeschlagene Piratenschiff, auf das die Katalanya es ursprünglich abgesehen hatte, trieb langsam davon. Alle Männer an Bord versuchten, Segel und Taue zu ordnen und Trümmer fort zu räumen, um wieder voll fahr- und kampftüchtig zu sein.

Mit kraftvollen Zügen pullten die Piraten des schwarzen Schiffes das sylthanische Schiff heran, die pure Mordlust stand ihnen in die verzerrten Gesichter geschrieben.

Die ersten übersprangen bereits den Zwischenraum zwischen den Schiffen, wurden aber von den Soldaten abgewehrt.

Einer der Piraten konnte sich im letzten Moment an der Reling festklammern, bevor er in das Wasser zwischen den Schiffen stürzten.

Dann zogen die Piraten mit einem letzten kraftvollen Ruck das Schiff heran und dem an der Reling Hängenden wurde die Beine und der Unterleib zerquetscht. Er hing brüllend zwischen den Schiffen wie ein Käfer, bis der Schwertstreich eines Soldaten seinen Qualen ein Ende bereitete.

Jargo legte Nat die Hand auf die Schulter und drängte den jungen Mann zur Backbordseite.

Nat stützte seinen taumelnden Lehrmeister und führte ihn bis zur gegenüberliegenden Reling.

„Schnell ins Wasser, vielleicht gelingt es uns zu flüchten!“ Mit einem Fuß auf der Reling wollte Nat seinen väterlichen Freund hinter sich herziehen.

„Nein.“ Ganz ruhig schüttelte Jargo den Kopf. „Mein Weg ist hier zu Ende. Für eine Flucht fehlt mir die Kraft. Aber du musst entkommen.“

Er legte die Hände auf Nat`s Kopf und Brust und schloss die Augen um sich zu konzentrieren.

„Das lass ich nicht zu!“ Nat packte mit beiden Händen Jargos Arm. „Wenn Du bleibst, dann bleibe ich auch!“

Ein müdes Lächeln zog über Jargos Gesicht.

„Was willst Du von mir hören? >Ich bin alt und Du bist jung. < oder >Du musst entkommen um mich zu rächen.< Das ist alles wahr, aber es gibt nur einen Grund!“

Er sah Nat tief in die Augen. Aus seinem Augenwinkel rann ein feiner Blutfaden an der Nase entlang bis zum Mundwinkel. Der mörderische Kampf, der um sie tobte schien weit weg zu sein.

„Du bist wichtiger als wir alle, die hier sind. Das hat das Orakel ganz deutlich gemacht. Bei uns geht es um unsere Leben, bei dir um die Zukunft einer Welt. Daher geh!“

Erneut fasste Jargo Nats Kopf und Brust und murmelte einen kurzen Spruch. Die Anstrengung, diesen Zauber zu weben, raubte ihm die letzte Kraft, sein Gesicht schien von einem Augenblick zum nächsten eingefallen und grau.

„Dies war ein Unsichtbarkeitszauber, nutze dies um zu entkommen und sieh nicht zurück!“

Mit einem Stirnrunzeln sah Nat an sich herunter. In diesem Moment schien er sich aufzulösen. Seine Füße, seine Beine, dann seine Arme und sein Oberkörper verblassten und wurden durchscheinend. Nat zuckte zusammen, riss die Hände vor die Augen, doch er sah – nichts.

In diesem Moment verpasste Jargo ihm mit letzter Kraft einen Stoß.

Nats Beine schlugen gegen die Reling, seine Hand griff ins Leere und aufschreiend fiel er ins schäumende Meer.

Neben ihm stürzte gurgelnd ein Matrose ins Wasser. Ein Schwerthieb hatte seinen Hals aufgerissen, das Blut schoss in einer Fontäne heraus und färbte das Wasser.

Nat drehte sich um und brachte mit einigen kraftvollen Schwimmstößen Abstand zwischen sich und die Schiffe.

Dann drehte er sich auf den Rücken und schaute angstvoll hoch zum Deck der „Katalanya“, auf dem die sylthanischen Soldaten und Matrosen ihren letzten Kampf fochten.

