Читать книгу Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1 - Carl Wilckens - Страница 5
ОглавлениеKohle und Stahl
Es regnete. Dieser Tage tat es das oft. Rußgeschwärzte Tropfen lösten sich aus der Wolkenschicht. Donnergrollen rollte von einem Ende des Horizonts zum anderen, gefolgt von zuckenden Wetterleuchten. Neben dem Rauschen des Regens und dem fernen Gewitter war das Surren der Förderbrücken zu hören. Unablässig hoben sie Kohle aus den Minen der Stonefort Colliery. Die schwarzen Brocken wurden in Hunte verladen und auf Schienen direkt zu den Hüttenwerken gebracht. Zahllose Schornsteine ragten aus einem Meer von Fabrikgebäuden. Bäume mit schwarzen Rauchwolken als Krone, die in den Himmel emporstiegen, höher und höher, bis sie sich mit der finsteren Wolkenschicht vereinten. Zwischen den geschwärzten Steinwänden dieser Industrielandschaft kämpften dutzende Gasleuchten gegen die Finsternis an. In ihrem flackernden Schein gingen Gestalten. Menschen, die sich im Gleichtakt der Maschinen bewegten.
Frieden lag über diesem Ort wie eine weiche Decke. Der Frieden einer todgeweihten Welt. Einer Welt, die dafür gekämpft hatte, unterzugehen.
Die Stille wurde jäh unterbrochen.
Eine Dampflokomotive nahte. Blockierte Räder schrammten über stählerne Schienen und verwandelten die Energie der bewegten Masse tausender Tonnen Kohle und Stahl in glühende Hitze. Scheinwerfer tauchten in der Ferne auf. Drei Augen, die Dunkelheit und Regen kaum zu durchdringen vermochten. Jeder Wagon war groß wie ein kleines Haus. Die Lokomotive ein gewaltiger stählerner Kessel. Schornsteine spien Unmengen schwarzen Rauchs in den Himmel. Dampfwolken flankierten die Lokomotive.
Das Gefährt fuhr in das Industriegebiet ein, wobei es unzählige Wagons aus der Dunkelheit nachzog. Jeder war bis zum Rand mit Kohle gefüllt bis auf den letzten. Die Lokomotive kam kreischend zum Stehen. Die Schiebetür des hintersten Wagons wurde von Innen geöffnet. Vier bewaffnete Männer mit Atemmasken stiegen in Begleitung eines Gefangenen aus. Zwei gingen voraus, zwei richteten die Spitzen ihrer Bajonette auf den Mann in Ketten. Sie führten ihn zu einem quaderförmigen Gebäude mit unzähligen Fenstern.
Es handelte sich um Blackworth, eine ehemalige Fabrik, die zu einem Gefängnis umfunktioniert worden war. Hier saßen Bergbauer ein, die es gewagt hatten, sich gegen die Dynastie des alteingesessenen Bergmannsadels aufzulehnen. Menschen, die die Frechheit besessen hatten, als solche behandelt werden zu wollen.
Die Gruppe passierte eine der Gasleuchten. Schummriges Licht erhellte das Gesicht des Gefangenen. Ein junges Gesicht mit dreierlei Arten von Narben. Da waren solche, wie man sie nach Kämpfen davonträgt. Das Regenwasser floss von der Stirn durch eine Kerbe in der Augenbraue, folgte dem Verlauf zweier paralleler Schrammen und gelangte durch eine weitere Kerbe in seiner Unterlippe zum Kinn.
Die zweite Art Narbe war nicht unmittelbar sichtbar. Sie kam zum Vorschein, wenn nichts die Vergangenheit zurückdrängte. Dann wurden die Augen des Gefangenen dunkel, der Blick müde. Es waren Schrammen auf seiner Erinnerung.
Die letzte und tiefste Narbe war unsichtbar. Man konnte sie nur erahnen, wenn man das Gesicht des Gefangenen als Ganzes betrachtete. Den Ausdruck der Leere, den gesenkten Blick und die Schatten in seinen Augen. Die tiefste Narbe schloss seine Haltung, ja sein ganzes Wesen ein. Er ließ die Schultern hängen und den Gang schlurfen. Und hätte er gesprochen, hätte der Rost auf seinen Stimmbändern jedes Wort zerkratzt.
Das Haar des Gefangenen war kurz geschoren, kürzer noch als sein stoppeliger Bart. Er war mager. Athletisch, ja, aber ohne ein einziges Gramm Fett. Deutlich zeichnete sich die Muskulatur seines Nackens, seiner Arme, seines ganzen Körpers unter seiner straff gespannten Haut ab. Hunger war einer seiner ältesten Freunde. Angst sein meist verachteter Feind. Er war ein Mörder, gewissenlos, wenn es sein musste. Ein Überlebenskünstler, der nie zögerte. Eine ruhelose Seele am Ende ihrer Suche.
Sein Name war Godric End.
Leiser Gesang schwebte im Zellenblock 13. Die Worte, gesungen in einer fremden Sprache, tauchten hinaus in die Fluten des rauschenden Regens und der surrenden Förderbänder. Dann und wann wurden sie vom fernen Donner überrollt. Die an trockenen Tagen ruß- und staubgeschwängerte Luft zog kühl und verhältnismäßig klar durch die vergitterten Fensteröffnungen. Die meisten Insassen schliefen oder lauschten stillschweigend dem Gesang, als die Tür des Zellenblocks geöffnet und Godric End hereingeführt wurde.
Der Gesang verstummte.
Die Wärter führten End bis zur letzten Zelle auf der rechten Seite des Blocks. Viele Insassen hoben den Blick, als er vorbeigeführt wurde. Keiner erkannte den Gefangenen. End wurde grob in die Zelle und die Tür hinter ihm ins Schloss geworfen. Die Wärter verließen den Zellenblock. Einige Sekunden lang färbte nur das Rauschen des Regens und das Surren der Förderbänder die Stille.
„Hallo, Genosse“, sagte schließlich der Mann in der Zelle gegenüber. Es war derselbe, der zuvor gesungen hatte. „Du siehst nicht aus wie ein Mann unseres Schlags. Woher kommst du?“
End schwieg. Er hatte sich auf dem Boden der Zelle niedergelassen und starrte mit leerem Blick auf seine Füße.
„Wieso haben sie dich eingelocht?“, bohrte der Sänger nach. „Hierher stecken sie eigentlich nur politische Häftlinge. Du hingegen siehst eher aus wie ein Landstreicher. Ein Tunichtgut. Ein Dieb. Oder Schlimmeres.“
End schwieg.
Der Sänger trat bis vor die Tür seiner Zelle und kniff die Augen zusammen. „In der Tat siehst du sehr gefährlich aus. Du scheinst mir ein übler Bursche zu sein. Vielleicht bist du der Einzige unter uns, der es verdient hat, hier einzusitzen.“
End schwieg.
„Sag mal, kann es sein, dass …“
„Kannst du ihn nicht einfach in Ruhe lassen?“, kam es rau aus einer anderen Zellen.
„Schon gut, schon gut“, meinte der Sänger. „Ich dachte nur, er ist vielleicht … aber nein, das ist unmöglich.“ Der Sänger kniff die Augen noch enger zusammen, als könne er so die Dunkelheit mit seinen Blicken durchbohren. „Du bist nicht etwa Godric End?“
Aus einer der anderen Zellen drang ein Schnauben. „Hör auf zu schwatzen. End? Es heißt, er sei in Rust und führe das Volk gegen den Schwarzen Baron.“
„Nein“, wiedersprach der Sänger kopfschüttelnd. „Es heißt, er sei auf dem Weg nach Rust, um unsereins anzuführen.“
„Wer weiß schon, wo End ist“, sagte jemand anders. „Ich habe gehört, er sitzt in dieser Nervenheilanstalt in Treedsgow.“
„Nein, er ist vor langer Zeit gestorben, als die Swimming Island Black Ravens versenkt wurde.“
„Unmöglich! Kennt ihr nicht die Geschichten? Sein Wille ist stärker als der Tod.“
„Geschichten, Junge …“
„Es stimmt! Er hat einen Schuss ins Herz überlebt. Eine Maschine in seiner Brust fördert nun das Blut durch seine Adern. Sein Herz ist so kalt wie das Eisen, aus dem es gemacht ist, sagt man.“
Spöttisches Gelächter hallte durch den Zellenblock.
„Sei nicht albern, Junge. Glaubst du etwa auch die Geschichten über die Flying Island?“
„Flying Island?“, mischte sich jemand weiteres ins Gespräch.