Das kleine Kontingent der Soldaten hatte blutige Ernte unter den ungeordnet angreifenden Piraten gehalten, aber die schiere Macht der zahlenmäßig überlegenen blutdurstigen Angreifer hatte den Widerstand zum Erlahmen gebracht.

Auf dem Achterdeck hatte Kapitän Nilsson seine besten Leute um sich geschart und versuchte die Angreifer immer wieder zurück zu drängen.

Dann traf ein Pfeil seinen ersten Offizier und der Moment der Ablenkung genügte, damit die anrückenden Piraten an Steuerbord die Treppe stürmen und das Achterdeck regelrecht überfluten konnten.

Zuletzt standen nur noch der Kapitän, Jargo, zwei Seeleute und ein Soldat mit dem Rücken zur Reling. Jeder blutete aus vielen kleinen und größeren Wunden und sah den weiter auf sie eindringenden Piraten entgegen.

Dann erklang ein lautes Tuten eines Hornes und die Piraten ließen widerstrebend von ihren fast besiegten Gegnern ab.

Überrascht sah Nat hinauf zu den Szenen, die sich dort oben abspielten.

Vom angreifenden Piratenschiff wurde eine kurze Planke zur Katalanya herüber gelegt.

Auf diese trat ein riesenhafter, ganz in schwarz gekleideter Pirat. Mit ruhigen Schritten betrat er das Deck des geenterten Schiffes, ging über das Deck, wobei er mit weit ausholenden Schritten über die vielen Leichen der Sylthaner und der Piraten hinweg stieg und dann über die Treppe hinauf zum Achterdeck. Am Fuß der Treppe lag ein großer Haufen toter oder sterbender Männer.

„So, das sind also die letzten Tapferen, die uns den Sieg so schwer gemacht haben.“

Mit einem mitleidslosen Grinsen zog Blackard einen langen, schartigen und leicht gebogenen Säbel.

„Ich hasse es, wenn meine Feinde tapfer sind.“

Mit drei unglaublich schnellen Streichen streckte er die Soldaten und Matrosen nieder, wobei die Macht seiner Schläge sie fast zerteilte.

„Und ihr seid der Kapitän!?! Na, da wollen wir uns doch was einfallen lassen, was etwas länger dauert.“

Die Umstehenden brachen in raues Gelächter aus.

Kapitän Nilsson schaute dem Piratenkapitän furchtlos ins Gesicht. Seine Kleidung war an vielen Stellen zerrissen und blutig.

„Ich werde euch nicht zu eurem Vergnügen zur Verfügung stehen…!“

Mit einer schnellen Bewegung warf er sein Schwert hoch in die Luft. Als die Blicke der Piraten dem fliegenden Schwert folgten, riss er einen Dolch aus seinem Hosenbund und stieß ihn sich in den Hals.

Röchelnd stürzte er zu Boden, Blut spritzte aus der klaffenden Wunde, dann verklangen die gequälten Atemzüge.

Die Piraten hatten sich instinktiv wieder dem Kapitän zugewandt, so übersahen sie das Schwert, das in einem Bogen herunterfiel und einem der Piraten von oben in den Kopf drang.

Ohne einen Ton stürzte er tot zu Boden.

Blackard brüllte wütend auf, wie ein Irrer hackte er auf den Leichnam des Kapitäns ein und schlug ihn regelrecht in Stücke.

Dann richtete er sich auf, Blutspritzer auf Gesicht, Händen und Kleidung.

„Ich hasse es auch, wenn man mir den Spaß verdirbt.“

Damit wandte er sich Jargo zu, der völlig entkräftet an der Reling lehnte.

„Und du bist der Magier, der uns so viel Ärger bereitet hat. Warum tragt ihr nur immer diese albernen Fummel, da weiß doch jeder gleich welcher Zunft ihr angehört.“

Mit der Spitze seines blutigen Säbels fuhr er über Jargos Umhang.

„Aber da du ein Magier bist, darf ich dir keine Zeit geben, dich wieder zu erholen. Schade, du hättest uns vielleicht mehr Freude bereitet als der Kapitän dieses armseligen Schiffes.“

Er hob den Säbel zu einer weit ausholenden, kreisrunden Bewegung.