„Angeblich hat End das Schiff Ravens rekonstruiert. Als Luftschiff.“
„Er wird uns alle hier rausholen“, sagte der Junge mit hoffnungsschwangerer Stimme.
„Ist er wirklich der edle Held, für den du ihn hältst? Er hat einst an der Seite Black Ravens gekämpft. Es heißt, er habe seine eigene Schwester ermordet …“
„Nicht seine Schwester. Die Tochter des Schwarzen Barons.“
„Er ist nicht edel“, sagte der Junge. „Ich sagte doch, sein Herz ist kalt wie Eisen. Sein Wille ist stärker als der Tod. Er zögert nie. Er gibt nie auf. Er hat einen Bären mit bloßen Händen getötet. Er wird der Perlkönig genannt. Er kämpft erbarmungslos. Aber er kämpft auf unserer Seite.“
„Hör auf, Reden zu schwingen, Junge. Wir alle wünschten, es wäre so, aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Der Schwarze Baron hat gewonnen. Die Königin wird sich niemals gegen den Bergmannsadel durchsetzen können. Dazu fehlen ihr die Eier.“ Der Insasse lachte freudlos.
„Warum fragen wir End nicht einfach selbst?“, mischte sich der Sänger ein in einem letzten Versuch, den Neuankömmling zum Reden zu bringen. Die Diskussion verebbte. Die jäh eingekehrte Stille richtete ihren fragenden Blick auf End.
Aber End schwieg.
Der Sänger seufzte. „Dann eben nicht“, knurrte er und zog sich in den hinteren Bereich seiner Zelle zurück. Er zog einen Schuh aus, holte eine plattgedrückte Tüte Tabak und eine Schachtel mit Zündhölzern daraus hervor und drehte sich eine Zigarette. Als er ein Zündholz über die Sohle seines Schuhs zog, und die Flamme erwachte, hob End den Kopf.
Ein interessierter Ausdruck trat in seine bislang leeren Augen.
„Kann ich eine haben?“, fragte er mit rostiger Stimme.
Der Sänger hob die Brauen. „Aber klar. Wenn du mir deinen Namen verrätst.“
End erhob sich. Die schweren Ketten seiner Hand- und Fußfesseln klirrten, als er sich auf die Zellentür zubewegte. Der Sänger drehte eine zweite Zigarette, trat vor die eigene Zellentür und hielt sie hoch. Das Papier, in die sie eingewickelt war, war so schmutzig, dass es fast schwarz war.
„Und?“
End schwieg.
„Schade.“ Der Sänger führte seine eigene Zigarette zum Mund, zog daran und blies den Rauch auf den Gang des Zellenblocks. End schloss die Augen und sog den Geruch ein. Die Muskeln unter seiner straffen Haut spannten sich. Kurz schien es, als würde er die Ketten mit der bloßen Kraft seiner Arme auseinandersprengen.
Er öffnete die Augen.
Ein Funkeln lag in seinem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass ihm das Leben des Sängers in diesem Augenblick weniger wert war als die Zigarette. Obwohl zwei Zellentüren die beiden Männer voneinander trennten, machte der selbstgefällige Ausdruck im Gesicht des Sängers Beunruhigung Platz. Er wich zurück.
„Ich meine ja nur“, sagte er schnell. „Dieser Aufstand ist so gut wie verloren. Unser aller Hoffnung ruht auf End. Mag sein, dass du nicht er bist. Aber es ist nicht zu viel verlangt, mir deinen Namen zu verraten, oder? Schließlich verlangst du eine meiner letzten Zigaretten.“
End musterte den Sänger einige Sekunden lang kühl, und der Mann wand sich sichtlich unter seinem Blick.
„Gib mir die Zigarette“, sagte er schließlich. „Dann geb ich dir meinen Namen.“
Der Sänger zögerte.
„Erst den Namen“, sagte er kleinlaut.
End schwieg und umfasste die rostigen Gitterstäbe seiner Zellentür mit beiden Händen. Der Sänger versuchte, einige Zeit lang seinem Blick standzuhalten und kapitulierte zuletzt mit einem ergebenen Seufzer. Er entfachte ein zweites Zündholz, steckte die Zigarette an und warf sie vor Ends Tür. End hob sie auf, führte die Zigarette zum Mund und zog daran.
Es war guuut.
Der beißende Tabakrauch füllte seinen Rachen. Er inhalierte ihn tief und genoss in vollen Zügen, wie der Ruß seine Lunge peinigte. Er behielt den Rauch einige Sekunden lang in sich und atmete ihn dann sehr langsam durch Mund und Nase wieder aus. Als könnte er sein Glück nicht fassen, betrachtete er den glühenden Stängel. Dann zog er sich in den hinteren Teil der Zelle zurück. Er ließ sich zu Boden sinken und nahm einen weiteren Zug.
„Und?“, fragte der Sänger.
End schwieg.
„Ich hätte es wissen müssen“, sagte der Sänger voller Bitterkeit. „Du bist nicht End. Du bist bloß ein Tunichtgut. Ein Dieb. Oder Schlimmeres. Was sollte ich anderes von dir erwarten, als dass du meine Bezahlung nimmst und mich leer ausgehen lässt? Deswegen sitzt du ja schließlich ein. Deswegen oder wegen Schlimmerem.“
End antwortete nicht. In aller Ruhe rauchte er seine Zigarette auf. Der Sänger zog sich ebenfalls zurück und ließ sich auf seine Matratze sinken. Er drehte sich auf die Seite und kehrte somit der Zellentür den Rücken zu.
Und wieder waren Rauschen und Surren das Einzige, das man vernehmen konnte.
Schließlich wandte End das Gesicht dem Sänger zu und stieß den Rauch seines letzten Zuges aus.
„Ich bin er“, sagte er.
Der Sänger hob überrascht den Blick. „Wer?“
„End. Ich bin Godric End.“
Ein Raunen ging durch den Gang des Zellenblocks. Der Junge schnappte vernehmlich nach Luft.
„Er lügt“, sagte jemand.
„Nein“, flüsterte der Sänger und erhob sich langsam von der Matratze. Den Blick behielt er unverwandt auf End gerichtet, als fürchtete er, er könne sich in Luft auflösen. „Er ist es. Er ist es wirklich.“
„Unsinn. End ist tot.“
„Er ist hier“, sagte der Junge. Seine Worte überschlugen sich fast vor Aufregung. „Er wird uns hier rausholen.“
„Wieso bist du hier?“, flüsterte der Sänger. „Du solltest in Rust sein.“
„Nein“, sagte End. Es war nur ein Wort, aber es hätte nicht mehr Bitterkeit darin liegen können. „Ich sollte hier sein. Wo immer das Schicksal mich haben möchte.“
„Was ist passiert?“
„Verrat.“ Ends Stimme war dunkel. „Das Leben hat mich eine weitere Lektion gelehrt. Ich glaube bloß nicht, dass ich lange genug leben werde, um davon zu profitieren.“
„Verrat? Wer? Sag mir, wer es ist, und ich werde ihn mit den eigenen Händen erwürgen.“
„Ruhig Blut, Junge. Solange du hier einsitzt, erwürgst du niemanden.“
„Wer hat dich verraten, Genosse?“, fragte jetzt auch der Sänger mit gefährlich ruhiger Stimme. „Ich bitte dich, erzähl mir deine Geschichte.“
„Geschichte?“, wiederholte End spöttisch. „Ich glaube nicht an Geschichten. Ebenso, wie ich nicht an den Mond glaube.“
„Er ist verrückt. Ein Spinner, der sich für End hält. Hab ich nicht gleich gesagt, dass er es nicht ist? End ist tot.“
„Was meinst du damit, du glaubst nicht an den Mond? Wir können ihn sehen, wenn sich an windigen Tagen die Rußwolken verziehen. Wie kann man nicht an den Mond glauben?“
„Wir sehen ein silbernes Licht“, sagte End. „Aber ist es ein greifbares Objekt? Oder scheint es bloß durch ein Loch im Universum?“
„Völlig verrückt …“
„Erzähl mir deine Geschichte, Genosse“, bat der Sänger noch einmal. „Ich verlange nicht, dass du an die Vergangenheit glaubst. Ich möchte nur die Wahrheit erfahren.“
In diesem Moment erhellte blauweißes Wetterleuchten den Himmel. Es raste über die Unterseite der Wolken bis zum Horizont, wo es gegen eine unsichtbare Barriere zu stoßen schien und zurückkehrte. Das bislang lauteste Donnergrollen füllte den Zellenblock 13 und die Ohren all seiner Insassen.