„Ich verfluche dich. Du wirst in der siebten Hölle schmoren und jeden Tag die furchtbarsten Qualen erleiden. und alle deine Nachkommen ebenfalls.“

Blackard lachte auf.

„Mit deinen hehren Wünschen kannst du dich in die lange Reihe der Anderen stellen, die mich schon zu allen Leiden dieser und aller anderer Welten verflucht haben.

Das mit den Nachkommen ist allerdings neu, aber vielleicht nicht so schlau. Ich kenne die Blagen nämlich nicht, wer weiß, wen du da gerade zu ewigem Leid verdammt hast.“

Seine Augen blitzten auf, sein Säbel beschrieb eine Kreisbahn … und Jargos Kopf flog in einem hohen Bogen durch die Luft, prallte gegen ein Halteseil der Takelage und fiel dann ins Wasser.

Nat wollte schreien, doch kein Laut entrang sich seiner Kehle.

Blackards Piraten jubelten und tanzten über das Deck der Bargalone.

„SCHLUSS JETZT!!!“ Blackards Stimme hallte wie Donner über das Schiff.

„Ihr habt eine Stunde Zeit, um alles Wertvolle von Bord zu schaffen. Danach jagen wir diesen Seelenverkäufer in die Luft. Und ich will keine Überlebenden. Wenn ihr noch einen findet, wird ihm die Kehle durchgeschnitten und dann hinein in die Laderäume. Sie sollen alle mit ihrem Schiff vergehen.“

„JAWOLL, KÄPT’N BLACKARD“, brüllten die Piraten, dann begannen sie emsig über das Schiff zu eilen und es nach allen wertvollen Gegenständen und Waren zu durchsuchen.

Blackard ging mit ausgreifenden Schritten über das Deck zurück zu seinem Schiff.

Nat spürte eine unfassbare Wut und Trauer, der pure Gedanke nach Rache, heiß brodelnder Haß kochte in ihm.

Er hatte Jargo nur kurze Zeit gekannt, aber diese Tage mit ihm hatten eine tiefe Zuneigung zu diesem ruhigen und erfahrenen Mann entstehen lassen. Jargo hatte Nat mit seiner geduldigen Art und seiner Klugheit so viel für das Leben mitgegeben, wie es sonst nur ein Vater gekonnt hätte.

Ja, eigentlich hatte er Nat die Dinge vermittelt, die sonst ein Vater seinem Sohn mitgibt.

Und dieser wunderbare Mensch war jetzt gnadenlos gemeuchelt worden.

Das schrie nach furchtbarer Rache.

Nat überlegte, ob seine Unsichtbarkeit ihm helfen könnte, auf das Piratenschiff zu gelangen und diesen Kapitän Blackard zu töten.

Aber auf beiden Schiffen herrschte ein unglaubliches Gewimmel. Es bestand kaum eine Chance über das Schiff zu kommen ohne angerempelt zu werden. Und wer wusste, ob der Überraschungseffekt der Unsichtbarkeit dann anhalten würde.

Außerdem wusste Nat nicht, wie lange Jargos Zauber andauern würde. Und er wollte nicht plötzlich triefend nass auf dem Piratendeck stehen und dann für die umstehende Meute sichtbar werden.

Still schwor er Blackard ewige Rache und das er nicht ruhen würde, bis er den riesenhaften Piraten getötet hatte. Dann drehte er sich um und begann mit langsamen unauffälligen Schwimmbewegungen,

Das Wasser war zwar aufgewühlt, überall schwammen Trümmerteile, Leichen und blutige Lachen trieben auf der kabbeligen See.

Aber trotzdem wollte Nat nicht das Risiko eingehen, dass seine gleichmäßigen Bewegungen auffielen und er entdeckt wurde.

Voraus sah er Trümmer des anderen Piratenschiffs, dass die Katalanya versenkt hatte.

Hierauf schwamm er zu, um sich dort ein wenig Deckung zu suchen und vielleicht ein Trümmerteil zu nutzen, damit er sich auf Dauer über Wasser halten könnte.

Da er ein guter Schwimmer war, hatte er nach wenigen Augenblicken ein großes Stück eines Mastes erreicht, dass auf dem Wasser trieb.

Halb über das Maststück lag ein ausgezacktes Stück der Schiffswandung. Vorsichtig hob Nat das Stück an, um es von dem Maststück zu lösen.

An der Unterseite klebten Blut, ein Stofffetzen und andere Teile, von denen Nat nicht wissen wollte, um was es sich dabei handelte.

Schaudernd ließ er das Stück Holz ins Wasser gleiten und zog sich auf das etwa zwei Mannslängen lange Mastteil.

Er konnte die Arme und Beine links und rechts herunterbaumeln lassen, dann gelang es ihm mit vorsichtigen Schwimmbewegungen sein Floß voran zu treiben.

Er passte sich der leichten Strömung an, die die anderen Teile des zerstörten Schiffes über das Wasser führte.

Überall lagen Leichen und Leichenteile.

Jetzt, als der Adrenalinschub langsam nachließ, der Schock des Angriffs abebbte, wurde Nat erst bewusst, was um ihn herum war.

Sein Mageninhalt stieg sauer in der Kehle auf, dann erbrach er sich stoßartig ins Wasser.

Interessanterweise konnte er das Erbrochene in dem Moment sehen, als es seinen Körper verließ.

Immer wieder schüttelte ein Würgen seinen Körper, bis er nur noch Galle auf der Zunge schmeckte.

Er hatte jetzt bereits einen gewissen Abstand zwischen sich und die beiden dahin treibenden Schiffe gebracht.

Diese hoben sich schemenhaft gegen den Hintergrund der silbergrauen Nebelwand ab.

Immer noch herrschte reges Treiben auf beiden Schiffen.

Nat richtete den Blick nach vorne und trieb sein Notgefährt mit ruhigen Bewegungen voran.

Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Etwa hundert Schritt zu seiner Rechten entdeckte er einen Mann, der sich mit dem Oberkörper auf ein Stück Holz gelegt hatte und mit kräftigen Beinschlägen Fahrt machte.

Dann ging alles blitzschnell.

Zwischen Nat und dem Mann erschien für einen Sekundenbruchteil ein giftgrünes Schimmern, eine schmale Flosse, die das Wasser teilte.

Im nächsten Moment schoss ein Ungetüm, so groß wie eine Pferdekutsche, aus dem Meer, sperrte sein riesiges, mit messerscharfen Zähnen bewehrtes Maul auf und riss den schwimmenden Mann mit sich in die Tiefe.

Jetzt entdeckte Nat immer mehr grüne Flossen, die das Wasser teilten und überall, wo Leichen und Leichenteile trieben, schien das Wasser plötzlich zu brodeln.

Dutzende von Meeresungeheuern stürzten sich ausgehungert auf das reichliche Mahl, das ihnen hier geboten wurde.

Auf dem Piratenschiff erklang lautes Johlen. Dank der Ungeheuer konnte man sich jetzt die Arbeit sparen, nach weiteren Überlebenden zu suchen.

Nat zitterte vor Angst. Hoffentlich war er auch für die Sinne der Meeresungeheuer unsichtbar.

Unauffällig versuchte er sich von den Trümmern und den Leichen zu entfernen.Immer wieder sah er grüne Schemen, die unter ihm vorbei zogen.

Einmal streifte etwas seinen Fuß, aber Nat versuchte ruhig und mit sparsamen Bewegungen weiter zu schwimmen.

Eine mächtige Explosion zerriss die Stille, die Katalanya löste sich in einer Wolke aus Holz, Metall und Körperteilen auf.

Sofort erschienen zwei der giftgrünen, schwimmenden Kreaturen an der Oberfläche und stießen klagende Heullaute aus.

Zum ersten Mal sah Nat die Wassermonster deutlicher.

Ihr schlanker stromlinienförmiger Körper endete in einer sichelförmigen, zackenbewehrten Schwanzflosse.

Eine flache Rückenflosse und zwei stark nach hinten gekrümmte Seitenflossen ließen darauf schließen, dass das mächtige Tier unter Wasser mit hoher Geschwindigkeit dahin schießen konnte.