„Die Wahrheit ist, dass ich nie die Interessen des Arbeiters geteilt habe.“ Ends Stimme knüpfte klar vernehmlich an das Grollen des Donners an. „Ich habe immer nur meine eigenen Interessen verfolgt. Dieser Aufstand hätte niemals zu einem Bürgerkrieg werden müssen. Ich wollte es so. Ich wollte nie Gerechtigkeit. Ich wollte Zerstörung.“
Es folgte betretenes, ja, schockiertes Schweigen. Dann setzte leises Murmeln ein, das allmählich zu einem wütenden Summen anschwoll.
„Warum?“, fragte der Sänger mit heiserer Stimme.
In diesem Moment wurde die Tür zum Zellenblock geöffnet, und die Insassen verstummten recht plötzlich. Zwei Männer betraten den Gang. Schlieren schmutzig schwarzen Regens verunzierten ihre Haut. Beide trugen einen Mundschutz. Einer von ihnen schob einen riesigen Kessel auf Rädern vor sich her, der andere einen Wagen, auf dem sich Holzschalen stapelten. Daran befestigt war eine Leuchte, die mattes warmes Licht in den Zellengang goss. Wortlos passierten die Männer die Zellen und füllten die Holzschalen mit der grauen Masse, die in dem Kessel dampfte. Die Insassen warteten schweigend.
Reglos.
Die Männer hielten kurz inne und warfen einander besorgte Blicke zu. Sie spürten die Anspannung, die in der Luft lag. Niemand hatte sie darüber informiert, dass Godric End in diesem Zellenblock einsaß. Was also, fragten sie sich, war der Grund für das angespannte Schweigen? Führten die Gefangenen etwas im Schilde?
Schneller setzten sie ihre Arbeit fort. Bei Ends Zelle angelangt, füllten sie eine der Holzschalen und stellten sie in Griffweite vor die Tür. Einer der Männer hob den Blick und sah End geradewegs in die Augen. Augen, die das Licht der Leuchte zu reflektieren schienen. Der Mann zuckte zusammen. Die Reflektion in Ends Augen verlosch. Hastig wendeten die Männer Kessel und Wagen und verließen den Zellenblock.
„Warum?“, wiederholte der Sänger die Frage, kaum dass die Tür hinter den Männern ins Schloss gefallen war.
Wieder ließ End sich Zeit mit der Antwort. Er stand auf, zog die Schale herein und kehrte an seinen angestammten Platz zurück. „Kein Besteck?“
„Lass den Unsinn, End“, knurrte jemand mit bedrohlich dunkler Stimme. „Du schuldest uns eine Erklärung.“
„Ich schulde niemandem irgendwas“, sagte End mit kalter Stimme. „Auf diese Weise kommst du bei mir nicht weit, Mann.“ Er tauchte zwei Finger in den Brei und steckte sie sich in den Mund. Andere Insassen folgten seinem Beispiel. Schweigend lauschten sie dem Rauschen und Surren und dem gelegentlichen Donnergrollen, während sie aßen.
„Wirst du uns erklären, was du vorhin gemeint hast?“, fragte der Sänger vorsichtig, sobald End sein karges Mahl beendet und die Schale beiseite gestellt hatte.
End schwieg.
„Ich könnte dir noch eine Zigarette anbieten“, schlug der Sänger vor. End hob den Blick. Der Sänger wickelte etwas Tabak in eines der schmutzigen Papiere ein, hielt den Stängel hoch und hob fragend die Brauen. End nickte knapp. Der Sänger entzündete die Zigarette und warf sie wie schon zuvor vor Ends Zellentür. Wieder rauchte End sie in aller Ruhe auf, ehe er ein weiteres Wort sprach.
„Es war nie mein Ziel, mich für den Arbeiter einzusetzen.“ Leises Flüstern hob an, während die Insassen die Worte an jene weitergaben, die außer Hörweite waren. „Ich habe immer nur die Industrialisierung aufhalten wollen. Ich wollte einen Krieg, der Zerstörung mit sich bringt, keine Aufstände, die Gerechtigkeit fordern.“
„Aber warum?“, fragte der Sänger und hob in fassungsloser Geste die Hände.