Die tiefschwarzen Augen standen weit außen am Kopf.

Etwa zwei Fuß hinter den Augen begannen die Kiemen, auf jeder Seite sechs breite Hautstreifen, die einen hohen Luftdurchsatz gewährten. Das ermöglichte den kraftvollen Meeresräubern gewiss eine gute Sauerstoffversorgung der starken Muskulatur, die sich stellenweise unter dem giftgrün schimmernden Schuppenkleid abzeichnete.

Besonders auffällig jedoch waren das breite, lang nach hinten gezogene Maul, oben und unten gespickt mit Doppelreihen dolchlanger und scharfer, leicht nach innen geneigter Zähne. Ein Opfer, das von diesen Fängen gepackt worden war, konnte getrost alle Hoffnung fahren lassen. Auch wenn der erste Biss nicht tödlich sein sollte, was eher selten vorkam, so würden diese furchtbaren Waffen das Opfer nicht mehr loslassen.

Auf einmal schoss eines der Ungeheuer nur wenige Schritte von Nat entfernt aus dem Wasser und flog in hohem Bogen über ein Feld treibender Schiffstrümmer hinweg.

Dabei entdeckte Nat, dass die monströsen Ungetüme an der Unterseite des Bauches vier stummelige Auswüchse hatten.

Nat erinnerte sich an Geschichten, die er von den Handelsfahrern seines Onkels gehört hatte.

Tatsächlich handelte es sich hierbei um die evolutionären Überreste von Beinen, die es den Ungeheuern unglaublicherweise ermöglichten ganz kurze Strecken auch auf dem Land zurück zu legen.

Dort waren sie dann natürlich extrem unbeweglich, aber schon so mancher Seemann, der sich auf seinem Schiff sicher gefühlt hatte, war mit der Erkenntnis gestorben, dass die Meeresungeheuer keine Angst vor einem kurzen Aufenthalt auf dem Trockenen hatten.

Das Piratenschiff hatte aber aufgrund seiner Größe und der Tatsache, dass die Ungetüme sich hier satt fressen konnten, nichts zu befürchten.

Immer mehr der furchtbaren Fleischfresser zogen unter und neben Nat entlang, aber keines der Ungeheuer nahm auch nur Notiz von ihm.

So schnell es mit unauffälligen Bewegungen möglich war trieb Nat sein Rettungsfloß voran.

Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er den Bereich verließ, in dem die Trümmer und Leichen durcheinander trieben.

Ein vorsichtiger Blick über die Schulter zeigte ihm, dass das Piratenschiff langsam am Horizont verschwand.

Einige Meeresungeheuer schwammen auf der Suche nach Überresten noch an der Stelle rum, an der die Seeschlacht stattgefunden hatte.

Doch immer wieder sah Nat beim Blick aufs Wasser, dass die giftgrünen Monstren pfeilschnell unter ihm dahin glitten.

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zur sinkenden Sonne.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenschlag.

Von einem Moment auf den anderen war er allein, in einer feindlichen Welt, die er nicht kannte, trieb auf einem schier endlosen Meer, ohne Wasser und Essen und gnadenlose Räuber zogen unter ihm und um ihn herum ihre Bahnen.

Nat ließ seinen Kopf auf das raue Holz des Mastes sinken. Dank eines quer laufenden, kurzen Rest’s der Rah lag sein Floß ziemlich ruhig und sicher im Wasser.

Jetzt forderten die Schrecken, die extreme Anspannung und die Hoffnungslosigkeit ihren Tribut.

Innerhalb weniger Augenblicke sanken Nats scheinbar tonnenschwere Lider nach unten und er war eingeschlafen.

Ein Brummen weckte Nat aus seinem unruhigen Schlaf. Neben seinem Kopf zog ein kleines Trümmerteil vorbei, offensichtlich der Rest eines Fasses.

Und von diesem gekrümmten Stück Holz stieg eine etwa daumennagelgroße Mücke auf, umschwirrte kurz Nats Kopf und ließ sich dann am anderen Ende des Mastes nieder.

Iskandrien - Die ferne Insel

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