„Weil diese Welt untergeht.“ Es wurde sehr still im Zellenblock. „Seht aus dem Fenster. Der Himmel ist schwarz. Die Bäume sterben. Die Vögel fallen tot aus der Luft.“
„Folgen der Umweltverschmutzung“, meinte ein Zelleninsasse. „Das bedeutet aber nicht, dass unsere Welt untergeht.“
„Es gibt noch andere Anzeichen. Welche, die keine logische Erklärung haben.“ Die Insassen warteten schweigend. Aber End ließ die Worte allein im Raum stehen.
„Er meint die Spiegel“, flüsterte der Junge.
„Dieses Phänomen ist schon vor Jahren aufgetreten, Junge“, meinte einer der Insassen. „Es hat nichts mit der Industrialisierung zu tun.“
„Der Junge hat Recht“, wiedersprach End. „Das Verschwinden der Spiegelbilder war vermutlich das erste Anzeichen. Das erste von dreizehn. Es trat lange vor der Industrialisierung auf, weil diese nicht die Ursache des Untergangs ist. Vielleicht wird uns die Umweltverschmutzung eines Tages die Existenz in dieser Welt unmöglich machen. Aber vermutlich ist die Förderung der Kohle bloß ein Schritt von vielen in Richtung eines viel größeren Übels. Der Untergang der Welt bedeutet nicht unbedingt die Zerstörung unseres Universums. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, was es bedeutet.“
„So ein Bockmist! Bloß weil die Spiegel plötzlich nicht mehr funktionieren?“
„Die Spiegel sind bloß ein Zeichen von dreizehn. Wie ich schon sagte. Genau wie die Sternenbilder, die verlöschen.“
„Es verlöschen Sternenbilder?“, fragte der Sänger.
End nickte und sah mit verschwommenem Blick aus dem Fenster. „Elf Wächter sind verloschen.“
„Aber … was macht dich so sicher, dass diese Zeichen den Untergang der Welt bedeuten? Erzähl mir deine Geschichte, Godric End, ich bitte dich.“
End seufzte schwer. „Meine Geschichte ist nicht von Belang. Mit mir ist es bald vorbei. Der Schwarze Baron kommt persönlich hierher, um mich zu richten.“
„Der Schwarze Baron hat Rust verlassen und ist auf dem Weg nach Stonefort?“
„Wenn er mit dem Zug fährt, wird er in einem Viertel hier sein.“
„Nein“, sagte End. „Er wird aufgehalten werden. Seine Reise wird sich um vier Tage verzögern.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es.“
„Dreizehn Tage“, murmelte der Sänger und prüfte seinen Tabakvorrat. „Eine Zigarette pro Tag. Sollte reichen. Dafür erzählst du deine Geschichte. Was sagst du?“
End blickte den Sänger nachdenklich an. „Worte sind Wind. Wieso würde jemand etwas so kostbares wie Zigaretten gegen Wind eintauschen?“
„Was kümmert es dich? Bekommst du nicht, was du willst?“ Der Sänger rollte die nächste Zigarette und hielt sie hoch. End musterte sie kurz.
„Einverstanden. Aber wisset: Ihr werdet mir nicht glauben. Ihr werdet spöttisch lachen wollen, den Kopf schütteln und mich einen Narren schimpfen wollen. Lasst es! Denkt euch euren Teil, aber behaltet eure Gedanken für euch. Anderenfalls fahre ich nicht fort, ehe ich nicht eine weitere Zigarette bekommen habe.“
Der Sänger warf die Streichholzschachtel in Ends Zelle. „Ich werde sie nicht mehr brauchen. Lass sie nur die Wärter nicht sehen.“ Die Zigarette folgte. End zündete sie an und wieder rauchte er sie in aller Ruhe auf, ehe er ein weiteres Wort sprach.
„Bevor ich den Aufseher der South Harrow Colliery erschlug, dutzende Arbeiter meinem Beispiel folgten und die Revolte der Arbeiter zu einem Bürgerkrieg wurde“, begann er, „bevor das Militär in eine demonstrierende Menge schoss und die Aufstände eskalierten, ja, bevor ich nach Treedsgow kam und dort ein schreckliches Geheimnis lüftete, bevor die Swimming Island des berüchtigten Captain Black Ravens sank, war ich bloß der Sohn eines sehr reichen Mannes aus dem Bergmannsadel …“